Alle Jahre wieder: Zum 24. Dezember strebt die christliche Welt in den Heimathafen. Das innere Navi folgt dem Duft von Gänsebraten und der Schnappatmung Beschenkter.
Das Ziel ist eine kaum erreichbare Weihnachtsidylle. Eine Gebrauchsanweisung für ein zufriedenes Fest.
Darf man seinen Liebsten sagen, wenn einem das Geschenk nicht gefällt?
Kommt drauf an. Steht nicht zu befürchten, dass man von derselben Person noch einmal beschenkt wird, kann man es lassen. Bei allen anderen sollte einem klar sein, dass einmal geheuchelte Ekstase auch zu weiterer geheuchelter Ekstase verpflichtet. Das kann den Schenker in eine völlig falsche Richtung führen und sich auf Dauer wie Mehltau auf Beziehungen legen. Frauen etwa, die zu Beginn einer Beziehung schon über ein paar Serviettenringe vom Kaffeeröster außer sich gerieten, mindern so empfindlich ihre Chancen auf einen exquisiten Duft, eine Wochenendreise oder einen Tanzkurs.
Und von Kindern, die noch mit 14 Jahren für ein in fünf Minuten hingekritzeltes Bild von Oma und Opa, Onkel und Tante beklatscht werden, als habe sich da gerade ein neuer Picasso offenbart, kann man vermutlich auch mit achtzehn kaum einen qualifizierten Geschenk-Beitrag erwarten. Im Interesse aller sollte man durchaus sagen, wenn das Geschenk sehr danebenliegt. Nicht ohne sich für die Mühe zu bedanken.
Das ist sehr viel freundlicher, als jemanden quasi ständig in dasselbe offene Messer rennen zu lassen, um ihm dann in einer Krise später die Rechnung zu präsentieren: "Übrigens, du wusstest noch nie, was ich mir wünsche!" Wenn er oder sie es nicht ohnehin vorher schon daran merkt, dass Dinge einfach verschwinden, nie genutzt, nie getragen werden. Man will nicht wirklich jedes Mal, wenn die Schwiegermutter kommt, die ganze Wohnung mit dem Nippes früherer Weihnachten durchdekorieren. Bloß weil es niemand über das Herz brachte, ihr gleich beim ersten Salzteig-Türkranz zu sagen, dass man fast lieber ein Bild von Dieter Bohlen aufhängen würde.
Geben Sie Ihren Lieben also eine Chance auf echte Freude. Verteilen Sie großzügig Hinweise. Sehr gern mit Adressen. Etwa die der beiden Frankfurter Buchhandlungen "Bergen erlesen" (Schelmenburgplatz 2) und "Sachsenhausen erlesen" (Lokalbahnhof). Inhaberin Anna Doepfner und ihre Mitarbeiter geben nicht nur online wunderbare Tipps – etwa mit der Rubrik "Geschenke nach Zielgruppen".
Kann ich den Weihnachtsgottesdienst besuchen, obwohl ich nicht mehr in der Kirche bin?
Das ist so eine Kinderangst: Man betritt die festlich geschmückte Kirche, und sofort schrillt der "Hier will ein Nichtmitglied Weihnachtsstimmung schnorren"-Alarm los, und alle gucken. Das wird nicht passieren. Natürlich bleibt da immer noch der innere Moralwächter, der einem zusetzen könnte. Zur Beruhigung könnte man ihm sagen, dass die Kirchen jährlich mehr als 500 Millionen Euro an sogenannten Staatsleistungen erhalten. Da sollte schon mal ein Kirchenbesuch für einen einfachen Steuerzahler drin sein.
Aber es ist Weihnachten, da will man weder in die eine noch in die andere Richtung aufrechnen. Worum es sonst noch so an Weihnachten geht, erfährt man dann außerdem im Gottesdienst, wenn aus der Bibel, Lukas 2,1–20, vorgetragen wird. "Der wichtigste Text, der je verfasst wurde", sagte Martin Walser einmal. Und dass er beeindruckt sei vom "Mut der Verkündigung": "Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."
