Der 19. September 2023, noch 369 Tage bis zur Landtagswahl in Brandenburg. Der "Staatsfeind Nr. 1" sitzt ruhig im Foyer des Stadtschlosses in Potsdam – die erste Adresse der Demokratie im Nachbarland von Berlin, weiß sind Wände und Fußboden, knallrot die Sitzmöbel.

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Früher stand an diesem Ort der Sommersitz preußischer Könige, nun tagt im Nachbau dieses Schlosses das Landesparlament. Jeden Dienstag beraten die Fraktionen und berichten dann im Presseraum E.060R darüber, gleich neben dem Foyer.Zuerst sind zwei Oppositionsparteien dran: die Linken und BVB-Freie Wähler. Dann folgen die Fraktionen der Regierung. In Brandenburg führte die SPD seit dem Ende der DDR alle Regierungen an. Im Jahr 2019 allerdings hätte die AfD fast die Wahl gewonnen, und so war erstmals seit 25 Jahren eine Drei-Parteien-Regierung nötig. Die Fraktionen dieser "Kenia-Koalition" aus SPD, CDU, Grünen berichten nacheinander in Raum E.060R. Zum Schluss die AfD, die größte Oppositionspartei. Politik im 20-Minuten-Takt.

Gleich ist es 13 Uhr, gleich ist die AfD dran – und damit der Staatsfeind Nr. 1: Hans-Christoph Berndt, der Fraktionschef. Der Landesverband ist als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft, Berndt selbst und sein Verein gelten bereits als erwiesen rechtsextrem.

Der 67-Jährige sitzt im weißen Foyer auf einem der roten Hocker. Leicht nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien, Kopf gesenkt. Wie ein Boxer vor dem Kampf, wie im Tunnel. Er holt Luft und geht in den Raum E.060R. Der Raum ist der Schauplatz dieser Geschichte: eine Langzeitbeobachtung der politischen Außenseiter, der erfolgreichsten neuen Partei seit den Grünen, der größten Gefahr für die Demokratie. Ein Jahr lang jeden Monat zur AfD.

Es geht nicht um einen Faktencheck, nicht um die Ideologie oder darum, wie fremdenfeindlich die AfD wirklich ist. Es geht um ihre Erzählmuster, darum, wie sie im politischen Alltag agiert, wie sie tickt und warum sie erfolgreich ist. Die AfD führt seit 14 Monaten die Umfragen an.

Im Raum E.060R spricht die AfD an diesem Tag zuerst über Wölfe. Der Abgeordnete Lars Hünich weiß, dass das ein Reizthema mit klaren Fronten ist. Die Grünen gelten als naive Wolfsschützer, die AfD aber fordert den Abschuss der Raubtiere. Hünichs Kernaussage: Im kleinen Brandenburg gibt es mehr Wölfe als im großen Schweden, doch niemand handelt. Nun aber will die EU doch Härte zeigen. Hünich nennt als vermeintlichen Grund dafür, dass ein Wolf das Lieblingspony von Ursula von der Leyen gerissen habe. Die Botschaft: Nur wir kennen die wahren Sorgen der Leute, die Eliten reagieren erst, wenn sie persönlich betroffen sind.

Nun sagt Hans-Christoph Berndt, der sich selbst Christoph nennt: "Wir kommen vom Problemwolf zur Problemregierung." Er geht einen Journalisten wegen eines Artikels an. Er wettert gegen Dietmar Woidke, den Ministerpräsidenten, und dessen SPD. Es geht um den Ukrainekrieg, die Energiekrise, ein Milliarden-Hilfspaket der Regierung. Es zeigt sich ein Muster. Er stellt nicht eigene Pläne vor, sondern greift andere an: Parteien oder auch Journalisten im Raum, die ihn ja oft kritisieren. Er sieht sich nicht nur in einem Duell mit dem Regierungschef, auch in einem mit den Medien.

