Tiefe Bohrung: In der Antarktis suchen europäische Forscher nach den Ursachen für einen mysteriösen Temperaturrückgang vor einer Million Jahren. Die Erkenntnisse sollen auch dabei helfen, die aktuelle Erderwärmung besser zu verstehen.
Wer uralte Rätsel lösen will, muss tief bohren. Für Pascal Bohleber und seine Kollegen aus zehn europäischen Ländern gilt das im Wortsinn. Jeden Tag bekommt Bohleber ein kurzes Memo über den Stand des Projekts "Beyond EPICA – Oldest Ice". Dessen Hauptschauplatz ist ein Ort namens "Little Dome C", mitten in der Antarktis gelegen, Jahresdurchschnittstemperatur minus 52 Grad Celsius. Der Eispanzer, der über dem Gestein des Kontinents liegt, hat dort eine Dicke von mehr als 2700 Metern. In ihn dringen die Wissenschaftler derzeit mit schwerem Gerät ein. "Die Bohrung ist jetzt bei knapp 2100 Metern Tiefe angelangt", berichtet Bohleber. "Jetzt kommen wir hoffentlich in die Schichten, um die es uns geht."
Das Eis knapp über dem felsigen Grund, für das sich der Glaziologe interessiert, könnte bis zu 1,5 Millionen Jahre alt sein. Aus Sicht der Forscher ist es ein natürliches Archiv, das helfen könnte, die Ursachen einer einschneidenden Klimaveränderung in prähistorischer Zeit aufzuklären – und besser zu verstehen, was in Zeiten des menschengemachten Klimawandels mit der Atmosphäre geschieht. Seine Erkenntnisse hierzu wird Bohleber, Senior-Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, künftig mit Kollegen und Studenten der Goethe-Universität teilen. Gerade hat der 1981 geborene Physiker dort eine Kooperationsprofessur angetreten; er wird in Frankfurt Lehrveranstaltungen für angehende Geowissenschaftler anbieten und mit Forschern des Fachbereichs zusammenarbeiten.
Unter Fachleuten ist das Rätsel, dem sich das "Oldest Ice"-Projekt widmet, als Mittelpleistozän-Übergang bekannt. Bis vor etwa einer Million Jahren kam es auf der Erde ungefähr alle 40.000 Jahre zu einer Eiszeit, bei der die Pole mit einer – damals verhältnismäßig dünnen – Eiskappe überzogen wurden. In den wärmeren Zwischenphasen taute das Eis zumindest in der Arktis weitgehend weg. Dann aber verlängerte sich die Periode der Eiszeiten auf etwa 120.000 Jahre, gleichzeitig wurde es insgesamt kälter.
Derzeit ist unklar, was diese Abkühlung verursacht hat. "Wir wissen, dass sich die Erdumlaufbahn um die Sonne in dieser Zeit nicht verändert hat", erklärt Bohleber. "Es muss sich also etwas Fundamentales im Klimasystem selbst umgestellt haben. Vulkanausbrüche dürften eher nicht die Ursache sein, sondern komplexe Rückkopplungen im Erdsystem, die zu größeren Eisschilden führen."
Suche nach aufschlussreichen Verunreinigungen
Welche Rückkopplungen das waren, könnten die Bohrkerne verraten, die die europäischen Forscher gerade in der Antarktis gewinnen. Die aus immer tieferen Schichten ans Tageslicht beförderten Eissäulen werden in etwa einen Meter lange Stücke zersägt, tiefgekühlt nach Europa verschifft und den an "Beyond EPICA" beteiligten Instituten zugeteilt. Im Lauf des nächsten Jahres sollen die ersten Proben in den Laboren eintreffen.