"Das gilt allen Menschen und nicht nur den Mitgliedern einer Kirche. Deswegen freuen wir uns über alle, die an Weihnachten unsere Gottesdienste besuchen", sagt der evangelische Stadtdekan von Frankfurt und Offenbach, Holger Kamlah. "Die Kirchenmitgliedschaft ist keine Eintrittskarte, sondern, der Name sagt es schon, eine bewusste Mitgliedschaft und damit Unterstützung. Unsere Kirchen, aber auch andere soziale und kulturelle Angebote, stehen den Menschen zur Verfügung, ohne dass wir sie nach ihrem Glauben fragen." Fühlen Sie sich also eingeladen.
Termine für Weihnachtsgottesdienste der Evangelischen und der Katholischen Kirche Frankfurt finden sich im Internet unter christliches-frankfurt.de.
Müssen die Schwiegereltern, Tanten und Onkel zwingend mit unter dem Weihnachtsbaum sitzen?
Weihnachten ist nun mal das Fest der nächsten Menschen. Und somit eine der ohnehin zunehmend rarer werdenden Gelegenheiten, seinen Sozial-Muskel zu trainieren. Eines der letzten Übungsfelder für Nächstenliebe, Freundlichkeit, Familiensinn, Großmut und die Erkenntnis, dass zu Beziehungen und ihrer Pflege immer auch ein gehöriges Maß an Zähnezusammenbeißen und "einfach mal die Klappe halten" gehören. Weihnachten ist die gelebte Antithese zur zunehmend verbreiteten Haltung: "Beziehungen? Nur zu meinen Bedingungen!"
Der Deal geht nämlich so: Die Nachsicht, die man jetzt braucht – für Onkel Ludwigs mäßige Witze und für Cousine Gisela, die einem gerade ein Armband aus den ausgebürsteten Haaren ihres Hundes geschenkt hat (mit einer Geste, als hätte sie einem gerade den Hope-Diamanten überreicht) –, die benötigt man ja selbst dringend. Spätestens in ein paar Jahren.
Wenn man Gespräche über Vorhofflimmern, Blasenschwäche oder Bluthochdruck so abendfüllend finden wird wie jetzt Tante Erika. Natürlich gibt es Grenzen. Die verlaufen exakt dort, wo jemand sich selbst etwa mit fortgeschrittenem Gemecker – die Gans zu fett, der Braten zu trocken, das Kind nicht bibelfest, das Fest sowieso bloß eine Zumutung – selbst für die Teilnahme disqualifiziert.
Ansonsten gilt als Überlebenshilfe: Laden Sie nicht nur Ihre Schwiegereltern, sondern auch noch die Single-Freundin, den allein lebenden Nachbarn ein. Je mehr Menschen an der Tafel sitzen, umso eher versenden sich die kleinen Macken und Marotten, umso schöner klingt es, wenn man gemeinsam Weihnachtslieder singt.
Müssen alle auf Ente oder Gans verzichten, wenn sich Veganer unter den Gästen befinden?
Praktisch wäre es schon. Bevor man anfängt, für jeden eine Extrawurst zuzubereiten, und sich der ganze Aufwand noch einmal mehr potenziert. Auf der anderen Seite gehört Fleisch wie Tanne oder Geschenk nun mal für viele zu den wichtigsten Ausstattungsmerkmalen des Festes. Außerdem: Liegt nicht der Witz bei Ritualen in der zuverlässigen Unabänderlichkeit? Andererseits haben wir es auch geschafft, uns aus gesundheitlichen und Umweltgründen vom Lametta zu verabschieden.
Die Lösung liegt deshalb mal wieder im goldenen Mittelweg. Bieten Sie den Veganern Mitarbeit in der Küche an. Sie sind meist ohnehin die Profis im Zusammenstellen raffinierter Gerichte ohne jedwedes Tierische. Vielleicht wird ja so Überzeugungsarbeit geleistet. Alternativ findet man in der Kleinmarkthalle etwa bei Natural Floor auch noch am 23. Dezember köstliche Salate und schon vorbereitete Gerichte wie Kartoffel-Fenchel-Auflauf mit frischen Tomaten. Arbeitssparend ist es allemal, und so kann man auch mit Auberginenschiffchen oder Mango-Karotten-Salat Frieden unter der Tanne schaffen.
