Museumsdirektor Jan Gerchow: Fast zwei Jahrzehnte hat Jan Gerchow das Historische Museum Frankfurt geprägt, es konzeptionell und baulich völlig neu ausgerichtet. Gerne hätte er ihm auch einen neuen Namen gegeben. Ein resümierendes Gespräch zum Ende einer Ära.

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Er habe das Historische Museum "zu einem vitalen Ort für die Selbstverortung und Identitätsfindung der Frankfurter Stadtgesellschaft entwickelt". So begründete die Alfred-Toepfer-Stiftung 2018 die Verleihung des Kairos-Preises an Jan Gerchow. 2005 als Direktor in Frankfurt angetreten, wurde unter seiner Ägide der von vielen Bürgern abgelehnte Sichtbetonbau des Museums abgerissen, die historischen Altbauten wurden saniert und mit zwei Neubauten zu einem Komplex integriert. Die aus den siebziger Jahren stammende, marxistisch inspirierte Dauerausstellung ersetzte Gerchow durch eine moderne Konzeption, die auf die Kraft der Original-Objekte, auf thematische Schwerpunkte und auf neue Formate wie das "Stadtlabor" setzt.

Herr Gerchow, haben Sie sich schon in der Schule für Geschichte interessiert?

Ja, sonst hätte ich es nicht als Studienfach gewählt. Wobei ich eigentlich Bibliothekar oder Archivar werden wollte. Das steht auch als mein Berufswunsch in der Abi-Zeitung.

Nicht unbedingt der typische Traumberuf für einen Achtzehnjährigen.

Ja, vielleicht, aber für mich damals schon. Das liegt auch ein bisschen an meiner räumlichen Herkunft. Ich komme aus Braunschweig, das ist nah an Wolfenbüttel, und somit lag die Herzog-August-Bibliothek vor der Haustür. Mit meinem Großvater und meinen Eltern bin ich dort zu Veranstaltungen gewesen. Als Schüler habe ich sie dann mit Freunden entdeckt. Dort bekam man Bücher zu sehen, die es nicht in der Schule gab. Wir hatten den Ehrgeiz, auch philosophische Literatur zu lesen. Da gab es wahre Schätze.

Wie kamen Sie zur Geschichte?

Das lag wohl auch an meinem Vater. Der war eigentlich Berufsschullehrer, war dann viel in der Erwachsenenbildung tätig und hat sich sehr mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Der NS war ein Thema zu Hause am Küchentisch. In der Schule hatte ich gute Lehrer, die sich auf mein Interesse und in der Oberstufe ein bisschen auch auf meine Widerständigkeit eingelassen haben.

Haben Sie daran gedacht, einmal ein Geschichtsmuseum zu leiten?

Als Schüler noch nicht. Ich war sicherlich noch viel stärker auf Texte orientiert als auf Dinge oder Bilder, die in Museen bearbeitet werden. Das kam dann erst während des Studiums und an der Uni, als ich auch selbst einmal eine Ausstellung gemacht habe. Aber ich komme bis heute ganz stark vom Textlichen her. Der Text ist ja ein eigenes, lineares Medium. Der Text hat einen Anfang und ein Ende und in der Regel auch ein Ziel. Ähnlich wie ein Film. Eine Ausstellung ist dagegen ein räumliches, offenes Medium. Man kann sich die Dinge von verschiedenen Seiten anschauen. Es hängt vom Besucher ab, was man daraus macht.

Für das Historische Museum Frankfurt haben Sie die aktuelle Dauerausstellung konzipiert, die bei der Eröffnung 2017 ein sehr starkes Echo hervorrief. Viele Objekte, zum Beispiel die Stadtmodelle, sprechen für sich, auch ohne schriftliche Erläuterungen. Kann man sagen, dass Sie, der Textfan, als Kurator die Liebe zum Objekt entdeckt haben?

