Streit unter dem Christbaum: Warum streiten wir uns ausgerechnet am Fest der Liebe so häufig? Wie lassen sich Einladungsstress und Geschenkefrust vermeiden?

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Was kann man tun, wenn der Einsamkeits-Flash droht? Tipps von Psychologin und Coach Christine Backhaus.

Frau Backhaus, alle Jahre wieder, heißt es. Stimmt das? Oder ist unsere Stimmung zu Weihnachten ein Spiegel der Zeit?

Wenn wir über Weihnachten sprechen, dann ist es sicher sinnvoll, das im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Die Herausforderungen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben – von der Corona-Pandemie bis hin zu politischen Krisen wie dem Krieg in der Ukraine und in Nahost und den Entwicklungen unter Trump – dürfen nicht ausgeblendet werden. Diese Ereignisse haben einen großen Einfluss auf uns alle. Das Weihnachten in diesem Jahr ist nicht das gleiche wie vor zehn Jahren. Diese Veränderungen sollten wir zumindest im Hinterkopf behalten.

Sie beraten Menschen in Fragen von Partnerschaft und Familie, beruflicher und persönlicher Lebensführung. Welche Auswirkungen haben die politischen und wirtschaftlichen Krisen auf das Leben Ihrer Klienten?

Viele befinden sich in Umbruchsituationen. Nehmen wir zum Beispiel die Mittdreißiger, die gerade ihr zweites Kind bekommen haben, geheiratet haben und eigentlich ein Haus bauen wollten. Aufgrund der zwischendurch hohen Zinsen und der Unsicherheit konnten sie das jedoch nicht verwirklichen. Dann gibt es die Mittfünfziger, die bis vor Kurzem einen sicheren Job hatten und sich ein Leben im Wohlstand aufgebaut haben. Viele von ihnen haben während der Pandemie begonnen, über ihre Zukunft nachzudenken, und mussten sich neu sortieren. Nach Corona sind die meisten zwar wieder auf die Beine gekommen. Doch jetzt stehen sie vor neuen Chancen und Risiken.

Und damit vor neuen Belastungen?

Jeder Umbruch oder jede Veränderung in den gewohnten Routinen wird als Stress empfunden. Wir müssen uns neu aufstellen, sowohl körperlich als auch psychisch. Viele unserer männlichen Klienten, die oft Verantwortung im Management tragen, sehen, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren geändert hat, dass so gut wie nichts mehr selbstverständlich ist. Selbst Unternehmen wie BASF mit seinem Standort Ludwigshafen oder VW, die über Jahrzehnte als stabil galten, stehen jetzt vor großen Herausforderungen.

Angesichts solcher Zumutungen müsste Weihnachten doch gerade richtig kommen. Als Fest der Liebe, der Familie, als Flucht in den sicheren Hafen des Privaten.

Das wünschen wir uns alle so sehr. Wir wünschen uns, dass Weihnachten dieses Mal so wird, wie wir es immer schon haben wollten. Oder wie es vor 20, 30 Jahren war, als wir klein waren oder wie auch immer. Weihnachten funktioniert wie ein Brennglas, weil wir da ein Stück weit die Zeit anhalten und weil wir nicht mehr in unseren gewohnten Routinen sind. Und dann fällt uns vielleicht auf, was uns sonst auch stört oder umtreibt, aber im Alltag hingenommen wird. Da wird vielleicht der Oma oder der Schwiegermutter klar, dass sie Wochen mit dem Vorbereiten des Heiligen Abends zugebracht hat. Und keiner, wirklich keiner hat geholfen.

Oft steigen die Spannungen schon in den Wochen davor, wenn das Fest geplant wird.

In der Advents- und Weihnachtszeit werden die Familienkonstellationen sichtbar. Wer wird besucht, was wird gegessen? Wer gibt den Takt, wer gibt die Regeln vor? Und wer bekommt von wem dann am Heiligen Abend das größte Geschenk? Wir sind an Weihnachten keine anderen Menschen, wir nehmen uns mit zum Fest. Und dann werden diese alten Wunden aufgerissen. Dann erleben wir wieder, wie es ist, wenn der Vater nur dem Bruder zuhört. Oder wenn drei Tage lang nur über Politik gesprochen wird, und ich kann nicht mitreden, weil ich keine Ahnung davon habe. Weihnachten bringt die ureigenen Persönlichkeitsthemen zum Leuchten.

Was kann ich tun, um den Streit unter dem Christbaum zu vermeiden?

Authentisch sein, auf mich selbst hören. Buddha sagt, dass wir nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft, sondern mehr jetzt im Moment leben. Ich sollte mir darüber klar werden, wie es mir geht, wie das Jahr für mich war, ob ich vielleicht an anderer Stelle viel geben musste. Und das sollte ich dann auch entsprechend würdigen. Was könnte ich jetzt brauchen? Es ist wichtig, milde mit sich umzugehen und zu überlegen, was man leisten möchte. Und dann aber auch: Was könnten die brauchen, die mir sehr nahestehen? Also einerseits die Achtsamkeit, die Sorgsamkeit mit sich selbst und dann auch mit den anderen.

Was könnte das konkret bedeuten? Zum Beispiel für die Frage, wo und mit wem man feiert?