Zum Schluss greift er die CDU an, eigentlich der einzige potenzielle Koalitionspartner irgendwann. Die CDU fordert plötzlich Grenzkontrollen zu Polen. Berndt sagt: Die übernehmen nur unsere Forderungen. "So viel zur Glaubwürdigkeit der CDU." Klassische Fundamentalopposition.

Umfragen: AfD 32 Prozent, SPD 20 Prozent

17. Oktober, noch 341 Tage bis zur Wahl. Die Wahl in Bayern ist eine Woche her. Dort kam die AfD auf fast 15 Prozent. Die konservativen bis rechtsradikalen Kräfte von CSU über Freie Wähler bis AfD bekamen 67 Prozent. Im Potsdamer Presseraum E.060R spricht sich der Abgeordnete Volker Nothing gegen die Frühsexualisierung an Schulen aus und gegen "Kuschelecken und Körpererkundungsräume" in Kitas. Christoph Berndt kritisiert Bundesinnenministerin Nancy Faeser, weil sie an den Grenzen nur Stichprobenkontrollen plant. Er will knallharte, lückenlose Kontrollen. Migration sei das Wahlkampfthema Nr. 1, das habe Bayern gezeigt.

Er wolle nicht nur illegale Einwanderung bekämpfen, er wolle eine "Migration null". Sofort kommt die Frage: "Also ein Stacheldrahtzaun?" Er sagt: "Wenn es gar nicht anders geht." Es folgen Fragen zu Schüssen an der ungarisch-serbischen Grenze: "Wenn ich Grenzen habe, muss ich die Grenzen schützen. Virtuelle Grenzen helfen nichts", sagt er. "Wenn wir unseren Sozialstaat schützen wollen, müssen wir unsere Grenzen schützen." Deshalb benötigten Grenztruppen auch Schusswaffen zur Verteidigung. "Es wird ja nicht besser in der Welt. Es wird immer nur schlimmer."

Das Parlament – im nachgebauten Hohenzollernschloss im Herzen von Potsdam 
Das Parlament – im nachgebauten Hohenzollernschloss im Herzen von Potsdam  © Anne Schönharting/Ostkreuz

Da ist er wieder, der drohende Weltuntergang. Berndt sagt auch Sätze wie diesen: "SPD, CDU, Grüne, Linke und FDP haben Deutschland zur Hölle gemacht." In der Front der apokalyptischen Reiter galoppiert die AfD rechts außen, als Gegenpol zu den Klimaklebern auf der anderen Seite. Die erklären sich zur Letzten Generation und fordern das Ende des Kapitalismus. Die AfD sieht sich als letzte Chance der Demokratie auf friedliche Veränderung. Ohne sie drohe das Chaos. Die AfD ist eine Partei, bei der die Sonne nie scheint; sie geht immer nur unter, und mit ihr das Abendland.

Als Gerhard Schröder 1998 die Kanzlerschaft für die SPD holte, sagte er: "Wir wollen nicht alles anders machen, aber vieles besser." Die AfD ist weniger bescheiden. Ihr Tenor: Die anderen machen alles falsch. Alles. Der Umkehrschluss: Sie selbst würden alles anders machen.

Umfragen: AfD 32 Prozent, SPD 20 Prozent

28. November, noch 299 Tage. Die AfD-Leute sprechen über "Verrohung und sprachliche Gewalt im Parlament", sie meinen den Umgang mit ihrer Partei. Sie reden über "Zerfallserscheinungen der Koalition", prangern die Vergabepraxis für lukrative Posten an und stellen ihre Verfassungsklage gegen ein Hilfspaket der Regierung vor.

