Autobiographisches Schreiben: In einer Schreibwerkstatt in Bad Homburg verfassen Männer und Frauen ihre Erinnerungen, lesen daraus vor und diskutieren darüber. Viele sind seit Jahren dabei.
Ob es nicht besser wäre, den Text "Muttertag" zu nennen, fragt ein Teilnehmer. Die Autorin hat als Titel "Der Anruf" gewählt, aber der Anruf, auf den sie damals am Muttertag gewartet hat, ist nicht gekommen. "Kein Anruf", da sind sich alle an den Tischen einig, kommt dagegen als Überschrift nicht infrage. Dann wäre ja die Pointe verraten.
In dem Seminarraum der Volkshochschule in Bad Homburg haben sich ungefähr 15 meist ältere Männer und Frauen versammelt. Wie jeden Donnerstagnachmittag im Semester lesen ein paar von ihnen autobiographische Episoden vor, und dann diskutieren alle darüber.
Der Kurs heißt "Schreibwerkstatt: Erinnerungen an das eigene Leben" und ist laut Klaus-Dieter Metz ausgebucht. Der 83 Jahre alte pensionierte Lehrer leitet die Runde seit 20 Jahren. Eine Teilnehmerin ist sogar noch länger dabei, seit 2003.
Autobiographien statt Memoiren
Metz, den hier alle "Herr Dr. Metz" nennen, legt Wert darauf, dass die Teilnehmer für sich selbst schreiben. "Nicht für Enkel, dann werden es Memoiren." Die Autobiographie dagegen dränge nicht an die Öffentlichkeit. Trotzdem hat die Runde schon sechs Bände mit den eigenen Werken herausgegeben. Die siebte Publikation soll "Barrieren" heißen. Deshalb geht es an diesem Nachmittag in den Texten um Schranken im eigenen Leben.
Wie in der Erzählung über den Muttertag. Am Anfang entlässt die Autorin den Ehemann zum Golfturnier: "Spiel ruhig, ich bin ja nicht deine Mutter." Sondern die Mutter zweier erwachsener Kinder. Während die Frau von der Tochter nichts mehr erwartet, wartet sie den gesamten Tag über auf den Anruf des Sohns.
Zwischen Bügeln und Bettbeziehen, Frühstück und Kuchen und dann erst recht beim Abendessen mit dem Mann in einem Restaurant voller Familien kreisen die Gedanken um den Muttertag. Vor allem aber darum, ob Guido sich noch melden wird. Nach Mitternacht im Bett fließen dann "Tränen der Enttäuschung".
Anregungen aus dem Kolloquium
Das Feedback ist freundlich. Ein Mann fand es "sehr schön, wie die Wartesituation mit dem Blick in die Landschaft dargestellt wird". Eine Frau sagt: "Ich finde, teilweise hast du sogar essayhaft geschrieben." Einen anderen Teilnehmer haben "diese etwas theoretischen Überlegungen etwas gestört".
Ein Mann fand es merkwürdig, dass die Ich-Erzählerin nachmittags "genüsslich" Kuchen isst – in einer solchen Situation könne er sich nämlich keinen Genuss vorstellen. Wieder ein anderer schlägt vor, noch mehr aus einer Rückblende auf Muttertage der Vergangenheit zu machen, als die Kinder klein waren. "Das war der Teil, der mich am meisten berührt hat."
Was die Autorin aus den Anregungen macht oder auch nicht macht, ist ihre Sache. Metz sagt: "Es gibt keine Kontrolle oder Auflage, wenn wir hier rausgehen." Er selbst hält sich beim Besprechen der Texte zurück, gibt aber hier und da einen Hinweis: Ob es nicht klüger wäre, einen Schluss wegzulassen und die Geschichte auf dem Höhepunkt mit einem Zitat enden zu lassen?
Etliche Teilnehmer kennen einander inzwischen gut. Oft gehen sie nach dem Kurs noch zusammen in ein Lokal. Viele siezen einander, manche sind beim Du. Einige, erzählt eine Teilnehmerin, blieben bis zum Tod im Kurs.
Die Schnittstelle von Biographie und Fiktion
Ein Mann trägt einen Text über seine Kindheit vor. Er war Messdiener und Verehrer des Blasmusikers Ernst Mosch. Wie die meisten hat der Autor das Manuskript ausgedruckt. Bloß eine Teilnehmerin liest einen Text vom Bildschirm ab. Eine Frau berichtet von Kursteilnehmern, die nicht am Computer, sondern mit der Hand schrieben.
In "Der Vertreter Gottes" soll der Junge im Religionsunterricht ein Vorbild nennen. Mutter Teresa ist die Antwort, die der Pfarrer hören will. Aber das Kind ist eben Fan von Ernst Mosch. Also muss es nachmittags beim Pfarrer antreten – und bekommt die Frage abermals gestellt.
Der Autor legt seinem jungen Ich und dessen Freunden, die ebenfalls zum Appell mussten, die frechen Antworten "Mutter Mosch" und "Ernst Teresa" in den Mund – und erfindet noch hinzu, dass alle von der Schule flogen. Die Zuhörer erfahren aber prompt, dass es so nicht war. "Wer hatte damals schon den Mut, einem Priester zu widersprechen."
Auf den Tischen liegen Brillenetuis und Notizbücher, aber kaum Handys. Fast jeder hat sich ein Getränk mitgebracht. Ein Teilnehmer berichtet, er sei vor sieben Jahren dazugekommen. "Ich konnte nicht schreiben." Jedenfalls nicht so wie jetzt, nur geschäftliche Texte, wie er sie sein Berufsleben lang verfasst habe. "Aber die Runde hier hat unglaubliches Potential." Das habe "das geschäftliche Schreiben völlig verdrängt, und ich bin reingekommen ins emotionale".
Sich-von-etwas-frei-Schreiben
Eine Frau hat die Beziehung zu einer Chefin verarbeitet, die alle im Betrieb damals nur "die Natter" nannten. Als sie zu lesen beginnt, ruft eine andere Teilnehmerin: "Lauter!" Die Aufforderung ist an diesem Nachmittag öfter zu hören. In dem Text geht es um den Wiedereinstieg als Halbtagskraft nach einer beruflichen Pause mit der Tochter zu Hause.
Ein Mann sagt: "Wir sind der gleiche Jahrgang." Er könne sich vorstellen, wie schwierig das gewesen sei. "Und dann so eine Natter." Jemand kritisiert, dass der Text eine Weile brauche, bis er beim eigentlichen Thema angekommen sei.
Dem Kursleiter aber ist das Freischreiben wichtig, das er auch Sich-von-etwas-frei-Schreiben nennt. "Das kann länger dauern, dabei geht es nicht um Spannung." Dennoch können auf diese Weise dichte Texte entstehen. Wie in dem Gedicht einer Frau darüber, einen Jugendfreund wieder zu treffen. "Meine Augen versuchen, die deinen zu fangen." Später wird eine andere Teilnehmerin erwähnen, dass der einstige Freund der Autorin dement sei. Das Gedicht erscheint jetzt anders. Für die Autorin ist es dasselbe. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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