Elf Kirchen und ein Priester: Was bedeutet es für den Alltag eines Pfarrers, wenn die Kirche im Umbruch ist?
Tobias Blechschmidt hat darauf eine Antwort: Er bringt den Menschen den Glauben nahe – und ist dafür viel unterwegs.
Der Arbeitstag von Pfarrer Tobias Blechschmidt beginnt mit den liebsten Weihnachtsliedern der Achtklässler. Es sind "Last Christmas", "Jingle Bells" und "All I Want For Christmas Is You". Erste Stunde, katholische Religion an der Christian-Wirth-Schule in Usingen im Taunus. Blechschmidt hat die Gymnasiasten mit Handys und Tablets auf einer Umfrageplattform im Internet abstimmen lassen. An der Tafel ist daraus eine Wortwolke entstanden, in der Mitte prangen die drei Favoriten. Platz vier geht an "Stille Nacht".
Der 38 Jahre alte Blechschmidt ist Pfarrer in einer Zeit, in der auch katholische Jugendliche nicht mehr viele christliche Weihnachtslieder kennen. An den Feiertagen gehen, das zeigt die nächste Umfrage in der Religionsstunde, viele noch in die Kirche. Nur das Weihnachtsessen hat in noch mehr Familien Tradition.
Zu viele Besucher, zu wenig Personal
Im Alltag aber verliert das Christentum an Bedeutung. Das trägt dazu bei, dass Pfarrer für Pfarreien zuständig sind, die sich über mehrere Kommunen erstrecken und in denen etliche Kirchen stehen. Blechschmidt ist seit bald vier Jahren Pfarrer von St. Franziskus und Klara im Usinger Land. Dazu gehören 10.500 Katholiken – und elf Kirchen in Neu-Anspach, Usingen, Schmitten, Wehrheim, Grävenwiesbach und Weilrod.
In die Sonntagsgottesdienste kommen je nach Ort regelmäßig 120 Besucher oder auch nur zehn. Zu den Aufgaben des Pfarrers gehört auch, mit dem Verwaltungsleiter zu beraten, ob die Pfarrei manche dieser Kirchengebäude verkaufen sollte. Viel spricht dafür: Mitglieder treten aus oder sterben, und weniger Gläubige kommen nach.
Die Kosten für Energie, Instandhaltung und Personal sind hoch, und es fehlen Ehrenamtliche, etwa für Küsterdienste. Aber die Bindung an Kirchengebäude ist gerade in Dörfern stark, in manchen Familien hält sie seit Generationen.
"Willst du ein rosa oder lila Gewand am dritten Advent?"
Blechschmidts Religionsunterricht ist ein Beispiel dafür, dass die christliche Botschaft auch in Zeiten von "Last Christmas" ankommt, wenn sie denn gut vermittelt wird. Oder wenigstens morgens wach macht. Der Pfarrer bestreitet die Doppelstunde im Dauergespräch mit den Schülern, nutzt deren Wortmeldungen, um Wissen weiterzugeben.
Ein Mädchen berichtet von einer Tradition in ihrer Familie, polnischen Weihnachtsoblaten mit Bildern. Der Pfarrer erzählt, dass früher auch auf Spekulatius christliche Motive waren. Als er über das Brot für die Messe spricht, hebt er die Hände – und kommentiert selbst: "Kaum rede ich über Hostien, geh’ ich in die Wandlungsposition, das ist ja unglaublich." Das ist den Schülern vermutlich gar nicht aufgefallen. Sie sehen einfach einen Relilehrer in Jeans, Streifenpulli und Turnschuhen. Blechschmidt war jünger als die Achtklässler, als er anfing, in seiner Heimatgemeinde in Liederbach am Taunus Gruppenstunden zu leiten.
Später am Tag trifft er im Pfarrbüro in Neu-Anspach seinen Amtsvorgänger Paul Lawatsch. "Willst du ein rosa oder lila Gewand am dritten Advent?", fragt Blechschmidt. Am Gaudete-Sonntag leuchtet die Vorfreude auf Weihnachten schon so stark, dass Priester statt Violett auch etwas Helleres tragen dürfen. Lawatsch hilft hin und wieder in einer der Kirchen von St. Franziskus und Klara aus.
