Gibt es Hoffnung? Ja, es gibt immer Hoffnung. Als der Kölner Schriftsteller Navid Kermani in seiner Friedenspreisrede vor zehn Jahren dieses Bekenntnis formulierte, machte er es fest an Pater Jacques Mourad.

Mehr News aus Nordrhein-Westfalen finden Sie hier

Der katholische Ordensmann war im Mai 2015 von IS-Terroristen aus dem Kloster Mar Elian, einem Zentrum des Miteinanders von Christen und Muslimen in Syrien, entführt und fünf Monate gefangen gehalten worden.

Fünf Tage vor Kermanis Rede gelang Mourad und weiteren Geiseln die Flucht. "Pater Jacques Mourad ist frei", verkündete Kermani einer gerührten Zuhörerschaft in der Frankfurter Paulskirche. Frei dank muslimischer Helfer, von denen jeder einzelne sein Leben für einen christlichen Priester riskiert habe. "Die Liebe hat über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus gewirkt."

Bericht über die aktuelle Lage in Syrien

Zehn Jahre später ist Pater Jacques Erzbischof von Homs. Auf Einladung der Deutschen Bischofskonferenz ist der 56-Jährige zu Besuch in Deutschland, um über die aktuelle Lage in seinem Land und der Region zu berichten, die zuletzt alles andere als Anlass zur Hoffnung gab – nach Massakern an der Bevölkerungsgruppe der Alawiten.

In Köln trifft Mourad auch Navid Kermani – ein für beide spürbar bewegender Moment. Obwohl sie einander nach Kermanis Besuch in Mourads Kloster Mar Elian nahe der Ortschaft Qaryatein (Bezirk Homs) im Jahr 2012 nicht gesehen haben, wirken sie wie alte Vertraute. Die ersten persönlichen Worte wechseln sie ganz leise, auf Arabisch.

Die Begegnung findet auf Initiative des "Kölner Stadt-Anzeiger" und mit Vermittlung der Bischofskonferenz im Generalvikariat des Erzbistums Köln statt. Es sei "ein Wunder", sagt Kermani, dass Mourad heute, im Jahr 2025, Erzbischof ist – in einem Land, das nicht nur das Mörderregime des IS hinter sich gelassen, sondern auch die Assad-Diktatur überwunden hat. Mourad sei zusammen mit seinem Ordensoberen Paolo dall’Oglio einer von wenigen Vertretern der syrischen Kirche, die schon immer den verbrecherischen Charakter des Assad-Regimes angeprangert hätten und "teilweise auch gegen die eigenen Gemeinden" bei der Wahrheit geblieben seien. "Ich kann aber heute nicht sagen, ich bin glücklich", fügt Kermani hinzu – denn er müsse auch daran denken, dass der 2013 vom IS entführte dall’Oglio nach wie vor spurlos verschwunden ist.

Jacques Mourad: "Die Welt hat uns nicht vergessen"

Mourad erinnert sofort an die Friedenspreisrede von 2015 in Frankfurt. Es sei für ihn eine große Tröstung gewesen, zu erfahren, wie Kermani damals vor so vielen Menschen über ihn, die Klostergemeinschaft, seine Pfarrgemeinde in Qaryatein und das friedliebende Miteinander von Christen und Muslimen gesprochen habe. "Es war so wohltuend, zu wissen: Man hat uns nicht vergessen. Die Kirche hat uns nicht vergessen, und auch die Welt hat uns nicht vergessen."

Auf die Frage nach der Gegenwart in Syrien zeigt Mourad zwei Gesichter. Strahlend spricht auch er von einem Wunder: dem unerwarteten Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 und dem großen Gefühl der Freiheit. "Für das syrische Volk ist ein Traum in Erfüllung gegangen." Doch dann verdüstert sich Mourads Blick: Die jüngsten Massaker, die Rachegelüste der Sieger, die sich gegen die unter Assad privilegierte Volksgruppe der Alawiten richten, und auch die Versuche der neuen syrischen Führung unter Präsident Ahmed al-Scharaa, die islamische Scharia als Grundlage des gesamten Rechtssystems zu etablieren – das alles zeige, dass al-Scharaas Versprechen zu Beginn seiner Amtszeit leere Worte gewesen seien. "Ich war beeindruckt von seiner Antrittsrede. Aber nichts von dem, was er angekündigt hat, ist Wirklichkeit geworden."

Erschüttertes Vertrauen in die neue syrische Führung

Die Vorbehalte gegen al-Scharaa, der unter dem Kampfnamen Abu Muhammad al-Dscholani das islamistische Milizenbündnis HTS gegen Assad anführte, hätten sich bestätigt. "Das Vertrauen ist erschüttert, ja zerstört – und das wiegt umso schwerer, als das Land noch immer schwach und kraftlos ist."

