Suizidforscherin Ute Lewitzka: Ute Lewitzka hat an der Goethe-Universität Frankfurt die erste deutsche Professur für Suizidforschung inne.

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Hier spricht sie darüber, warum sich Menschen das Leben nehmen, welche Irrtümer verbreitet sind und was Selbsttötungen verhindern könnte.

Frau Lewitzka, Deutschland steckt in einer Wirtschaftskrise, es herrscht Krieg in Europa, hinter uns liegt eine Pandemie. Führt dies alles dazu, dass sich mehr Menschen selbst töten?

In Deutschland nehmen sich tatsächlich mehr Menschen das Leben. Wir haben von 2021 auf 2022 eine Zunahme der Fälle um 9,8 Prozent gesehen und von 2022 auf 2023 einen Anstieg um 1,8 Prozent. Man kann das nicht allein auf Ereignisse wie Corona oder Krieg zurückführen. Ein Suizid hat nie nur eine einzige Ursache. Was wir vermuten – und das ist besorgniserregend –, ist, dass diese Zahlen auch die Erleichterung der Suizidassistenz widerspiegeln. Diese wurde 2020 vom Bundesverfassungsgericht legalisiert. Zwar werden Fälle von assistiertem Suizid in Deutschland nicht gesondert erfasst, aber die Sterbehilfeorganisationen veröffentlichen Zahlen, und diese belegen eine Verdreifachung bis Vervierfachung.

Bleiben wir erst einmal bei den äußeren Ursachen für Suizide. Man könnte denken, dass Menschen etwa während eines Kriegs oder anderer existenzieller Notlagen seltener an Selbsttötung denken, weil sie alle Kraft darauf verwenden, ihr Überleben zu organisieren.

Ja, das lässt sich belegen. Man weiß aus den Zeiten der Weltkriege und auch von der Spanischen Grippe 1918/19, dass die Suizidrate in solch großen Krisen zunächst abnimmt oder nicht zunimmt. Vermutlich geht es dann wirklich erst einmal ums Überleben. Es gibt auch etwas, das wir "pulling together" nennen: In einer schweren Krise erleben die Menschen Gemeinschaft, man kümmert sich umeinander, ist auf einmal für den Nachbarn da. Aber dann kommt das, was die Forscher als "Honeymoon-Effekt" bezeichnen: Man realisiert, was in der Krise kaputtgegangen ist, wen oder was man verloren hat. Und dann kann es zu einem Anstieg der Suizidrate kommen.

Lässt sich dieser Effekt für die Corona-Krise nachweisen?

Einen Anstieg der Suizidraten wie nach der Spanischen Grippe und auch der Russischen Grippe von 1889 an haben wir bei Corona so nicht gesehen. Die Zunahme, die wir jetzt beobachten, können wir nicht ausschließlich auf die Corona-Zeit zurückführen. Wir haben eine Zunahme der psychischen Belastung vor allem bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Trotzdem ist die Suizidrate unter Jugendlichen in Deutschland – anders als etwa in Spanien – nicht gestiegen. Corona hat also nicht unbedingt zu einer größeren Zahl von Selbsttötungen geführt, aber bestimmte Risikofaktoren verstärkt.

Wie weit in die Geschichte reichen verlässliche Suizidstatistiken zurück?

Der italienische Psychiater Henry Morselli hat bis in die 1840er Jahre hinein die Suizidraten in Europa analysiert. Ihm fiel beispielsweise auf, dass die Suizidrate im damaligen Königreich Sachsen zu den höchsten in Europa zählte. Und noch heute gehören Sachsen, Sachsen-Anhalt und auch Thüringen zu den Regionen mit den meisten Suiziden in Deutschland.

Wie ist das zu erklären?

Es gibt drei Hypothesen. Die erste ist, dass der evangelische Glaube, der im Osten Deutschlands weiter verbreitet ist, schlechter vor Suizid schützt als der katholische – weil im Katholizismus der Suizid stärker sanktioniert wird. Und zu DDR-Zeiten wurde die Bindungskraft der Religion dann noch schwächer. Die zweite Hypothese gründet darauf, dass in den Osten eher slawische Volksstämme eingewandert sind. Wir wissen, dass die slawische Ethnie eine erhöhte Suizidrate hat. Das hat zum Teil genetische Ursachen, wie wir sie auch bei anderen Ethnien, etwa den Inuit, annehmen, aber da können natürlich auch soziale Faktoren bedeutsam sein. Nach der dritten Theorie ist in diesen Bundesländern die Konzentration des Spurenelements Lithium im Trinkwasser niedriger als im Westen. Lithium wird als Medikament gegen Depressionen eingesetzt. Es gibt aus anderen Ländern und Regionen viele Studien, die Zusammenhänge zwischen Selbsttötungen und dem Lithiumgehalt im Trinkwasser belegen.

