Schade eigentlich, dass Angela Merkel nicht raucht. Schon seit gut 30 Jahren nicht mehr, und schon gar nicht öffentlich: Ein spöttischer Kommentar 1991 in der FAZ über "Kohls Jüngste" mit Glimmstängel, das war’s.
Andernfalls wäre jetzt die Gelegenheit für die Neuauflage eines legendären Formats: "Auf eine Zigarette mit …" Die Altkanzlerin, dieses Jahr 70 geworden, hat schon drei Jahre nach dem Ende ihrer Amtszeit jene Art von Kultstatus erreicht, den ihr Vorvorgänger – und Kettenraucher – Helmut Schmidt (SPD) erst sehr viel später erlangte: Welterklärerin, Sinndeuterin, Geschichte(n)-Erzählerin.
In Köln, wo Merkel in der Flora den 700-Seiten-Wälzer "Freiheit" mit ihren Lebenserinnerungen vorstellt, ist offenkundig, wie sehr ihr Publikum danach verlangt. "Wenn sie diese Haltung weiter pflegt, wird sie bald zur großen, weisen Alten vom Berge werden", prophezeit Autor
Kölns schönster Saal mit seinen 850 Plätzen war laut der lit.Cologne als Veranstalterin nach sieben Minuten ausverkauft. Die Glücklichen, die eine Karte ergattert haben, sind nun fest entschlossen, Merkel den roten Flokatiteppich auszurollen. "Ich bin froh, dass uns die Bundeskanzlerin a.D. die Ehre gibt", sagt Merkels Verlegerin Kerstin Gleba in ihrer Begrüßung unter warmem Applaus.
Für den Kölner Buchverlag "Kiepenheuer & Witsch" (KiWi) ist "Freiheit" ein Coup. Die Geschichte macht die Runde, dass KiWi von Merkel den Zuschlag bekommen habe, weil zu den Vertragsgesprächen Frauen am Tisch gesessen hätten, keine grauen Herren aus der Verlagsbranche. 550.000 verkaufte Exemplare in drei Wochen machen den Titel – natürlich – zum Bestseller des Jahres. Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich und der Schweiz führt er die Ranglisten an. Von gefeierten Auftritten ihrer Autorin in London, Paris, Amsterdam, Mailand, Barcelona und Washington weiß Gleba zu berichten. Nach Stralsund in Merkels Heimatwahlkreis ist Köln als Verlagssitz der überhaupt erste Ort für eine Lesung in Deutschland – und der letzte im alten Jahr.
Der Run auf das Buch ist so gewaltig, dass es im Handel zeitweilig nicht erhältlich war. "Der Titel, nach dem im Vorweihnachtsgeschäft am meisten gefragt wird", sagt Christiane Blut von der Buchhandlung Blücherstraße in Nippes. Inzwischen sei er wieder lieferbar, versichern die Verlagsleute.
Merkels Büchertisch in der Flora dicht umlagert
Auch in der Flora ist der Büchertisch dicht umlagert. 1000 Stück hat die Thalia-Buchhandlung vorsichtshalber mitgebracht, von der Autorin vorsigniert und mit einem entsprechenden Silberbutton versehen. Die Abgabe ist limitiert: zwei Stück pro Interessent. Mehr soll’s nicht geben. Erst einmal.
Merkels Auftritt im typischen Outfit – dunkelblauer Blazer, schwarze Hose – wird von starkem Beifall begleitet, noch ehe sie ein Wort gesagt hat. Sie bleibt am rechten Bühnenrand stehen, lächelt in den Saal und setzt zu einem Winken an. Doch dann ist es, als besänne sie sich – "halt, nein, du bist nicht beim CDU-Parteitag". Schnell lässt sie den Arm sinken.
Moderatorin
Zum Ende des Abends hin wird sie noch – stellvertretend für eine ganze Generation – den Wert ihres Aufwachsens in der DDR betonen. Es sei "empörend", dass eine – ihre – DDR-Biografie nach der Wiedervereinigung im Westen als bloßer Ballast abgetan worden sei. Die Sicht auf das Leben der Menschen in Ostdeutschland habe dort zu nachhaltigen Verletzungen geführt.
Im Dialog entlang des Grats zwischen Ehrerbietung und Untertänigkeit bewahren Böttingers Professionalität und das ihr eigene rheinische Mundwerk sie davor, über die Kante zu kippen. Und dazu Merkels Wille, alle Überhöhungen konsequent zu unterlaufen. Als Böttinger die Begeisterung des Londoner Publikums bei Merkels Auftritt in der Royal Festival Hall mit den Worten kommentiert, mehr Applaus hätten just an diesem Ort auch Jimi Hendrix und David Bowie nicht eingeheimst, entgegnet Merkel: "Das können wir beide nicht wissen. Ich war nicht bei Jimi Hendrix, Sie waren nicht bei mir."
Merkel äußert sich im Gespräch mit Böttinger nicht zur aktuellen Politik
So geht es die ganzen anderthalb Stunden, in denen Merkel teils aus ihrem Buch vorliest, teils mit Böttinger parliert beziehungsweise – mit ihren Worten – "ein bisschen redet". Zur aktuellen Politik – es ist immerhin der Tag, an dem Merkels Nachfolger im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt und verloren hat – kein Wort von Merkel. Der Name Olaf Scholz fällt ebenso wenig wie der von Friedrich Merz, der sie als CDU-Vorsitzender und jetzt auch als Unionskanzlerkandidat beerbt hat.