Er selbst schaue auf al-Scharaa mit einem etwas neutraleren Blick. "Menschen können sich verändern, Entwicklungen nehmen, neue Wege gehen." Deshalb begrüßt Mourad es, dass der Westen, auch Deutschland, sehr schnell auf al-Scharaa zugegangen ist. "Wie will man herausbekommen, ob jemand es ernst meint mit Veränderung, wenn man nicht seine Hand ergreift, um Respekt und Freundschaft zu zeigen?"

Entscheidender Beitrag Europas

Die Rolle Europas in Syrien, sagt Mourad, sei entscheidend – wichtiger als die der USA oder Chinas. Alles komme darauf an, dass Syrien nicht länger Spielball von Anrainerstaaten wie der Türkei oder Israels bleibe und der Einfluss regionaler Mächte, namentlich der Golfstaaten zurückgedrängt werde. Deren Interessenpolitik bewirke die Spaltungen unter den syrischen Bevölkerungsgruppen. "Das Problem ist nicht unser Volk, das Problem sind unsere Nachbarn."

Den wichtigsten Beitrag Europas für die Zukunft Syriens sieht Mourad im Wiederaufbau der Infrastruktur, des Medizin- und Bildungssektors. Eine Rückkehr-Perspektive für die vielen Millionen Geflüchteter gebe es nur, wenn die gesamte Region befriedet und in Syrien eine Verfassung mit Garantien von Minderheitenrechten samt einer funktionierenden Justiz installiert sei. Außerdem brauche es dringend Wohnraum. "Solange die Situation nicht klarer und stabiler ist, wird keiner zurückkommen."

Mehrmals fragt Kermani nach dem Beitrag der Religion, speziell der christlichen Gemeinschaften, zu einer inneren Befriedung Syriens. Er habe Klosterkommunitäten wie Mar Elian oder auch das bekannte Mar Musa in den 2010er Jahren als Orte erlebt, an denen Gräben überwunden und Brücken geschlagen wurden. Muslime seien dort selbstverständlich zum Beten gekommen, ja, er habe das Gefühl gehabt, sie hätten "ihrem Kloster" und "ihren Mönchen" mindestens die gleiche Liebe entgegengebracht wie die Christen, wenn nicht eine noch größere. Können davon auch heute Impulse ausgehen?

"Ein Ort der Gnade"

Mourad nennt Mar Musa einen "Ort der Gnade", weil dort freie Rede möglich sei und jedermann Gehör finde. "Veränderung beginnt mit Zuhören. Das ist der größte und wichtigste Dienst, den wir als Kirche leisten können: Zuhören, bei den Menschen zu sein, die träumen – von einer guten Zukunft für sich und ihr Land." Als wichtiges Zeichen sieht der Erzbischof es, dass die Klosterpforten von Mar Musa in der gesamten Zeit von Bürgerkrieg und IS-Terror nie geschlossen waren. Und auch das Bischofshaus in Homs stehe seit seinem Amtsantritt 2023 stets offen. "Wir akzeptieren keine Kirche, die ausschließt oder sich verschließt."

In geistlichen Zentren wie Mar Musa oder Mar Elian sei der Geist der Liebe unter Menschen verschiedenen Glaubens ungebrochen. "Wir sind immer noch auf dem gleichen Weg, und wir erfahren die gleiche Zuneigung unserer muslimischen Nachbarn." Was sich allerdings verändert habe, sei die Mentalität vieler Christen. Zur Zeit Assads als Angehörige einer vergleichsweise geschützten Minderheit eher auf der Seite des Regimes, gehe nun unter ihnen die Angst um, sie könnten nach den Alawiten die nächsten Opfer von Gewaltexzessen der neuen Machthaber und ihrer Anhänger werden.

"Wetterwendische" Stimmung

Um die Stimmung in der gesamten Bevölkerung zu charakterisieren, verwendet Mourad ein arabisches Bildwort, analog dem deutschen "wetterwendisch". Auch viele Christen passten ihre Einstellung an die Verhältnisse an: "Nach dem Sturz Assads versuchten sie, ihre Ängste gegenüber der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit zu überwinden. Jetzt, nach den Gräueln an den Alawiten, sagen sie sich: Assad hatte doch recht, die Sunniten sind Kriminelle und Terroristen."

Gegen das Auseinanderdriften der Menschen setzt Mourad auf die Kraft des Glaubens. Daraus, sagt er, erwächst der Mut zur Aufrichtigkeit, zur Versöhnung, ja zur Feindesliebe – und zu nie versiegender Hoffnung. Glaube, Hoffnung, Liebe: Was sich so einfach als Trias der christlichen Grundtugenden aufsagen lässt, ist bei Jacques Mourad ein durch sein Leben beglaubigtes Zeugnis.

Vielen Dank für Ihr Interesse
Um Zugang zu allen exklusiven Artikeln des Kölner Stadt-Anzeigers zu erhalten, können Sie hier ein Abo abschließen.

Am Schluss des Gesprächs hat Kermani noch ein Geschenk für Pater Jacques: den Text der Friedenspreisrede als Booklet – und die arabische Ausgabe seines Buchs zu Fragen nach Gott. Der Titel, auf Deutsch: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.  © Kölner Stadt-Anzeiger