Filmfestival Exground: Flucht und Vertreibung stehen im Fokus des 37. Wiesbadener Filmfestivals. Es sind packende Geschichten dabei und Highlights, die kurz vor dem offiziellen Kinostart laufen.
Es sind verstörende Bilder, jedenfalls auf den ersten Blick. Eine Schwangere, die raucht und regelmäßig Crystal Meth konsumiert, ist ein herzzerreißender Anblick. In dem Milieu, in dem Jenny sich bewegt, ist das alles kein Thema. Als sie, weit fortgeschritten in der Schwangerschaft, vom Jugendamt eine Hebamme zugewiesen bekommt, der sie erst zögerlich erlaubt, sie zu untersuchen, schlägt das Herz des ungeborenen Kindes, das gegen die Vergiftung kämpft, so rasend schnell, dass es in Jenny arbeitet. Sie geht schrittweise eine Veränderung an.
Der Regisseurin Chiara Fleischhacker, die auch das Drehbuch zu ihrem Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg selbst geschrieben hat, ist ein ungeheuer genauer Blick auf die Lebenswelt einer jungen Mutter gelungen, deren Bedingungen alles andere als optimal sind. Im Grunde erzählt sie vom Alltag, aber von einem, dessen knallbunte Accessoires das Düstere, Prekäre umso deutlicher hervortreten lassen. Jenny, die ihren kleinen Sohn bei ihrer Mutter aufwachsen lässt, lebt mit dem ebenfalls schwer drogenabhängigen Bolle zusammen, Emma Nova als Jenny und Paul Wollin als Bolle spielen zwei Liebende, die einander gern gut sein wollen, aber es nicht schaffen. Als Jenny ins Gefängnis kommt, wird ihr die neugeborene Tochter weggenommen. Man hofft unweigerlich mit ihr, dass das nicht für immer so sein werde am Ende von "Vena".
Fleischhacker, die 1993 in Kassel geboren wurde und deren Film unter anderem vom Hessischen Rundfunk koproduziert worden ist, hat lange recherchiert für ihr Debüt, hat Frauen kennen gelernt, deren Biographien sich in der Figur der Jenny niederschlagen. Und sie erzählt von Schwangerschaft und Geburt auf eine intensive, packende Weise.
Am 28. November kommt "Vena" in die Kinos – nur einer von schon jetzt mit Lob und Preisen bedachten Filmen, der vor seinem Leinwandstart auf dem Filmfestival Exground in Wiesbaden läuft. Wie stets bietet die Reihe "Made in Germany" Entdeckungen, was erst recht für die besonders traditionsreiche Festivalsektion der "American Independents" gilt, die in der 37 Ausgaben langen Geschichte von Exground immer wieder besondere Filme und solche, die einen langen Nachhall gehabt haben, gezeigt hat.
Nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl werden die liberal und kritisch geprägten Filme, die dort versammelt sind, noch einmal in einem ganz besonderen Fokus stehen. Unter den amerikanischen Beiträgen findet sich auch die japanisch-amerikanische Produktion "Black Box Diaries", in der Regisseurin und Protagonistin Shiori Ito nicht nur erzählt, wie sie als junge Journalistin in Japan 2015 von einem älteren und bestens in die Politik vernetzten Kollegen vergewaltigt worden ist – sondern auch, wie es dann weiter ging. Ito ist zu einer Stimme der japanischen Frauen geworden in einem Land, in dem Vergewaltigung ein Tabuthema ist, das kaum juristisch verfolgt wird. Ein Film, der weit über das Schicksal Itos hinausweist.
Auch die 37. Ausgabe des Festivals für unabhängigen Film, die insgesamt gute 200 Lang- und Kurzfilme aus 49 Ländern zeigen wird, zum Teil neben den Wiesbadener Kinos auch im Frankfurter Kino Pupille, beweist wieder ein Händchen für Highlights. Das ist auch bei "Emilia Pérez" von Jacques Audiard so, der beim Filmfestival in Cannes den Jurypreis gewonnen hatte und in Wiesbaden in der Reihe "European Cinema" laufen wird.
In Cannes und auf anderen Festivals für Furore gesorgt hat auch der Eröffnungsfilm "L’ histoire de Souleymane" von Boris Lojkine. Abou Sangaré, der Souleymane spielt und ihm sogar seinen Nachnamen leiht, ist selbst 2017 in einer abenteuerlichen Odyssee aus seiner westafrikanischen Heimat Guinea nach Frankreich gekommen. Er hat eine Lehre als Mechaniker gemacht und ist für den Film gecastet worden. Das, was er spielt, kennt er genau, auch sein Antrag auf Legalisierung ist zunächst abgewiesen worden. Aber er hat nicht lockergelassen. Als Souleymane rast er, ein Essenslieferant auf dem Rad, in halsbrecherischen Fahrten gegen die Uhren seiner Kunden – und gegen die seines Termins beim Ausländeramt. Der ungeheure Druck, den Einsamkeit, Geldnot, Abhängigkeiten, die Erfindung einer plausiblen Fluchtgeschichte erzeugen, wird in den Bildern beklemmend spürbar.
Auch die kleine Gruppe, die sich auf die lange Balkanroute macht in "The Landscape and the Fury" der Schweizerin Nicole Vögele, kommt den Zuschauern ungeheuer nahe in den mehr als zwei Stunden, die sich der Film Zeit nimmt, die Migranten zu begleiten. Denn der Fokus des diesjährigen Festivals ist "Flucht und Vertreibung", an der Motivation lässt das Vorwort der Festivalleitung keinen Zweifel. Der "extrem nach rechts verschobene Diskurs" zur Migrationspolitik, so heißt es da, sei "ein Ergebnis von Ressentiments und Rassismus der ‚bürgerlichen Mitte‘ und der Parolen der Mächtigen". Die zehn Filme im Fokus zeigen ein breites Bild, von Seenotrettung über den Ukrainekrieg bis zu Robin Vanbesiens Film "Hold on to Her" über die Folgen, die der Tod eines zwei Jahre alten Mädchens zeitigt, das stirbt, als die Polizei einen illegalen Flüchtlingstransport stoppt. Zwei Ausstellungen, Vorträge und weitere Vorträge begleiten die Reihe. Überhaupt wird es zahlreiche Gelegenheiten zum Gespräch gehen, und auch der Spaß soll, mit beliebten Quizformaten, trotz der ernsten Themen der Zeit nicht zu kurz kommen.
Exground Filmfestival, von 15. bis 24. November, Caligari und Murnau Filmtheater Wiesbaden, Nachspieltermine im Pupille Kino Frankfurt, Begleitprogramm im Nassauischen Kunstverein, der Krypta der Marktkirche und der Mauritius Mediathek. Informationen unter exground.com. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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