Wir sollten den Mut haben, uns von Mustern zu lösen. Auch wenn man Weihnachten immer bei den Eltern verbracht hat, ist das kein Grund, das ewig so zu machen. Ich kann mich fragen: Will ich diese ganze Fahrerei, dieses Beengte? Oder will ich etwas ganz anderes? Vielleicht: Wir mieten uns ein Ferienhaus, und wer Lust hat, kann kommen. Oder ich mache einfach mal komplett mein eigenes Ding. Natürlich muss ich dann auch die Konsequenzen in Kauf nehmen. Dann verpasse ich eben diesmal die schönste Gans der Welt.

Das erfordert Mut.

Es kann nur etwas Neues entstehen, wenn ich von Altem loslasse, wenn ich Muster verändere. Nur dann weiß ich, wie sich etwas Anderes, Neues, anfühlt. Und wenn das neue Modell nicht funktioniert, dann kann ich auch sagen: Oh, die letzten 19 Jahre waren doch gar nicht so schlecht. Das will ich wiederhaben. Aber es geht darum, bewusst zu entscheiden, wie wir die Feiertage gestalten, wie wir durch diese herausfordernde Zeit kommen wollen.

Manche Familien treffen vor dem Fest Absprachen. Zum Beispiel, dass nicht über Politik gesprochen wird. Ist das sinnvoll?

Auf jeden Fall. Wir können auch für uns selbst Tabuthemen definieren und sie den anderen mitteilen. Ich möchte nicht auf meine Trennung oder den Arbeitsplatzwechsel angesprochen werden, zum Beispiel. Es gibt auch so eine Joker-Übung. Jeder Beteiligte ist autorisiert, einen Joker zu ziehen, wenn ihm eine Diskussion zu lange dauert, zu vehement ist, in die für ihn falsche Richtung geht. Und wenn der Joker gezogen wird, dann ist erst mal Sendepause. Das kann dem Ganzen etwas Spielerisches geben. Spannend ist auch, dass die Joker dann oft gar nicht zum Einsatz kommen, weil die Beteiligten darum wissen und sich rücksichtsvoll verhalten.

Wie ist es mit den Geschenken? Was mache ich, wenn mein Geschenk nicht ankommt? Oder umgekehrt, wenn ich etwas bekomme, das mir überhaupt nicht gefällt? Soll ich darüber hinweglächeln oder es ansprechen?

Wir sollten uns darüber klar werden, was die Motive hinter dem Geschenk waren, was es triggert, warum wir oder andere möglicherweise enttäuscht sind. Dann kann man darüber auch ins Gespräch kommen.

Das könnte aber erst recht zu Verletzungen führen.

Wenn wir merken, dass es zu heftig werden könnte, empfehle ich, nicht zu spontan zu handeln, sondern sich erst einmal zu sammeln. Vielleicht nach draußen zu gehen, abzukühlen, das Ganze dann in einem ruhigen Moment zu sortieren und gegebenenfalls noch einmal aufzurollen.

Und wenn wir am 27. Dezember doch frustriert davon sind, wie die Feiertage gelaufen sind?

Dann ist das der ideale Moment, die Dinge auf den Prüfstand zu stellen. Wenn die Erfahrungen noch frisch sind, wenn man noch gut spüren kann, ob es so gepasst hat oder nicht, dann sollten wir überlegen, ob wir es im nächsten Jahr wieder so machen wollen. Und dann sollten wir auch bald Entscheidungen treffen, den Freunden zum Beispiel sagen, dass man nächstes Jahr wahrscheinlich nicht dabei ist. Und es ist völlig in Ordnung, wenn man sich dann doch noch entscheidet, wieder mitzumachen. Wichtig ist einfach, dass man es kommuniziert, dass man offen mit den Menschen um sich herum spricht.

Was ist, wenn ich gar keine Menschen um mich herum habe, mit denen ich streiten könnte? Wenn ich, zum Beispiel als alter Mensch oder in einer fremden Umgebung, Angst habe, an den Feiertagen einsam zu sein?

Wenn ich dieses Gefühl kenne, dann sollte ich es nicht auf mich zukommen lassen. Ob ich zum Beispiel wegfahre oder zu Hause bleibe – wichtig ist, dass ich mich entscheide und eine positive Grundstimmung dazu habe. Und ich sollte einen Plan B oder einen Plan C haben für den Fall, dass mich der Einsamkeits-Flash trifft. Vielleicht gibt es eine Freundin oder Nachbarn, zu denen ich spontan gehen könnte. Man kann vorab klären, ob man eventuell vorbeikommen kann. Viele trauen sich das nicht zu fragen, weil sie Angst vor Ablehnung haben. Aber ich glaube, das wird nicht so oft vorkommen, weil jeder weiß, dass die Feiertage für jeden eine vulnerable und sensible Zeit sind.

Ist die Hemmschwelle für eine solche Frage nicht sehr hoch, weil man fürchtet, ausgerechnet zu Weihnachten jemandem zur Last zu fallen?

Natürlich muss es passen, aber ich kann nur Mut machen, es einfach zu probieren. Vielleicht sind die anderen ganz froh, wenn mal jemand dazukommt. Also im Sinne eines positiven Selbstwerts: Na, ich kann ja auch eine Bereicherung sein. Die freuen sich, dass ich da bin, und ich freue mich, dass ich da sein kann.

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Zur Person

Christine Backhaus ist Diplom-Psychologin und Management-Beraterin in Frankfurt, die Menschen nach eigener Aussage an den "grossen Wendepunkten im Leben" unterstützt. Ihr Unternehmen Psyconomy gibt es seit über 20 Jahren, das Team arbeitet für Manager, Fach- und Führungskräfte namhafter Unternehmen und hat nach eigenen Angaben schon mehr als 15.000 Menschen beraten.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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