Sollte die vegane Cousine trotz allen Entgegenkommens ausgerechnet in froher Festtagstischrunde ihre Einstellung zum "Aasfressen" verkünden wollen, erinnern Sie daran, dass es Schlimmeres gibt als eine Biogans auf dem Teller. Zum Beispiel Smalahove, das Weihnachtsessen der Westnorweger: geräucherte Köpfe von Lamm oder Schaf. Oder Mattak, ein typisches Festtagsmahl in Grönland. Walhaut, an der noch ein gutes Stück wabbeliges Fett hängt. Aber es ist Weihnachten. Da sollte moralisierender Eifer ebenso draußen bleiben wie die ohnehin flauen Veganerwitze.
Sollte man Kindern nicht möglichst früh die Wahrheit sagen: Dass nicht der Weihnachtsmann oder das Christkind, sondern Amazon, Zalando und Oma die Geschenke bringen?
Vergangenes Jahr baten uns unsere Nachbarn, am 24. Dezember in ihre Wohnung zu gehen, während sie mit ihrer Siebenjährigen einen Spaziergang machten. Das Mädchen habe Zweifel an der Existenz eines himmlischen Gabenbringers. Um Gewissheit zu erlangen, hatte das Kind dem Weihnachtsmann einen Brief geschrieben. Sie wolle ja sehr gern an ihn glauben. Aber einen Beweis müsse sie schon haben. Am Briefende gab es ein Kästchen, das der Weihnachtsmann ankreuzen solle, wenn es ihn denn gebe. Außerdem hatte sie aus Sorge, der Weihnachtsmann könne das Misstrauen persönlich nehmen, ein paar Kekse und ein Glas Milch für ihn bereitgestellt.
Wir gingen also wie verabredet in die Wohnung. Aßen ein paar Kekse, tranken einen Schluck Milch, machten einen Haken im Kästchen und bedankten uns schriftlich für die Stärkung. Gezeichnet: Weihnachtsmann! Der Nachbar erzählte später, wie ungemein erleichtert seine Tochter gewesen sei. Ja, es ist ein Kinderglück, an himmlische Gabenbringer glauben zu können.
Ob nun der Weihnachtsmann oder das Christkind. Und zwar im dafür richtigen Alter. Also zu jung für den Weihnachtsmann-Realitäts-Check, den Rod Morgan vom US State Department einmal angestellt hatte: Sollte jedes Kind nur ein mittelgroßes Lego-Set bekommen und nicht noch ein Puppenhaus, ein Fahrrad, einen Schlitten, ein Smartphone, Fußballschuhe, eine Spielkonsole, wäre der Schlitten des Weihnachtsmanns mit 378.000 Tonnen beladen. Netto, also ohne den Weihnachtsmann.
Um einen solchen Schlitten zu bewegen, bräuchte es aber 216.000 Rentiere. Das erhöhte das Gewicht – den Schlitten selbst noch nicht einmal eingerechnet – auf 410.400 Tonnen. Um alle Christenkinder weltweit in 31 Stunden zu beliefern, müsste der Schlitten mit 1040 Kilometern in der Sekunde fliegen. Der Luftwiderstand, der dabei erzeugt würde, würde die Rentiere aufheizen "wie ein Raumschiff, das in die Erdatmosphäre eintritt".
Das vorderste Paar Rentiere "muss dadurch 16,6 Trillionen Joule Energie absorbieren. Pro Sekunde. Jedes. Anders ausgedrückt: Rudolf würde praktisch augenblicklich in Flammen aufgehen, und innerhalb von fünf Tausendstelsekunden wären auch alle anderen Rentiere vaporisiert.