Auf das vermutete Interesse an ihrer Sicht auf die Vorgänge in Berlin geht Merkel nur indirekt ein, indem sie aus ihrem Buch die Passagen liest, die von
Genau das ist der Grund, warum Merkels Buch so gut funktioniert. Es sei ja, bemerkt Frank Schätzing, keineswegs ausgemacht gewesen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt ein Erfolg werden würde. "Die Deutschen hätten auch sagen können: Wir hatten sie 16 Jahre als Kanzlerin, jetzt brauchen wir nicht auch noch ihre Memoiren als Altkanzlerin. Aber sie bedient dann doch unsere Sehnsüchte nach vermeintlich besseren Zeiten."
Und sie erlaubt ihren Leserinnen und Lesern einen Abgleich eigener Eindrücke aus 30 Jahren deutscher Geschichte mit Beschreibungen aus erster Hand: Wie hat Merkel als Akteurin jene Geschehnisse selbst erlebt, die alle anderen mit-erlebt haben? Den Abend der Bundestagswahl 2005 zum Beispiel, als Schröder in der TV-Elefantenrunde hemdsärmelig den Sieg für sich reklamierte und gegen Merkel auskeilte.
Bei ihr liest sich das so: "Ich dachte: Wahnsinn! Was ist denn hier los? Ich konnte nicht einschätzen, wohin die Sache laufen würde, es hätte mich aber sehr gewundert, wenn es gut war, was er gerade abzog… Ansonsten sagte ich mir: Warte ab, was weiter passiert. Reg dich bloß nicht auf, sprich nur, wenn du angesprochen wirst, guck, wohin das führt… Immer wieder sagte ich mir: Begib dich nicht mit den anderen in den Clinch, dann fängst du auch noch an, dich im Ton zu vergreifen. Mir war vollkommen klar, dass ich etwas Besonderes erlebte, aber alles lief eher unbewusst ab. Ich bezweifelte sehr, ob Gerhard Schröder einem Mann gegenüber genauso aufgetreten wäre."
In Rezensionen ihres Buchs gilt Merkels Sicht auf die jüngere Vergangenheit und auf heiß umkämpfte Themen wie die Flüchtlingspolitik oder das Verhältnis zu Putins Russland durchgehend als zu wenig selbstkritisch – oder anders: als zu rechthaberisch.
Die Kölner Lesung ist nicht dazu angetan, diesen Eindruck zu mindern. Aber immerhin weiß Merkel für sich einzunehmen. Zum Beispiel mit einer Reminiszenz, die unmittelbar mit Köln zu tun hat. Sie liest die Passage, wie sie am Abend des 4. September 2015 nach einer CDU-Veranstaltung in der Flora und einem Telefonat mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann eilends darüber bestimmen musste, ob die Grenzen für Flüchtlinge auf ihrem Fußmarsch aus Richtung Ungarn geöffnet bleiben sollten. "Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Wenn Europa es nicht zulassen wollte, dass es Tote auf der Autobahn geben würde, musste etwas geschehen." Die Atmosphäre im Saal lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Zuhörer hinter Merkels Votum für Humanität stehen – auch heute noch.
"Unsere Fehler", sagt Merkel mit Blick auf Kritik auch aus den eigenen Reihen, "lagen nicht an der ungarisch-österreichischen oder der deutschen Grenze". Falsch sei es vielmehr gewesen, die internationalen Programme zur Bewältigung von Flucht und Migration nicht früher und entschlossener unterstützt zu haben. An den Binnengrenzen seien die Probleme jedenfalls nicht lösbar.
Merkel spricht in Köln über Wladimir Putin
Und
Norbert Walter-Borjans, Co-Vorsitzender der SPD von 2019 bis 2021, findet die Erwartung einer Selbst-Abrechnung Merkels überzogen. "Ich werde hier glatt noch zu ihrem Verteidiger", sagt er nach dem Ende des Abends in der Flora. "Nach 16 Jahren Einsatz für das Land kann sie doch jetzt nicht herumreisen und sagen, was alles falsch war."
Walter-Borjans ist zu Merkels Lesung gekommen, obwohl er vor anderen Gästen "den kleinen Vorsprung hatte, zwei Jahre lang jede Woche eine Stunde mit ihr zu telefonieren". Aus dieser Zeit in der großen Koalition habe er "enormen Respekt" mitgenommen: für Merkels partnerschaftlichen Stil, für ihren trockenen Humor und ihren "Anstand" – eine in der Politik "verlorengegangene Größe". Für viele Probleme in Merkels Regierungszeit habe es "keine Blaupause" gegeben – und auch im Nachhinein sei es vielfach "spekulativ, ob Entscheidungen richtig waren oder falsch". Das sage er trotz aller inhaltlichen Kontroversen, die seine Partei und er mit Merkel hatten.
Ihren Auftritt nennt Walter-Borjans stimmig: "So habe ich es erwartet, und so habe ich es bekommen." Frank Schätzing kommt zu einem ähnlichen Schluss. "Sie war so verlässlich sympathisch, sachlich - und uneinsichtig, wie ich es mir vorgestellt hatte."
Ganz am Schluss des Abends hat Merkel den titelgebenden Begriff ihres Buches noch um eine persönliche Dimension ergänzt: Seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft habe sie neue Freiheiten gewonnen. Zum Beispiel über ihren Terminkalender. Spricht’s, steht auf und geht. Beifallswoge und Standing Ovation muss sie nicht mehr – wie früher auf Parteitagen – abwarten, nach Intensität und Dauer bemessen. Ein kurzes Winken für ihre Zuhörerinnen und Zuhörer gibt es aber noch. Diesmal wirkt es sehr entschlossen. © Kölner Stadt-Anzeiger
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