Wieder geht es vor allem um Fehler der anderen. Das Finden von Fehlern ist nicht so schwer, gerade bei der zerstrittenen Ampel. Hinzu kommt, dass die anderen bestimmte Probleme lieber beschweigen, statt besprechen. Stattdessen streiten sie gern über Themen, die nicht mehrheitsfähig sind: Wärmepumpen, E-Autos, die Energiewende, das Gendern, Waffenlieferungen. Viel seltener wird geredet über Wölfe, Corona-Versäumnisse, die Folgen der Migration für die Staatskasse, innere Sicherheit oder Verhandlungen im Ukrainekrieg.

Dass die AfD mit ihrem negativen Weltbild in düsteren Zeiten so erfolgreich ist, liegt nicht am Programm, sondern daran, dass die Regierung viele Themenfelder unbeackert lässt. Das öffnet große Lücken für die Opposition. Die braucht gar kein ausgefeiltes Programm, es reicht die Fehleranalyse. Die Lücke ist groß, so groß, dass Sahra Wagenknecht einen Monat zuvor bei den Linken ausgestiegen ist, um sich mit ihrer neuen Partei einen Claim zu sichern.

Umfragen: AfD 27 Prozent, SPD 20 Prozent

12. Dezember, noch 285 Tage. Heute geht es um Pisa, den Lehrermangel, die Schulmisere – und die Schuldfrage. Der Abgeordnete Dennis Hohloch, ein ehemaliger Geschichtslehrer, sagt: "Deutschland ist schon seit langem keine Bildungsnation mehr." Er beklagt die schlechten Pisa-Ergebnisse und die Schulschließungen in der Corona-Zeit. Er sagt, die Inklusion funktioniere nicht, weil es zu wenige Lehrer gibt. Er beklagt "linke Dauerexperimente" und fordert Dinge, die viele unterschreiben würden: Handys raus aus Grundschulen, die Digitalisierung wie in Schweden stoppen, die Handschrift wieder fördern, ebenso die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben.

Dann kommt er zur Frage, wer denn schuld an den schlechten Pisa-Ergebnissen sei, und sagt: "Zehn Prozent Ausländerkinder. Es ist eine ganz klare Ursache dafür, dass der Leistungsabfall im Bildungssystem so hoch ist, weil genau diese Schüler am schlechtesten abschneiden." Er fordert eine Migrationsobergrenze. Er verschweigt, dass die Pisa-Ergebnisse ähnlich schlecht waren, als der Anteil solcher Kinder in Brandenburg noch viel kleiner war.

Umfragen: AfD 27 Prozent, SPD 20 Prozent

23. Januar, noch 243 Tage. Eine ungewöhnliche Pressekonferenz. Normalerweise erklärt Christoph Berndt die großen Zusammenhänge, die Bundespolitik und spricht oft länger als andere, die nur über Brandenburg reden. Doch zwei Wochen zuvor ist ein Bericht des Medienunternehmens Correctiv erschienen über ein Treffen am Lehnitzsee mit Unternehmern, Rechtsextremisten, Leuten von CDU, AfD und Werteunion. Von einem Geheimtreffen ist die Rede, von einem "Masterplan zur Remigration". Die Gegner fürchten die Deportation aller Menschen, die aus dem Ausland stammen. Die AfD behauptet, das Wort Deportation sei nie gefallen, es gehe um die Ausweisung jener, die unerlaubt hier leben. Der "Kampf gegen rechts" treibt nun die Leute auf die Straße, am Wochenende sind es eine Million Menschen gewesen.

Im Raum E.060R bleibt das Thema fast unerwähnt. In der Vorwoche flogen hier die Fetzen, nun redet die AfD nur über Alltagspolitik: Mobilitätsgesetz, Extremismusparagraf im Schulgesetz, Bauernproteste. Zu den Bauerndemos sagt Berndt: "Die sind schnell zu einer Revolte des Mittelstandes geworden mit der zentralen Forderung: die Ampel loswerden." Viel mehr sagt er nicht. Von ihm stammt der Satz: "Remigration ist kein Geheimplan, das ist ein Versprechen." Dennis Hohloch nennt die Berichte über die Konferenz eine Hetzkampagne.