Haben auch Landschaft und geographische Lage einen Einfluss auf die Suizidrate, etwa über die Tageslichtdauer?

Es gibt tatsächlich in Europa ein Nord-Süd-Gefälle: In Finnland ist die Suizidrate am höchsten, in Griechenland am niedrigsten. Aber wir sehen eben auch das West-Ost-Gefälle, da passt die Erklärung mit dem Tageslicht schon wieder nicht. Die Landschaft spielt keine so große Rolle, sondern eher, wie die Menschen leben: Sind sie arm oder reich, wohnen sie in der Stadt oder auf dem Land, sind sie sozial eingebunden oder nicht?

Sie erwähnten genetische Merkmale für ein erhöhtes Suizidrisiko. Wie bedeutsam sind solche Faktoren?

Es gibt nicht das eine "Suizid-Gen", sondern eine Vielzahl von Genen, die eine Rolle spielen können. Es kommt auch auf Umweltprozesse an, durch welche die Gene an- oder abgeschaltet werden, die sogenannte Epigenetik. Das ist mittlerweile recht gut untersucht, hilft uns aber wenig bei der Einschätzung des individuellen Suizidrisikos. Wenn ein Patient vor mir sitzt, frage ich schon nach familiären Häufungen, aber ein Mensch mit zehn Suiziden in der Familie kann trotzdem 100 Jahre alt werden.

Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie sehr vor allem Depressionen die Suizidgefahr steigern.

Alle psychischen Erkrankungen erhöhen das Suizidrisiko. Besonders gilt das für die affektiven Störungen, also vor allem Depressionen und manisch-depressive Erkrankungen. Wir wollen aber nicht allen Menschen mit Depressionen Angst machen: Nicht alle nehmen sich das Leben, andere Faktoren spielen eben auch eine Rolle.

Welche sind das?

Wenn jemand schon einmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er das wieder tun wird, deutlich erhöht. Weitere Risikofaktoren sind bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Impulsivität, nicht nützliche Problemlösungsstrategien, aber auch Hoffnungslosigkeit, das Gefühl, nicht zu einer Gemeinschaft zu gehören oder anderen zur Last zu fallen. Generell ist die Wahrscheinlichkeit eines Suizids bei Männern und älteren Menschen höher. Wichtig sind zudem soziale Aspekte wie familiäre Bindung, Einkommen und Migrationsgeschichte sowie traumatische Erlebnisse. Vor allem frühkindliche Traumata erhöhen das Risiko.

Und welche Eigenschaften schützen vor einem Suizid?

Das ist noch nicht so gut erforscht. Wenn Menschen gelernt haben, Probleme konstruktiv zu lösen und Sorgen nicht in sich hineinzufressen, ist das sicher von Vorteil. Soziale Gebundenheit und Religiosität spielen ebenfalls eine Rolle; Medienkonsum wiederum kann sich vermutlich positiv wie negativ auswirken.

Ist es vorstellbar, dass ein Mensch aus rationalen Gründen den Entschluss fasst, in den Tod zu gehen? Etwa aus dem Gefühl heraus, das Leben ausgeschöpft zu haben?

Auf einer philosophischen Ebene kann man darüber diskutieren, ob es diesen sogenannten Bilanzsuizid gibt. Aber im klinischen Alltag begegnet mir das nicht. Wenn man mit diesen Menschen spricht, finden sich fast immer andere Motive – bei Hochbetagten etwa die Angst, anderen zur Last zu fallen, auf Hilfe angewiesen zu sein, die Würde zu verlieren. Warum sollte ein per se gesunder Mensch sich das Leben nehmen wollen? In uns ist doch alles darauf programmiert zu überleben: Wenn Sie sich verschlucken, fangen Sie sofort an zu husten, um nicht zu ersticken.

Hilfe bei Suizidgedanken

Wie viele Versuche kommen statistisch auf eine vollendete Selbsttötung?

Statistisch erfasst wird das nicht, aber nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation gibt es zehn- bis zwanzigmal mehr Suizidversuche als vollendete Suizide. Eine neuere Arbeit geht sogar vom Faktor 50 aus. In Deutschland hätten wir dann bei 10.000 Suiziden im Jahr ungefähr 500.000 Versuche.

Auf welche Arten nehmen sich Menschen am häufigsten das Leben?

In Deutschland am häufigsten durch Erhängen. In den USA nehmen sich viele mit Schusswaffen das Leben. In asiatischen Ländern wird oft zu Pestiziden oder Düngemitteln gegriffen. In Deutschland spielen auch Medikamente eine große Rolle. Hier gibt es ebenfalls gute Möglichkeiten, die Verfügbarkeit zu begrenzen, etwa durch kleinere Packungsgrößen. Generell gilt: Wenn man den Zugang zu Methoden oder Gelegenheiten beschränken würde – und da reichen oft ganz basale Maßnahmen wie etwa der bessere Schutz von Bahngleisen oder Aussichtstürmen –, ließe sich die Suizidrate deutlich senken. Denn es stimmt nicht, dass jemand, der daran gehindert wird, sich auf eine bestimmte Art umzubringen, sich einfach eine andere Methode sucht. Die Mehrheit versucht es eben nicht noch einmal – das heißt, diese Menschenleben wurden gerettet.