Die meisten Messen halten aber Blechschmidt und zwei indische Pater. Zum Pastoralteam gehören außerdem drei Gemeindereferenten, zwei davon mit halber Stelle. Im Team teilen sie die Aufgaben untereinander auf. Einer der Pater ist für Altenheime zuständig, besucht Senioren, salbt Kranke. Beerdigungen übernehmen oft auch die Gemeindereferenten. Ein Ehrenamtlicher, der schon jetzt Kranke begleitet, soll ebenfalls dafür ausgebildet werden.
Kitas sind Orte kirchlichen Lebens
"Du kannst als Pfarrer überall und nirgends sein", sagt Blechschmidt. Als Priester auf einem Gebiet, das sich über die Hälfte des Hochtaunuskreises erstreckt, muss er Prioritäten setzen. Und damit leben, wenn Menschen beleidigt sind, weil er nicht zu jeder Seniorenadventsfeier geht. Als Pfarrer sei er oft Politiker und immer wieder auch Buhmann. Etwa wenn Verwaltungsrat und Pfarrgemeinderat beschließen, dass manche Gottesdienste im Winter in Gemeinderäumen stattfinden, weil die sich leichter heizen lassen. Aber nicht alle finden das schlecht. Kürzlich habe er kaum mit einer Messe beginnen können, weil die Leute im Saal so fröhlich plauderten.
Mittags hat der Priester ein Dienstgespräch im Gemeindesaal von St. Marien. In dem modernen Bau aus den Neunzigerjahren in Neu-Anspach sind auch Verwaltungsräume untergebracht – und die zentrale Kirche der Pfarrei selbst. Mit ihm am Tisch sitzt Manuela Bernhard, die Kita-Koordinatorin der Pfarrei, zu der vier Tagesstätten gehören. Blechschmidt hat sich ein paar Punkte im Handy notiert.
Es geht um Praktikumsbewerbungen, eine Leitungsstelle, Renovierungsfragen, die aktuelle Krankheitswelle. Und immer wieder um Grundsätzliches. Kitas, sagt der Pfarrer, seien Orte kirchlichen Lebens. Wie der Religionsunterricht am Morgen böten sie die Möglichkeit, an eine Zielgruppe heranzukommen. In diesem Fall an Familien.
Auch in den Kitas ringt die Pfarrei um Personal. Blechschmidt zählt auf, was der Gemeinde zuletzt alles zugesetzt hat: der teure Unterhalt kirchlicher Immobilien, die Wirtschaftskrise, und nach Covid seien manche Kirchorte nicht wieder richtig zum Leben erwacht.
Die Musterpfarrei der GEMA
Bis zu 1500 Kilometer fährt der Pfarrer monatlich im Dienst, die meisten davon innerhalb der Pfarrei, zu Tauf-, Ehe- und Seelsorgegesprächen, Kindergärten, Schulklassen, Messen am Morgen und am Abend. Manchmal besucht er Sitzungen in der katholischen Region Taunus, die seit der Fusion der ehemaligen Bistumsbezirke Hochtaunus und Main-Taunus bis nach Hochheim am Main reicht. Auch nach Limburg fährt Blechschmidt öfter, denn er ist Mitglied im Priester- und im Seelsorgerat des Bistums.
Zu seinen Aufgaben gehört etwa auch, das Format "Bibel aktuell" für Hit Radio FFH einzusprechen. Die GEMA hat St. Franziskus und Klara zudem als Musterpfarrei ausgewählt, um im Gottesdienst alle Lieder zu protokollieren, die der Organist spielt. Oder das Pfarrbüro ruft an, weil eine Familie das Jugendheim für eine Feier nutzen will.