Umfragen: AfD 28 Prozent, SPD 17 Prozent

20. Februar, noch 215 Tage. In welcher Reihenfolge die Parteien im Raum E.060R reden, ist Zufall. Und der sorgt für vielsagende Situationen. Die AfD folgt auf die Grünen – es sind die jeweiligen Hassgegner. Eigentlich herrscht im Hohen Haus eine grundlegende Kollegialität; die meisten grüßen sich, manchmal herzlich, manchmal kühl. Zur AfD wird Abstand gehalten. In der Kantine sitzen schon mal Linke und CDUler an einem Tisch; die AfD sitzt im Block separat.

Nach der Pressekonferenz: Je nachdem, welche Partei dran ist, werden auf der Videowand im ...
Nach der Pressekonferenz: Je nachdem, welche Partei dran ist, werden auf der Videowand im Hintergrund die Parteilogos gezeigt. © Anne Schönharting/Ostkreuz

Im Raum E.060R ist das System der Distanzierung perfektioniert worden. Die Grünen-Politiker sitzen auf dem Podest, hinter ihnen eine grüne Videowand aus 15 Bildschirmen. Die Grünen stehen auf und gehen, aber nicht durch die nächste Tür gleich neben dem Podium, sondern durch die hintere Tür, denn vor der vorderen steht die AfD. Begegnung ausgeschlossen, niemand muss "Guten Tag" sagen, kein Augenkontakt, kein Nicken. Die grußtechnischen Brandmauern stehen von beiden Seiten.

Die AfD-Politiker gehen vorne rein und steigen aufs Podium. Auf der grünen Videowand leuchten noch Sonnenblumen. Manchmal wenden die Abgeordneten den Blick ab, manchmal warten sie, bis die Wand auf Blau springt.

Umfragen: AfD 28 Prozent, SPD 17 Prozent

5. März, noch 201 Tage. Anfangs geht es um ein neues Gesetz: Beamte sollen auf ihre Verfassungstreue gecheckt werden. Die AfD nennt das "DDR 2.0", auch Gewerkschaften sind dagegen. Die Abgeordnete Lena Korté vergleicht das Gesetz mit dem Radikalenerlass der alten Bundesrepublik gegen Linksextremisten. Dann geht es um den Pressesprecher Tim Krause, der beim Treffen am Lehnitzsee dabei war. Christoph Berndt sagt: "Ich halte fest: Herr Krause ist kein Nazi."

Es folgt eine absurde Situation. Krause soll sich als Pressesprecher geweigert haben, mit bestimmten Medien zu sprechen. Er sagt: "Wenn Sie sich wirklich angefeindet fühlen sollten, bietet Ihnen die Pressestelle der AfD-Fraktion gleich im Anschluss eine bis zu zehnsekündige freundschaftliche Umarmung an, auf Anfrage auch mit einem freundlichen Kopfwuschler." Irritiertes Schweigen.

Dann geht es wieder hoch her. Die JA, die Jugendorganisation, gilt nun als rechtsextremistisch. Die Meinung der AfD: Der Verfassungsschutz sei eine "Neo-Stasi" und müsse abgeschafft werden, weil die Regierung ihn instrumentalisiere, um sich vor der Opposition zu schützen. Berndt sagt: "Es sind politisch motivierte Zuschreibungen, die nichts mit der Realität zu tun haben". Er schaut zu den Journalisten: "Niemand von Ihnen wird bestreiten, dass die Demokratie durch das Auftreten der AfD enorm gewonnen hat." Lautes Hüsteln.