Ja, kann man. Aber das gilt nicht nur für mich, sondern für die ganze Museumswelt. Das Historische Museum bot in der vorherigen, von 1972 stammenden Dauerausstellung sehr, sehr viel Text. Es war ein Buch an der Wand. Die Objekte waren so etwas wie Illustrationen, die in das Textband eingepasst waren. Das hat damals Furore gemacht, das war eine Revolution, denn vorher hatte man vorausgesetzt, dass die bildungsbürgerlichen Museumsbesucher selbstverständlich wissen, was die Taube im mittelalterlichen Tafelbild zu bedeuten hat. Die tiefe Kontextualisierung der Siebzigerjahre, die vielen Texte sind aber auch von Anfang an auf Ablehnung gestoßen.

Als Sie 2005 die Leitung des Museums übernahmen, geschah das mit dem Auftrag, eine neue Dauerausstellung zu konzipieren. Kam der Wunsch, wieder mehr originale Objekte zu präsentieren, von außen, oder entsprach das Ihren Vorstellungen?

Für mich war klar, dass das räumliche Erlebnis Museum im Wesentlichen von den Objekten und nicht von den Texten lebt. Und da haben wir, glaube ich, ein besonderes Verfahren gefunden. Das nennen wir Objektbilder. Wir haben die Fülle der Objekte zu großen Raumbildern geformt. Zum Beispiel bildet "100 × Frankfurt" eine 50 Meter lange Strecke, auf der man sozusagen durch die Vitrinen hindurchguckt und 800 Jahre Stadtgeschichte in einer Überlagerung von Objekten sieht. Oder die Porträtwand in "Frankfurt einst" – das ist nicht nur einfach ein Bild nach dem anderen an einer Wand, sondern eine Anordnung, die einen eigenen Raum schafft.

Es geht um sinnliche Erlebnisse?

Ja, aber auch um einen interpretatorischen Ansatz, man soll dadurch auch etwas verstehen, wie bei dem Münzbild, unserer großen Münzauslage. Das ist ja sozusagen eine begehbare Karte des Alten Reichs und seiner Territorien.

Als die von Ihnen konzipierte Ausstellung eröffnet wurde, gab es dafür Lob und Auszeichnungen, aber auch harte Kritik. Zu unübersichtlich, zu ambitioniert, hieß es. Viele Besucher haben die Chronologie vermisst. Wie sehen Sie das heute, sieben Jahre danach?

Ich glaube, die Konzeption hat sich bewährt. Es stimmt auch nicht, dass wir keine Chronologie hätten. Bei den einzelnen Themen gibt es immer wieder eine Timeline. Aber wir wollten die Themen in den Vordergrund stellen, und das würde ich heute wieder so machen. Es geht doch darum, Frankfurt als Stadt von anderen Städten zu unterscheiden. Wenn man nur nach Epochen geht, dann kommt man halt zu Luther, zu Bismarck, zu Hitler. Das ist dann quasi die Chronologie der deutschen Geschichte. Aber über die historisch verwurzelte Eigenart der Stadt erfährt man nicht viel.

Was ist die Eigenart von Frankfurt?

Frankfurt ist über 800 Jahre, also seit der Stadtwerdung im Hochmittelalter, eine Kombination aus Stadt und Republik. Keine Residenz, kein Fürstenort, sondern eine Bürgerrepublik. Bis heute ist Frankfurt keine Bundes- oder Landeshauptstadt, nicht einmal Sitz eines Regierungspräsidiums. Wenn sich ein Merkmal so lange durchzieht, dann kann man schon von einer Eigenart sprechen.

Das Museum behandelt diese Besonderheit unter dem Stichwort "Bürgerstadt". Weitere Themenfelder sind "Geldstadt" und "Weltstadt".

Die Entwicklung des Finanzplatzes zieht sich seit den Messen im 13. Jahrhundert durch die Frankfurter Geschichte. Die dritte Eigenart, die wir thematisieren, ist es, in der Mitte angesiedelt, ein Knotenpunkt zu sein, etwa was Verkehr und Kommunikation angeht. Diese drei Qualitäten unterscheiden Frankfurt von Städten wie Mannheim oder Nürnberg.

Gibt es dennoch Städte, die Frankfurt ähneln? Vielleicht Leipzig, das ja auch eine Messe- und Verkehrsstadt ist? Oder Hamburg, was die Eigenschaften als Bürger- und Weltstadt betrifft?

