Abkehr von der Urne: Der durch die Pandemie ausgelöste Schub hält an. Mehr als ein Drittel der Hessen hat bei der Landtagswahl zu Hause seinen Stimmzettel ausgefüllt. Die Parteien stellen sich mit ihren Kampagnen darauf ein.

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Von der Möglichkeit der Briefwahl profitieren in Hessen CDU, SPD und Grüne. Für die AfD gilt das Gegenteil. So steht es in einer Studie der Gießener Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève. Bei der Bundestagswahl im Jahr 2021 gaben 18 Prozent der hessischen Briefwähler den Grünen ihre Stimme, aber nur 14,6 Prozent der Urnengänger. Der Anteil der Briefwähler lag also um 3,4 Punkte höher. Bei CDU und SPD war die Differenz etwas geringer. Der gegenläufige Trend war bei der AfD zu beobachten: Im Wahllokal bekam sie 12,2 Prozent der Stimmen, per Brief aber nur 6,3 Prozent. In abgeschwächter Form galt diese Tendenz auch für Linke und FDP.

Dasselbe Muster zeigte sich bei der Landtagswahl im Oktober des vergangenen Jahres. Allerdings verzeichnete diesmal die CDU die bei Weitem meisten Briefwähler. Das Gegenteil gilt abermals für die AfD. Als Erklärung dafür nennt de Nève den geringeren Bildungsgrad der Wähler.

Dass der Anteil der per Brief abgegebenen Stimmen bei der Bundestagswahl mehr als die Hälfte betrug, wird allgemein auf die Corona-Pandemie zurückgeführt. Aber der Trend hielt danach an: Zwei Jahre später lag der Anteil der Briefwähler bei der hessischen Landtagswahl noch bei 36,9 Prozent. 2018 hatte er nur bei 24,4 Prozent gelegen.

Briefwahl hat auch "Gefährdungspotentiale"

Die Pandemie gab der Briefwahl mehr Auftrieb als der Gesetzgeber. Dass man bei der Bundestagswahl 2009 zum ersten Mal ohne Begründung die Briefwahl beantragen konnte, wirkte sich kaum aus. Inzwischen kann man sich den Wahlschein in vielen Städten und Gemeinden Hessens auch mit einem Onlineantrag schicken lassen – allerdings nicht flächendeckend, wie de Nève anmerkt.

In der von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Untersuchung erinnert die Wissenschaftlerin daran, dass das Bundesverfassungsgericht die geltenden bundesrechtlichen Regelungen zur Briefwahl zwar als verfassungskonform ansehe, da sie dem Ziel dienten, eine umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen. Aber die Karlsruher Richter hätten auch festgestellt, dass die Briefwahl die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, der geheimen Stimmabgabe und der Öffentlichkeit einschränke.

Als Gefahr wird der Umstand gesehen, dass sich kaum kontrollieren lässt, ob die Wahlberechtigten ihre Stimmzettel tatsächlich selbst ausfüllen und ob sie dabei unbeobachtet und unbeeinflusst sind. Daneben hat die Forschung "Gefährdungspotentiale" ausgemacht: Die Stimmzettel könnten bei Versand durch die Post verloren gehen.

Die beiliegenden Anweisungen für das Ausfüllen und Verpacken der Unterlagen werden als schwer verständlich und grafisch unzureichend kritisiert. Zahlreiche Wahlbriefe gehen verspätet ein, sodass sie zurückgewiesen werden müssen. Dazu kommt es auch, wenn die Unterschrift auf dem Stimmzettel fehlt oder die Umschläge nicht verschlossen sind.

Bis zu vier Prozent nicht gewerteter Stimmabgaben

Die Forschung hat ermittelt, dass der Anteil aller nicht gewerteten Briefwahlstimmen bei bis zu vier Prozent und damit deutlich über dem Anteil ungültiger persönlich abgegebener Stimmen liege. Auch bei der Bearbeitung der Briefwahlunterlagen passieren Fehler. Dass sie häufiger vorkommen, wenn mehrere Abstimmungen an einem Tag stattfinden, gilt allerdings auch im Wahllokal.

Die Gefahr der Wahlmanipulation hält de Nève für "äußerst gering". Es gebe keine Belege für massiven Betrug. Dass Rechtspopulisten diese Befürchtung nicht nur in Deutschland reproduzierten, sei Teil einer Strategie. "Damit soll das Vertrauen der Bürger in demokratische Prozesse unterminiert und ausgehöhlt werden."

In der gesellschaftspolitischen Debatte werden nach de Nèves Wahrnehmung vor allem die mit der Briefwahl verbundenen Chancen diskutiert. Die Flexibilität entspreche offenkundig dem Zeitgeist. Die Inklusion sozialer Gruppen werde gefördert, die Wahlbeteiligung positiv beeinflusst. Männer und Frauen nutzten das Angebot gleichermaßen, Ältere stärker als Junge.

Personen mit höheren Bildungsabschlüssen sowie Beamte und Selbständige sind unter den Briefwählern überrepräsentiert. Die Stammwähler unter ihnen sind für die Kampagnen der Parteien keine entscheidende Größe. Sie legen sich frühzeitig fest. Der genaue Verlauf des Wahlkampfs spielt für sie keine Rolle.

"Individualisierung und Privatisierung" statt "Vergemeinschaftung"

Ganz anders aber verhält es sich mit den Unentschiedenen. Die Zeit der Briefwahl beginnt schon deutlich vor dem Tag des Urnengangs. Nicht nur dieser eine, konkrete Zeitpunkt ist ausschlaggebend, sondern die lange Phase davor. "Ein nicht unerheblicher Teil" der Briefwähler habe in einer Umfrage angegeben, am Wahltag eine von der Briefwahl abweichende Entscheidung gefällt zu haben, referiert de Nève.

Für die Parteien ist das eine Herausforderung. Einerseits legt sich ein relativ großer Teil der Bürger schon Wochen vor dem allgemeinen Urnengang in der Briefwahl fest. Andererseits entscheiden sich viele Wähler erst kurz vorher, manche erst im Wahllokal. Die Wähler geben ihre Stimme in unterschiedlichen Konstellationen ab. Die Wahlkämpfer versuchen, darauf mit einer entsprechend ausgefeilten, zeitlichen Dramaturgie zu reagieren.

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Mit der Briefwahl lege der Staat die Einhaltung der Regeln vertrauensvoll in die Hände der Bürger, meint de Nève. Sie konstatiert "eine emanzipatorische, selbstbestimmte Note", die zum "Trend der Individualisierung und Privatisierung" passe. Die Politikwissenschaftlerin stellt aber auch die Frage, wie viel Abwesenheit der Bürger die Demokratie vertrage und in welchen Räumen sich die "Vergemeinschaftung" wiederherstellen lasse.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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