Umfragen: AfD 28 Prozent, SPD 17 Prozent

23. April, noch 152 Tage. Die Machtfrage ist nun geklärt. Jahrelang dominierte Andreas Kalbitz den Landesverband, der Mann hinter Björn Höcke im rechtsextremen "Flügel". Doch die AfD warf ihn raus – der Vorwurf: Beim Parteieintritt verschwieg er seine Mitgliedschaft in einer verbotenen Neonazigruppe. Kalbitz wollte sich zurückklagen, so lange sollte Birgit Bessin als Statthalterin fungieren. Die sollte heute hier sprechen, ist aber krank. Auch sonst hat sie den Machtkampf verloren: Spitzenkandidat ist Christoph Berndt.

Philip Zeschmann ist da, ein Abgeordneter, der eine lange politische Wanderung hinter sich hat: Unterbezirksvorsitzender der Jusos, Ortschef der SPD, Abgeordneter im Kreistag, dann Parteiaustritt. Für die Freien Wähler kam er 2019 in den Landtag, 2023 wechselte er zur AfD-Fraktion. Nun sitzt er dort vorn, wirbt für einen "Rettungsschirm für unsere Kleinstunternehmen" und erinnert an seine Forderungen von 2020. Damals war er noch nicht bei der AfD. Egal. Es ist der einzige Wechsel in dieser Legislatur.

Umfragen: AfD 26 Prozent, SPD 22 Prozent

28. Mai, noch 117 Tage. Mit Schwung betritt Christoph Berndt den Raum. Es gibt Journalisten, die demonstrativ gehen. Die AfD thematisiert eine Massenschlägerei an einer Schule in Schmellwitz. Der Vorwurf: Das RBB-Fernsehen hat berichtet, aber die Täter verschwiegen – Ausländer. Dann geht es darum, dass die AfD bereits dreimal in Schulen aus Runden für alle Parteien ausgeladen wurde. Berndt sagt: "Ich selber hatte das Vergnügen oder die Ehre, in Luckau ausgeladen zu werden." Das habe System, die AfD werde von Schulen ferngehalten.

Es ist eine schwierige Debatte. Ist es fair, die größte Oppositionspartei auszuladen, weil sie ein extremistischer Verdachtsfall ist? Allerdings funktioniert die Abgrenzung von beiden Seiten. Die AfD profiliert sich nicht nur gezielt als Gegner, sondern auch als Opfer der Altparteien, des Establishments, der Eliten. Sie sucht die Rolle des Provokateurs, des Außenseiters. Das wird durch die Ausgrenzung der anderen noch verstärkt – Selbstbild und Fremdbild ähneln sich. Ausgrenzung gehört zum politischen Geschäft. Das war so bei den Grünen, den Linken, der NPD, den Piraten; das ist so beim BSW.

Die Einordnung der AfD fällt unterschiedlich aus. Manche bezeichnen sie schlicht als Nazis oder als Extremisten. Die AfD-Politiker regen sich darüber auf, obwohl sie durchaus "böse" sein wollen, nur eben nicht extremistisch, sonst droht ein Verbot.

Umfragen: AfD 25 Prozent, SPD 19 Prozent

2. Juli, noch 82 Tage. Christoph Berndt trägt ausnahmsweise ein dunkles Hemd. Er kommt vom Bundesparteitag in Essen und ist sichtlich euphorisiert. Er wird zum BSW befragt, einer künftigen Konkurrenz. "Das BSW ist – wie soll ich sagen – eine Erfindung, die dazu dient, den Zustrom zur AfD aufzuhalten." Es sei die jüngste Altpartei, ein Sammelbecken für all jene, die den "Kanal voll haben" von der Ampel, die aber "innerlich noch nicht so mutig sind, AfD zu wählen".

Im Osten dominiert die AfD die Umfragen, das Bündnis Sahra Wagenknecht zieht nach. Das Schlagwort Populismus ist allgegenwärtig. Der Vorwurf geht meist an die Opposition, die keine Verantwortung trägt, die alles fordern kann und nichts beweisen muss. Doch Wahlkämpfe sorgen überall für Populismus: Nach dem tödlichen islamistischen Messerangriff Ende Mai in Mannheim überbieten sich alle Parteien mit unrealistischen Ideen, manche wollen Messer in der Öffentlichkeit verbieten.