Es gibt Gemeinsamkeiten, aber immer fehlt ein Aspekt. Leipzig hat nie einen Finanzplatz von Rang entwickelt. Hamburg hat keine gesamtdeutsche politische Rolle gespielt, war nie Hauptort des Deutschen Reichs, sondern hat eher für sich gestanden.

Mit der Neukonzeption verband sich der Anspruch an das Museum, den Besuchern nicht mehr nur eine Art dreidimensionales Lehrbuch zu bieten, durch das sie hindurchwandeln können. Die Bürger sollten aktiv teilnehmen, sich einbringen können. Partizipation war das Stichwort. Ist das gelungen?

Das kann ich vielleicht selbst gar nicht so richtig beurteilen. Aber ich kann in jedem Fall sagen, dass unser "Stadtlabor", mit dem wir ja schon 2010 begonnen haben, innerhalb der deutschsprachigen Museen ein Leitprojekt geworden ist, auf das sich viele beziehen. Es geht darum, das Alltagswissen der Menschen, ihre persönliche Perspektive auf die Stadt einzubinden. Wir haben jetzt 16 Stadtlabor-Ausstellungen realisiert mit kleineren und größeren Gruppen und ganz unterschiedlichen, auch historischen Themen. Dabei haben wir uns in einer neuen Rolle kennengelernt. Im Stadtlabor sind wir keine Kuratoren, sondern Moderatoren und Koordinatoren.

Kann sich die Institution Museum mit dieser Aufgabe auch überfordern? Ich erinnere mich an das Stadtlabor zum Thema Rassismus, an dem sehr kämpferische Gruppen mit politischer Agenda teilgenommen haben.

Das Rassismusprojekt ist, glaube ich, untypisch. Das ist für uns auch ein Experiment gewesen, was wir so bisher nicht wiederholt haben. Das war das einzige Projekt, für das wir ausschließlich mit Aktivisten zusammengearbeitet haben. Es gab auch innerhalb der Gruppen heftige Diskussionen und Wahrnehmungskonkurrenzen. Also, das haben wir mal ausprobiert, vielleicht können wir es bei einem anderen Thema wieder versuchen.

Nach mehr als 19 Jahren an der Spitze des Museums gehen Sie nun in den Ruhestand. Was war die erfolgreichste Ausstellung Ihrer Amtszeit?

Das war – es ist komisch, das zu sagen, weil ich sie selbst kuratiert habe – die Ausstellung mit den Frankfurt-Fotografien von Barbara Klemm. Wir haben 60.000 Besucher gehabt und sogar eine zweite Auflage des Katalogs gedruckt, was wir sonst nie machen. Das freut mich natürlich, aber es liegt sicherlich mehr an Barbara Klemm als an mir.

Und was war die wichtigste Ausstellung?

Das würde ich zwei nennen, die ich eng begleitet habe. Das ist die Achtundsechziger-Ausstellung, die 2008, als sich die Studentenrevolte von 1968 zum vierzigsten Mal jährte, die bundesweit einzige nennenswerte Ausstellung zum Thema gewesen ist. Vielleicht noch wichtiger war "Vergessen – Warum wir nicht alles erinnern" von 2019. Es ging sozusagen um das Gegenteil von dem, was normalerweise die Aufgabe eines Museums ist. Wir haben das Vergessen einerseits als Frankfurter Thema behandelt – Alzheimer hat hier gearbeitet, die Psychoanalyse ist hier beheimatet, es gibt Einrichtungen wie das Fritz-Bauer-Institut –, aber es war andererseits eine Ausstellung ohne räumliche Beschränkungen.

Ist das nicht generell der Anspruch eines so großen Stadtmuseums: vom Lokalen aufs Allgemeine zu kommen?

Ja, so muss man es denken. Zum Beispiel bei "Damenwahl", der Ausstellung über 100 Jahre Frauenwahlrecht, die von Frankfurt ausgeht, aber weit darüber hinausreicht. Wichtig war auch die NS-Ausstellung 2021. Frankfurt war exemplarisch, eine von vielen Städten im Nationalsozialismus, auch wenn man später behauptete, man habe damit eigentlich nicht viel zu tun gehabt.