Der Weihnachtsmann würde währenddessen einer Beschleunigung von der Größe der 17.500-fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt und so mit einer Kraft von 20,6 Millionen Newton an das Ende seines Schlittens genagelt. Kurz: Ginge es nach den Naturwissenschaften, hätte er höchstens einem und längst nicht allen Kindern Geschenke gebracht. Rufen Sie am 24. Dezember also lieber die Seite noradsanta.org auf. Dort kann man jedes Jahr von drei Uhr morgens nordamerikanische Ortszeit an für 24 Stunden die Route des Weihnachtsmannes verfolgen.
Wäre es nicht besser, Weihnachten einfach zu streichen?
Ein Fünftel aller Deutschen würde laut einer Umfrage das Fest am liebsten abschaffen. Nicht ahnend, damit selbst Teil eines urweihnachtlichen Brauchtums zu sein. Die Ablehnung des Festes hat schließlich eine genauso lange Geschichte wie Weihnachten selbst. Von Anfang an ganz vorn im Chor der Kritiker ausgerechnet jene Institutionen, denen wir ja überhaupt den ganzen Rummel verdanken: die Kirchen selbst.
Stets ging den Katholiken die angebliche Profanisierung des Festes zu weit. Den Lutheranern widerstrebte dagegen das heilige Tamtam, das die Katholiken darum machten. Später lehnten die Kommunisten das Fest dann schon wegen seiner christlichen Wurzeln und überhaupt die ganze Religion als "Opium für das Volk" ab. Auch die Nationalsozialisten bekämpften das Fest. Es sollte einfach keinen Gott neben dem "Führer" geben.
Ganz zu schweigen von Weihnachtsqualitäten wie Nächstenliebe und Großmut, die nicht im Sinne von Leuten liegen konnten, die sich hauptberuflich mit Länderüberfallen und Massenmord beschäftigten. Später war der Studentenbewegung das Fest Synonym für ein einziges Unter-den-Teppich-Kehren von Schuld und Verantwortung. (Letztlich aber wurde sogar in der Kommune II ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Der Kinder wegen.)
Klar sollte man das Fest auch heute unbedingt kritisch sehen. Schon um sich und den Seinen den ganzen Ballast aus Verpflichtungen, Erwartungen, Perfektionsdruck zu ersparen, der alles erdrücken kann, was an Weihnachten so schön ist, lebendig, wunderbar. Aber man muss sich auch fragen, ob die Weihnachtsabneigung nicht einfach bloß eine Trägheit des Herzens kaschiert.
Eine Unlust, Zeit und Energie in andere zu investieren, anstatt auf Netflix die aktuelle Lieblingsserie weiter zu streamen. Um am Ende bloß Teil einer neuen Religion zu sein, deren erstes Gebot lautet: "Einen Scheiß muss ich". Eine, die 365 Tage im Jahr nur eines feiert: die Erfüllung der eigenen, unmittelbaren Bedürfnisse und als Erstes immer fragt: "Und, was hab ich davon?" Weihnachten ist sozusagen die Antithese zu alldem.
Der Markenkern des Festes liegt ja überall dort, wo wir an andere denken, uns einander zuwenden. In Wirklichkeit, nicht auf Social Media. Wo wir für andere da sind, anerkennen, was sie für uns sind. Wenigstens einmal im Jahr. Deshalb geben wir Paketboten und Hausmeistern, Müllmännern ein natürlich üppiges Trinkgeld. Deshalb finden sich im Nachbarschaftsportal nebenan.de Aufrufe wie "Wer möchte Heiligabend bzw. Weihnachten nicht alleine sein?
Ich biete Heiligabend die Fahrt und Begleitung zum Frankfurter ‚Glockengeläut‘ auf dem Römerberg und/oder zum Gottesdienst bzw. Christmette an." Deshalb serviert die 32 Jahre alte Tochter einer Freundin einer Seniorin am 24. ein komplettes Weihnachtsmenü in deren Wohnung im Pflegeheim. Und deshalb darf Weihnachten niemals und auf keinen Fall gestrichen werden. Wir sollten uns nur dann und wann einmal wieder daran erinnern, worum es dabei eigentlich geht. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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