Gewöhnlich hat es die Opposition schwerer, Aufmerksamkeit zu generieren. Sie hat immer dann eine Chance, populär und erfolgreich zu sein, wenn die anderen Parteien einige Probleme des Wahlvolkes ausklammern. Wenn der Frust wächst, werden auch Parteien gewählt, die kaum Machtoptionen haben.

Umfragen: AfD 25 Prozent, SPD 19 Prozent

16. Juli, noch 68 Tage. Sechs Stunden vor der Pressekonferenz hat die Bundesinnenministerin das Magazin Compact als rechtsextremistische Vereinigung verboten. Christoph Berndt ist empört, nennt es einen schwarzen Tag für die Pressefreiheit und die Demokratie. Er erinnert an die friedliche Revolution in der DDR und nennt das Verbot eine "unglaubliche Bedrohung". Er erinnert an Lenin: "Wir bewegen uns auf eine revolutionäre Situation zu."

Eigentlich ist Berndt ein ruhiger Mann. Nach der Pressekonferenz witzelt er, dass er nicht allzu groß gewachsen sei und erzählt über seinen Werdegang: "Auch ich bin ein alter Linker, aber ich habe mich fortentwickelt." Er hat einen Lebenslauf, der viele irritiert. Geboren 1956 in Bernau bei Berlin, ein Jahr lang studierte er katholische Theologie, lernte Mechaniker bei Narva, musste zur Armee, studierte Zahnmedizin, machte eine Facharztausbildung für Labormedizin und promovierte. Dann war er an der Charité zehn Jahre Personalratschef. Bis er "weggemobbt" wurde, wie er es nennt, aus politischen Gründen.

Als Katholik hatte er in der DDR einen oppositionellen Hang. Er sagt aber auch: "Wenn die SED nicht so atheistisch gewesen wäre, vielleicht wäre ich hingegangen." Er sei Fan von Willy Brandt gewesen, habe nach dem Mauerfall aber PDS gewählt. Er agierte in linken Gewerkschaftskreisen, dann zog er 2008 in den Spreewald. Als im Nachbardorf mit 300 Einwohnern eine Unterkunft für 100 Asylbewerber geplant wurde, organisierte er den Protest und gründete den Verein Zukunft Heimat. Zu der Zeit hatte er ein einziges Mal CDU gewählt. "Wegen des Protestes wurden wir sofort als Nazis gebrandmarkt." Deshalb sei er aus der Charité geflogen, deshalb sei er arbeitslos gewesen. Zwei Jahre lang habe er gezögert, dann sei er zur AfD gegangen, weil alle anderen seinen Verein ausgegrenzt hätten. So erzählt er es.

Der Chef: Hans-Christoph Berndt führt die Fraktion ganz klar an, die Anhänger seines Vorgängers ...
Der Chef: Hans-Christoph Berndt führt die Fraktion ganz klar an, die Anhänger seines Vorgängers Andreas Kalbitz sind in den Hintergrund gerückt. © Anne Schönharting/Ostkreuz

Auf die Frage: "Wie würden Sie sich selbst einstufen?", sagt er: "Als Romantiker mit Verantwortungsbewusstsein." Vielleicht besser als Nationalromantiker? "Ich zitiere einen Satz aus der Romantik: Völker sind die Gedanken Gottes."

So sieht sich der Mann, der rechtsextreme Zeitschriften unterstützt und mit Neonazis auftritt. Er findet es falsch, dass andere ihn als Extremisten einstufen. Das sei doch nur politisch motiviert. "Eigentlich sind wir superdemokratisch." Er sei unzufrieden mit der Politik, also gehe er in eine Partei und stelle sich den Wählern. "Das ist Demokratie."