Blechschmidts Wohnung befindet sich ebenfalls im Kirchengebäude. "Alexa, Wohnzimmer auf 22 Grad!" Als er auf dem Sofa sitzt, bittet er den Sprachassistenten zudem um Weihnachtsbeleuchtung. Im Raum stehen eine Krippe und mehrere Schwibbogen. Der Pfarrer erzählt von sich. Zu seiner Messdienerzeit sei ein Priester üblicherweise für zwei Kirchen zuständig gewesen. Während seiner Studienzeit an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt und in Freiburg dann sei die Kirche umstrukturiert worden.
Er wusste, worauf er sich einließ. Aber: "Ich bin nicht Pfarrer geworden, um zu verwalten." Wochenlange Kommunikationsprozesse kosteten Kraft. Blechschmidt hat einen Freundeskreis außerhalb der Kirche, an den freien Montagen besucht er die Familie seines Patenkindes. Aber für ein Priesterleben seien Beziehungen in der Gemeinde zentral. "Es schmerzt, dass ich in einer Pfarrei dieser Größe nicht mit allen Menschen so im Dialog stehen kann, wie ich möchte."
"Wir wollen Kirche in die Zukunft entwickeln"
Das Gebiet ist zu groß, um stets das Vollprogramm anzubieten. Also gibt es manchmal vielleicht eine Taizé-Andacht eines Ehrenamtlichen statt einer Messe mit Wandlung. Aber dann sei die Pfarrei auch wieder zu klein, als dass alle verstünden: So wie früher gehe vieles nicht mehr. In den vergangenen Jahren hat die Kirche nach Blechschmidts Meinung die größte Krise erlebt, aber auch eine der größten Chancen erhalten.
"Wir wollen Kirche in die Zukunft entwickeln." Was er mag: Situationen, in denen er mit Menschen einfach den Glauben feiere. So wie kürzlich im Gottesdienst mit den Familien der Kommunionkinder, als er und der Gemeindereferent nach wenigen Minuten das Konzept beiseitelegten.
Oder beim Grillen mit den Firmlingen auf der Dachterrasse des Pfarrgebäudes. Am 23. Dezember feiert Blechschmidt mit der Kirchenband den "Abend davor". Der letzte Weihnachtsgottesdienst ist dann das lateinische Choralhochamt.
Am Schluss wird gebetet
Es klingelt. Eine Ehrenamtliche kommt vorbei. Die Grundschullehramtsstudentin Ann-Cathrin Knappich und der Pfarrer planen den Familiengottesdienst für den vierten Adventssonntag. Er sagt: "Ich brauche gar nicht zu predigen, das machst du." Sie sagt: "Nein, das machst du." Als der Ablauf steht, kocht Blechschmidt Tee für die nächsten Stunden. Er und Knappich tragen Thermoskannen und Kisten mit Material nach unten in die Kirche, kleben QR-Codes an besondere Orte: Altar und Ambo, Taufbecken und Tabernakel, Kirchenbank und Kreuzweg.
Als am frühen Abend die Firmlinge eintreffen, darf sich jeder eine Mini-Taschenlampe aus einer Schachtel nehmen. Die elf Mädchen und Jungen bilden die erste Gruppe, um 19.15 Uhr wird die zweite kommen. Schon tags zuvor hat Blechschmidt zwei Taschenlampenaktionen in einer anderen Kirche abgehalten, tags darauf wird er wieder zwei in einer dritten anbieten.
In St. Marien ist es dunkel. Aus den Lautsprechern klingt Meditationsmusik, vom Altar her duftet Weihrauch. Die Firmlinge erkunden mit den Lampen den Raum, scannen Codes mit dem Handy, lauschen Texten über Kopfhörer. Am Ende stehen alle um den Altar. Reihum sagen sie, welche Station sie am schönsten fanden. Für die meisten war es Maria. Am Schluss betet Blechschmidt. Die Stimme ist ruhig. "Guter Gott, wir haben die Kirche in anderem Licht gesehen, als einen Ort des Glaubens, der mein Ort sein darf." © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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