Sagt die Wahl der Methode – etwa Tabletten oder Sprung vor den Zug – etwas darüber aus, wie stark der Todeswunsch wirklich ist?

Nein. Die "weicheren" Methoden werden eher von Frauen genutzt, weshalb die Suizidrate bei Männern höher ist. Ich würde aber nie jemandem, der Tabletten nimmt, unterstellen, dass er es weniger ernst meint. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass die von ihnen gewählte Methode zum Tod führt. Bestimmte Berufsgruppen haben allerdings schon aufgrund ihres Wissens und der Verfügbarkeit der Methoden ein höheres Suizidrisiko – etwa Ärzte, Tierärzte und Apotheker.

Woran lässt sich erkennen, dass ein Mensch suizidgefährdet ist?

Das Problem ist, dass es nicht bei allen Menschen Warnzeichen gibt. Etliche Hinterbliebene sagen, sie hätten vor dem Suizid keine Veränderungen bemerkt. Manche gehen am Tag ihres Todes zur Arbeit, nachmittags ins Fitnessstudio – und nicht mehr nach Hause, weil sie sich auf dem Heimweg das Leben nehmen. Aber grundsätzlich sollte man auf Veränderungen achten, die etwa auf eine Depression deuten können: Wenn jemand niedergeschlagen oder reizbar wirkt, sich zurückzieht, Hobbys nicht mehr nachgeht, sollte das Anlass sein, nachzufragen. Etwa so: "Ich habe das Gefühl, es geht dir nicht gut. Ich mache mir Sorgen." Und wenn der- oder diejenige von Sorgen erzählt, kann man nachfragen: "Denkst du vielleicht, dass das Leben keinen Sinn mehr hat?"

Dann meint eventuell mancher, er bringe sein Gegenüber erst auf schlimme Ideen.

Diese Furcht ist unbegründet. Auch ein Laie darf in solch einer Situation seine Sorge zum Ausdruck bringen. Man bringt sein Gegenüber nicht darauf, nur weil man danach fragt. Die Gedanken sind schon vorher da. Meistens erleben die Betroffenen dann eine Entlastung, weil es endlich jemanden gibt, der das sieht und sich traut, das Thema anzusprechen. Das Allerwichtigste ist es zu signalisieren: Ich bin für dich da. Wer sich in einer tiefen psychischen Krise befindet, hat womöglich nicht mehr die Kraft, sich ans Telefon zu setzen und zehn Ärzte oder Therapeuten anzurufen. Da können dann Angehörige oder Freunde helfen.

Und wo bekommen Suizidgefährdete am schnellsten Hilfe?

Wichtig sind zunächst die niedrigschwelligen Optionen wie die Telefonseelsorge und andere psychosoziale Krisendienste, etwa "U25" für Jugendliche und "MANO" für Erwachsene. Das muss auch die Politik endlich auf den Schirm bekommen und diese Angebote nachhaltig fördern. Wertvolle Ansprechpartner sind auch die Hausärzte, die ihre Patienten oft gut kennen. Dass sie häufig überarbeitet sind, ist klar, aber zumindest können sie ihren Patienten dann andere Hilfen vermitteln. In dringenden Fällen kann man in die Notaufnahme einer psychiatrischen Klinik gehen. Es muss niemand Angst haben, er werde dort gegen seinen Willen festgehalten oder zwangsweise mit Medikamenten behandelt. So etwas geschieht nur, wenn jemand sich selbst oder andere Menschen akut gefährdet und diese Gefahr nicht anders abzuwenden ist. In vielen Fällen können wir Patienten auch ambulant helfen, etwa mit Medikamenten und Psychotherapien.

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Zur Person

Ute Lewitzka, Jahrgang 1972, hat Medizin in Berlin und Dresden studiert. Mit Suizidologie befasst sich die Psychiaterin seit ihrer Promotion. 2017 gründete sie das Werner-Felber-Institut für Suizidprävention, dessen Vorstand sie immer noch vorsitzt. Lewitzka ist auch Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Vor ihrem Wechsel an den Fachbereich Medizin der Universität Frankfurt arbeitete sie am Dresdner Uniklinikum. Ihre Professur an der Goethe-Uni wird fünf Jahre von der Crespo Foundation, der Henryk-Sznap-Stiftung und der Elmar-und-Ellis-Reiss-Stiftung gefördert.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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