Oft werden solche Politiker als Populisten abgetan, als Scharlatane, als Rattenfänger, die andere wider besseres Wissen hinters Licht führen und mit Lügen auf Stimmenfang gehen. Das Modell greift zu kurz: Berndt ist ein doppelt approbierter Arzt, und er ist nicht naiv. Menschen wie er glauben, was sie sagen, egal, wie andere es finden. Sie sind keine Spieler. Sie meinen es ernst. Deshalb gehen sie auch nicht so bald wieder weg.

Umfragen: AfD 24 Prozent, SPD 19 Prozent

27. August, noch 26 Tage. Wie immer überträgt der Landtag alle Pressekonferenzen ins Netz, Einschaltquoten unbekannt. Die AfD hat meist einen eigenen Kameramann dabei und schneidet aus dem Material kurze Botschaften für YouTube & Co. Auch ein Grund dafür, warum die Partei bei der Jugend ganz vorn steht. Bundesweit kommt sie auf 2,7 Millionen Fans auf den wichtigsten Kanälen im Internet. Bei SPD und CDU sind es 2,35 Millionen – wohlgemerkt zusammen.

Heute ist in Potsdam auch ein YouTuber dabei, ein erklärter AfD-Fan und Schlager-Rocker mit politischer Botschaft. Der Mann nennt sich Björn Banane, steht immer wieder wegen Beleidigung vor Gericht und singt Lieder wie "Mein Herz schlägt blau". Er filmt alles und sendet direkt ins Netz, 2000 Leute sind live dabei. Solch ein Mitschnitt bringt später 20.000 Klicks. Die anderen Fraktionen haben keine Fan-Boys.

Umfragen: AfD 24 Prozent, SPD 20 Prozent

10. September, noch 12 Tage. Deutschland verändert sich. In Thüringen hat die AfD die Wahl am 1. September klar gewonnen, in Sachsen lag sie knapp hinter der CDU. Der Jahrmarkt des Populismus wird nun von allen bedient. Nach dem terroristischen Messerangriff eines Islamisten in Solingen fordert nicht nur CDU-Chef Friedrich Merz eine harte Linie.

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In Potsdam sitzt Christoph Berndt ganz allein auf dem Podium in Raum E.060R, er wettert gegen CDU und SPD, die einander in der Migrationsdebatte überbieten. "Alles alte AfD-Forderungen." Er wettert gegen die Woidke-Regierung. Es fallen Worte wie "untragbar und unerträglich" oder "abartig, lächerlich, nicht ernst zu nehmen". Er lästert über den Werbeslogan der SPD – "Wenn Glatze, dann Woidke" – und überlegt laut, ob die Konkurrenz bald "Wenn Baseballschläger, dann Woidke" titeln werde. Er spricht vom "Corona-Terror" der Regierung, den die anderen nicht aufarbeiten wollen. Es ist wie immer. Weltuntergang.

Der "Staatsfeind Nr. 1" will unbedingt Platz 1. "Dann ist Woidke weg", sagt Berndt. Wenn die AfD gewinnt, werde er allen Parteien Gespräche anbieten, auch den verhassten Grünen. Und wenn es mit dem Regieren nicht klappt? "Dann machen wir weiter." Die nächste Wahl ist im Jahr 2029. Er glaubt, dass die neue Anti-AfD-Regierung keine ganze Legislatur halten wird.

20. September. Noch zwei Tage. Die Brandenburg-Wahl wird zum Krimi. Woidke setzt alles auf die persönliche Karte: ich oder die AfD. Nur wenn er auf Platz 1 landet, will er weitermachen. Er ist der bekannteste Politiker des Landes, er ist beliebt, er holt auf – trotz Kanzler Scholz und der SPD. Zu Beginn der Langzeitbeobachtung war das Duell sehr ungleich: AfD 32 Prozent, SPD 20 Prozent. Zwei Tage vor der Wahl beträgt der Unterschied ein Prozent. Das Rennen ist wieder offen.  © Berliner Zeitung

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