Wäre sie nicht in die Corona-Zeit gefallen, hätte die NS-Ausstellung vermutlich mehr Besucher gehabt. Hat sich das Museum inzwischen von der Pandemie erholt?

Vor Corona hatten wir einen sehr hohen Anteil an internationalen Besuchern, gerade aus den USA und aus Asien. Da sind wir noch nicht wieder auf demselben Niveau. Letztes Jahr hatten wir insgesamt 153.000 Besucher, vor der Pandemie waren es 180.000. Wir merken die Auswirkungen stärker als Museen, die wie zum Beispiel das Städel stärker regional ausgerichtet sind. Die haben auch Besucher von außerhalb, aber nicht zu so einem hohen Anteil wie wir. Außer uns ist in Frankfurt nur das Goethehaus ähnlich abhängig vom internationalen Tourismus.

Das vermutet man nicht unbedingt. Ein Stadtmuseum hat doch ein engeres Profil als ein Museum für bildende Kunst.

Ja, aber die Leute, die nach Frankfurt kommen, interessieren sich eben genau für die Stadt, in der sie sind. Gemälde können überall hängen, aber ein Frankfurt-Museum gibt es nur hier.

Müsste das Historische Museum dann nicht auch so heißen: Frankfurt Museum? Damit jeder weiß, dass es nicht um Geschichte allgemein, sondern eben um Frankfurt geht?

Genau das wollte ich, als wir den Neubau errichtet haben: Ich wollte das Museum umbenennen, 2016 wäre der Moment gewesen. Aber das war politisch nicht gewünscht.

Wieso?

Die CDU fürchtete, dass mit dem Titel Frankfurt Museum eine Art allgemeiner Anspruch verbunden wäre. Wir sollten uns um die Geschichte kümmern und nicht um die Gegenwart oder die Zukunft. Ich muss sagen, ich bin mittlerweile nicht unglücklich mit dem Namen Historisches Museum. Denn natürlich sind wir auch ein großes Fachmuseum für Geschichte. Und wir verwenden "Das Frankfurt Museum" als Claim. Das funktioniert ganz gut.

Wir haben über die konzeptionelle Neuausrichtung in Ihrer Amtszeit gesprochen. Das andere, damit eng verbundene und mindestens ebenso beachtete Großprojekt war der Museums-Neubau.

Die Planung begann schon 2004, und ich war von Anfang an eingebunden. Damals stand noch die Sanierung des alten Betonbaus im Raum. Es hat sich aber gezeigt, dass dies sehr aufwendig und im Ergebnis nicht überzeugend gewesen wäre. Also entschieden wir uns für den Neubau, der spätestens 2014 fertig sein sollte. Es hat dann bis 2017 gedauert.

Die Architektur von Lederer Ragnarsdóttir Oei ist dafür gelobt worden, dass sie dem historischen Ort zwischen Römerberg und Mainufer gerecht wird. Hat sich der Bau auch aus Sicht der Nutzer bewährt?

Die Architektur interpretiert die historische Stadt auf eine moderne Art und Weise, ohne sie zu brechen. Es war klar, dass es funktional nicht so einfach wird. Wir mussten fünf komplexe Altbauten und zwei neue Häuser integrieren. Aber ich glaube, wir haben aus der Not eine Tugend gemacht. Für die Besucher ist das Museum wie ein kleines Stadtquartier. Sie sind neugierig und können überall etwas entdecken. Es stecken viele kleine Ausstellungseinheiten in diesem Gebäude, und das wird auch so akzeptiert.

Nehmen wir einmal an, Sie dürften zum Abschied ein Objekt mitnehmen– welches würden Sie wählen?

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Das ist eine schöne Frage. Ich würde vielleicht zurück auf meine anfängliche Buchleidenschaft kommen. Es gibt im Museum ein Druck-Erzeugnis, das eine runde Form hat: den Globus von 1515. Es ist der zweitälteste erhaltene Globus überhaupt und zeigt als erster Amerika. Es ist ein ganz besonderes Objekt an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. So etwas kann man natürlich nicht mit nach Hause nehmen. Aber wenn es ginge, würde ich es tun.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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