Staatstheater Wiesbaden: Generationen von Kindern wuchsen mit den Marionetten auf: Nun bringt das Staatstheater Wiesbaden die Geschichte der Augsburger Puppenkiste nach Thomas Hettches Roman "Herzfaden" auf die Bühne.

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An diesem Vormittag proben die Schauspieler am Hessischen Staatstheater Wiesbaden eine Szene in der Werkstatt der Augsburger Puppenkiste. Man sieht die junge Hannelore Oehmichen, die Tochter des Theaterleiters, wie sie eine Puppe schnitzt. "Das bin ja ich, das bin ja ich", schreit der Kasperl, der ganz aufgeregt über die Bühne tanzt. Daneben sitzt die alte Hannelore Oehmichen-Marschall und beobachtet die Szene aufmerksam. Sie wird verkörpert durch eine Handpuppe, geführt und gesprochen von Eva Vinke und Franziska Rattay, während ihr junges Ich von einer Schauspielerin, Tabea Buser, dargestellt wird.

Puppen und Menschen spielen auf der Bühne nebeneinander, und es scheint, als sei dies wie unter Ebenbürtigen möglich. Wie dieser Zauber funktioniert, auch wenn man auf eine illusionistische Spielweise verzichtet und die Puppen als Puppen zeigt, die von Menschen geführt werden, weiß Regisseur Moritz Sostmann aus langer Erfahrung. 1969 in Halle geboren, studierte er Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Er war Regisseur am Puppentheater Magdeburg. Als freier Regisseur lässt er in seinen Inszenierungen oft Puppen und Menschen gemeinsam agieren.

Wie jetzt auch in dem Stück "Herzfaden" nach dem Roman von Thomas Hettche, das am 6. Dezember am Staatstheater Wiesbaden Premiere haben wird. Bis dahin sind es an diesem Vormittag noch mehr als zwei Wochen. Die Bühne ist bereits von verschiedenen Puppen bevölkert, die an die Augsburger Puppenkiste erinnern.

Überlebensgroß stehen dort Jim Knopf, das Urmel aus dem Eis und die Prinzessin Li Si. Der Roman erzählt die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, die von Walter Oehmichen, seiner Frau Rose und den Töchtern Hannelore und Ulla 1948 gegründet worden ist und deren Figuren mit den Fernsehproduktionen von 1953 an geliebt wurden.

Einer Puppe Leben einhauchen

Auch er selbst sei in seiner Kindheit von den Figuren der Augsburger Puppenkiste geprägt worden, erzählt Hettche. "Es gab in meiner Kindheit nur Raumschiff Enterprise, Bonanza und die Puppenkiste", erinnert sich der 1964 geborene Autor. Ihn habe schon als Kind fasziniert, dass man die Marionetten immer als Marionetten erkannt, ihre Fäden gesehen habe. Ihre Gesichter ohne Mimik. Das Meer als Plastikfolie. Und dass einen die Geschichte doch in den Bann gezogen habe. "Das fand ich großartig. Es war künstlich und doch ergreifend."

Auch mit seinen beiden Töchtern hat Hettche die Verfilmungen der Augsburger Puppenkiste angesehen. Doch erst im Zuge seiner Recherchen für den Roman hat er das Marionettentheater besucht. Und er war verwundert, wie klein die Guckkastenbühne ist.

Seiner Faszination für die Puppen tat das keinen Abbruch. Auch nicht, als er sich die Technik näher ansah, hinter die Bühne schaute und selbst eine Marionette in der Hand hielt. Sogar als Laie habe er der Puppe mit wenigen Bewegungen Leben einhauchen können, sagt er: "Das war sofort magisch. Und fast ein bisschen erschreckend."

