Ende eines Rechtsstreits: Sie hatten sich eingeklagt, nun mussten sie doch gehen: 22 Medizinstudenten haben in zweiter Instanz einen Rechtsstreit mit der Uni Marburg verloren. Grund sind unterschiedliche Berechnungen, wie viele Studienanfänger der Fachbereich betreuen kann.

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Sie hatten sich in Marburg eine Wohnung gemietet, hatten Einführungsveranstaltungen besucht und waren schon für Kurse eingeteilt worden. Doch nun ist ihr Traum, Arzt zu werden, erst einmal geplatzt: Die Philipps-Universität hat nach eigenen Angaben 22 Anfänger, die sich für das laufende Wintersemester im Fach Humanmedizin eingeschrieben hatten, nach wenigen Wochen wieder exmatrikuliert.

Was angesichts des vielfach diagnostizierten Ärztemangels bizarr anmutet, erklärt sich durch den wechselhaften Verlauf eines Rechtsstreits, der vor etwa einem Jahr begonnen hat. Im Oktober 2023 reichten gut zwei Dutzend Studierwillige beim Verwaltungsgericht Gießen sogenannte Kapazitätsklagen gegen die Uni Marburg ein – mit dem Ziel, dort für das Fach Medizin zugelassen zu werden. Zweck dieses Vorgehens ist es, gerichtlich festzustellen zu lassen, dass eine Hochschule in einem Numerus-clausus-Fach nicht so viele Anfänger zulässt, wie ihre Kapazitäten an Räumen, Ausstattung und Betreuern es eigentlich erlauben würden.

Ungewöhnlich große Zahl vorübergehend erfolgreicher Kläger

Dass im Auswahlverfahren gescheiterte Abiturienten auf diese Art versuchen, doch noch Zugang zu ihrem Wunschstudium zu bekommen, ist gerade in der Medizin nicht ungewöhnlich. Was den Marburger Fall bemerkenswert macht, ist zum einen die große Zahl der zumindest vorübergehend erfolgreichen Kläger. Zum anderen sind es die Wendungen, die der eingeschlagene Rechtsweg nahm.

Das Verwaltungsgericht Gießen verkündete seine Entscheidung erst im Mai dieses Jahres; eine Bearbeitungszeit von acht Monaten ist nach Einschätzung von mit der Materie vertrauten Juristen ungewöhnlich lang. Was die Richter beschlossen, war für die Kläger ein Grund zur Freude: 28 von ihnen wurde vorläufig das Recht zugesprochen, sich in Marburg für Medizin einzuschreiben. Das Verwaltungsgericht hatte die Ausbildungskapazitäten des Fachbereichs geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass dieser eine solche zusätzliche Zahl von Erstsemestern verkraften könne.

Kasseler Richter schätzen Kapazität geringer ein

Die Universität ließ die Bewerber tatsächlich fürs Erste zu, legte jedoch gegen den Gießener Beschluss Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel ein. Dieser kam Ende September zu einer anderen Einschätzung als die Vorinstanz: Die Kasseler Richter interpretierten die Kapazitätsdaten so, dass eine Aufnahme von so vielen weiteren Bewerbern dem Fachbereich nicht zuzumuten sei. Da dieser Beschluss unanfechtbar ist, durfte die Universität die eingeschriebenen Kläger umgehend wieder exmatrikulieren.

Eine der Betroffenen ist die Tochter von Marc Wagner, Juraprofessor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Er hat sie in beiden Verfahren vor Gericht vertreten. "Rechtlich ist diese Entscheidung vertretbar", sagt er zum Spruch des Verwaltungsgerichtshofs. "Gesellschaftlich halte ich sie für einen Skandal, fordert doch der Deutsche Ärztetag wie auch der Bundesgesundheitsminister die Einrichtung von mindestens 5000 zusätzlichen Medizinstudienplätzen."

"Falsche Hoffnungen bei den Klägern geweckt"

Besonders ärgert Wagner, dass bei den Klägern aus seiner Sicht falsche Hoffnungen geweckt wurden – unter anderem weil die Philipps-Universität entscheidende Belege für ihre Kapazitätsberechnung erst im Beschwerdeverfahren und nicht schon vor der ersten Instanz eingeführt habe. Dies ergibt sich auch aus der Begründung des Kasseler Beschlusses, die der F.A.Z. vorliegt. Darin wird als kapazitätsmindernd für das erste Semester anerkannt, dass der Fachbereich eine bestimmte Zahl von Mitarbeiterstellen, die für die vorklinische Lehre relevant waren, inzwischen dem klinischen Teil der Fakultät zugeschlagen hat. Die schon im April 2023 gefassten Beschlüsse von Dekanat, Fachbereichsrat und Präsidium, mit denen die Grundlage für die Stellenverschiebungen geschaffen worden seien, habe die Universität erst im Beschwerdeverfahren mitgeteilt. Deshalb müsse sie auch dessen Kosten tragen, so der Verwaltungsgerichtshof. Für die inhaltliche Entscheidung ausschlaggebend war aber die neue Kapazitätsberechnung. Und die fiel zuungunsten der klagenden Studierwilligen aus.

Hätte die Uni bereits der ersten Instanz die maßgeblichen Unterlagen vorgelegt, wären die Kläger wohl schon im Mai vor dem Verwaltungsgericht gescheitert und hätten sich frühzeitig anders orientieren können, meint Wagner. Er stört sich zudem an der Art, wie den Betroffenen die Exmatrikulation mitgeteilt worden sei: "Anstatt sie persönlich zu informieren, hat die Universität per Einschreiben die Rücknahme der Immatrikulation erklärt. Ein von den Studierenden erbetener Besprechungstermin beim Präsidenten ist verwehrt worden."

Studiendekanin verteidigt Vorgehen der Uni

Annette Becker sagt, sie könne den Unmut der verhinderten Medizinstudenten verstehen. Dass diese sich auf das Studium eingestellt hätten und nun doch den Fachbereich hätten verlassen müssen, sei "schrecklich", meint die Marburger Studiendekanin. Das Vorgehen der Universität jedoch verteidigt sie. Indem die Fakultät Mitarbeiterstellen in den klinischen Teil – etwa in das neue Institut für Systemimmunologie – verlagert habe, setze sie inhaltliche Schwerpunkte und erhöhe die Kapazität für ein komplettes Medizinstudium: Früher habe die Uni auch auf die Vorklinik beschränkte Teilstudienplätze ausgewiesen; das tue sie nun nicht mehr.

Dass die Universität Unterlagen, die ihre Position stützen, erst im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt habe, will die Medizinprofessorin nicht bewerten; hierfür sei die Rechtsabteilung zuständig gewesen. Becker hebt auch hervor, dass sie sich um faire Kommunikation mit den Betroffenen bemüht habe. Grundsätzlich sieht die Studiendekanin Kapazitätsklagen allerdings kritisch: Abiturienten, deren Noten für das Medizinstudium nicht ausreichten, die sich aber einen Anwalt leisten könnten, erlangten dadurch möglicherweise Vorteile gegenüber weniger begüterten Bewerbern.

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Marc Wagners Tochter hat auch die Sachkunde ihres Vaters nichts genützt. Wie der Professor sagt, will die Zwanzigjährige nun eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten absolvieren. Den Traum, eines Tages Ärztin zu werden, habe sie aber nicht aufgegeben.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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