Bohlebers Arbeitsgruppe wird in dem Eis nach Verunreinigungen suchen, die Aufschluss über die Gründe des vorgeschichtlichen Klimawandels geben können. Die Methode der Wahl ist hierbei die Massenspektrometrie, mit der sich verschiedene chemische Elemente anhand ihrer Masse identifizieren lassen. Mit dem Verfahren kann auch die Menge bestimmt werden, in der die Elemente in der Probe vorkommen.
"Weltweit einzigartige Apparatur in Frankfurt"
An der Uni Frankfurt ist Wolfgang Müller ein Spezialist für solche Analysen. Er wird deshalb mit Bohleber eng zusammenarbeiten. Müller, Professor für Geologie und Paläoumweltforschung, hat bisher unter anderem Eisbohrkerne aus Grönland untersucht. Er nutzt dafür eine Apparatur, die nach Angaben der Goethe-Uni weltweit einzigartig ist: ein sogenanntes Cryo-Laser-Ablationssystem, das mit einem Massenspektrometer kombiniert wird. Es beschießt die Eisprobe mit Laserstrahlen, um feinste Schichten von ihr abzusprengen und bei der Analyse der Elemente eine hohe Auflösung zu erzielen. "Die vergangene Zeit wird im Bohrkern nicht linear dargestellt", erläutert der Geologe. "Nach unten komprimiert es sich stark: In einem Meter können dann mehr als 14.000 Jahre abgebildet sein. Mit unseren Methoden ermöglichen wir eine Analyse bis in den Submillimeterbereich."
Bohleber und seine Mitarbeiter wollen die Signale im Eis vor und nach dem Mittelpleistozän-Übergang vergleichen: "Wie viel Staub ist in die Antarktis gelangt, und wo kam er her?" Die Elemente aus den Staubpartikeln können Hinweise darauf geben, was vor einer Million Jahren auf der Erde passiert ist. Schwefel etwa kann ein Indiz für Vulkanausbrüche sein, die Menge an Natrium Hinweise auf die Ausdehnung von Meereis liefern, auch wenn es hier keinen einfachen Zusammenhang gibt, wie Bohleber hervorhebt. Calcium wiederum könne aus Mineralstaub stammen, aber auch aus Quellen im Meer. Die Menge dieses Elements in den Proben lässt Rückschlüsse auf die Temperatur zu, wie Müller erklärt: "Wenn es kalt ist, fällt weniger Niederschlag. Dadurch ist die Umwelt staubiger und windiger, und im Eis der Kaltzeiten ist mehr Calcium vorhanden."
Aktueller Klimawandel ist außergewöhnlich
Die Auswertung der Bohrkerne aus der Antarktis dürfte Stoff für eine Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen liefern; mit ersten Veröffentlichungen wird schon im nächsten Jahr gerechnet. Übergeordnetes Ziel von "Beyond EPICA" ist laut Bohleber ein "allgemeines Verständnis davon, wie das Klimasystem arbeitet". Das könnte auch deutlicher machen, was angesichts der aktuellen Erderwärmung auf die Menschheit zukommt. Der Blick in die Vergangenheit zeigt dabei nach Müllers Worten schon jetzt, wie außergewöhnlich die derzeitigen Veränderungen sind. So hoch wie momentan sei die Konzentration des Treibhausgases Kohlendioxid zuletzt vor 30 bis 40 Millionen Jahren gewesen. Und selbst zu Zeiten des Paläozän-Eozän-Temperaturmaximums vor 56 Millionen Jahren, des Höhepunkts der damaligen Warmzeit, habe sich der Wandel um den Faktor zehn langsamer vollzogen als heute.
"Die Erde als solche hat kein Problem mit einem solchen Prozess", meint Müller. Vor 650 Millionen Jahren sei sie auch schon einmal ein "Schneeball" gewesen und danach wieder aufgetaut. Aber es genüge ein Blick auf die jüngsten Überschwemmungskatastrophen, um zu erkennen: "Wir als komplexe menschliche Gesellschaft können ja schon mit kleineren Veränderungen nicht umgehen." © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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