Die erste Romanadaption des "Exilfrankfurters"

Mit "Herzfaden" wird jetzt zum ersten Mal ein Roman von ihm als Bühnenstück adaptiert, sagt Hettche. Die Textfassung fürs Theater hat er schon gelesen. Er sei nun neugierig, wie das Stück mit Puppen und realen Figuren gespielt werde. Zur Premiere will er von Berlin nach Wiesbaden anreisen. Ohnehin sei er, der aus der Nähe von Gießen stammt, immer wieder in der Region, besonders gerne in Frankfurt, wo er 20 Jahre gelebt hat: "Ich würde mich als Exilfrankfurter bezeichnen."

Die Geschichte des Marionettentheaters und der Familie Oehmichen erzählt Hettche aus Sicht der jungen Hannelore, die von allen Hatü genannt wird. Die Handlung lässt er 1939 beginnen, als der Vater in den Krieg eingezogen wird, die Kinder in der Schule von den Nürnberger Gesetzen hören müssen und Hatü die wenigen übrig gebliebenen Juden in Augsburg besucht, bevor sie deportiert werden.

Bis Anfang der Sechzigerjahre verfolgt Hettche das Schicksal der Familie Oehmichen und ihres Theaters, als Hatü den 1960 erschienenen "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" von Michael Ende sogleich für die Puppenkiste entdeckt.

Die alternative Welt der Poetik und Schönheit

Was in den Kriegsjahren zuvor passierte, hat viel mit der Entstehung des Marionettentheaters zu tun. Warum Walter Oehmichen, der vorher Oberspielleiter am Augsburger Stadttheater war, fortan lieber mit Marionetten statt mit Menschen arbeitete, habe – so begründet es Hettche in seinem Roman – mit einer großen Enttäuschung zu tun: Marionetten hätten sich, sagt Oehmichen dort, anders als Menschen nicht verführen lassen.

Mit den Puppen habe sich Hatü eine alternative Welt der Poetik und Schönheit geschaffen, in Abgrenzung zur brutalen Realität, sagt Regisseur Sostmann. Er hat gemeinsam mit Dramaturgin Sophie Steinbeck die Textfassung des Romans für die Bühne geschrieben. Darin fehlt die Rahmenhandlung des Romans, in der ein Mädchen unserer Gegenwart auf dem Dachboden des Augsburger Puppentheaters auf die zum Leben erwachten Marionetten trifft.

In seiner Bühnenfassung ist die alte Hatü des Dachbodens dafür eine Puppe, die Regieanweisungen gibt und sich einmischt. Sie beobachtet die jungen Leute, aus denen sich das Ensemble der Puppenkiste in der Anfangszeit zusammensetzt. Sie alle suchen in den Trümmern der Nachkriegsjahre nach Antworten, wie jetzt zu leben ist. Sie suchen auch nach neuen Stoffen für die Bühne. Märchen erzählen wollen sie nicht mehr.

"Habt ihr das gewusst mit den Juden?"

Hannelore Oehmichen und ihre Schwester seien im Alter seiner Mutter, sagt Hettche, und auch im Nationalsozialismus aufgewachsen. "Ich habe viele Gespräche mit meiner Mutter geführt und die Traumatisierung dieser Generation am eigenen Leibe miterlebt. Und deswegen fand ich spannend zu schauen, wie die beiden Schwestern sich durchschlagen und einen neuen Weg mit ihren Geschichten finden."

Um sie herum herrschte Schweigen. Dennoch fragen in seinem Roman die Jüngeren bei den Älteren nach: Einmal wollen die jungen Puppenspieler von Theatergründer Oehmichen wissen, was er im Krieg getan hat. Und einmal fragt Hatü ihren Vater: "Habt ihr das gewusst mit den Juden?"

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Um diese Fragen gehe es, sagt auch Sostmann: "Was ist in dieser Zeit geschehen, und wie konnte man damit umgehen?" Dies seien Fragen, die man oftmals versäumt habe, den eigenen Großeltern zu stellen, so der Regisseur. Diese Chance will er seiner alten Hatü jetzt geben.

Herzfaden, Uraufführung 6. Dezember, 19.30 Uhr, Staatstheater Wiesbaden  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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