Mannschaftswagen der Polizei blockieren die ganze Straße, das Blaulicht erleuchtet die Nachbarschaft und damit auch die Tafel mit den Kamelen, der Palme und der Aufschrift "Sahara Lounge Bar".

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Die Polizei ist an diesem Abend zu einer Razzia angerückt. Was für ein Einstieg in meinen neuen Kiez. Es ist mein erster Tag als Student in dieser neuen Stadt, und der Blick von meiner neuen Wohnung in Berlin-Wedding geht direkt auf die Gerichtsstraße und die "Sahara-Bar". Am nächsten Tag sitzen dort Männer auf Plastikstühlen, sie trinken zwar Tee, gucken aber grimmig. Kahl rasiert, breite Schultern, gönnerhaftes Lachen. Es macht nicht den Eindruck, dass hier jemand anderes willkommen ist als sie.Manchmal fährt nachts einer der Männer mit seinem Motorrad auf dem Hinterrad die Straße hoch und runter, oft machen die Rocker mit ihren Maschinen auch nur furchtbaren Lärm. Später lerne ich: Das "Sahara" ist der Treffpunkt einer Gruppe von Hells Angels, die vom berüchtigten Kadir Padir angeführt wurde, eine kriminelle Größe nicht nur in dieser Szene. Nebenan im Stadtbad Wedding tanzen unbeeindruckt von der zwielichtigen Straßenprominenz hunderte Menschen, es ist einer der damals angesagtesten Clubs der Stadt. In den angrenzenden Ateliers residieren Künstlerinnen und Künstler, fahle Gestalten kommen aus den Internetcafés und Spielotheken. Hier koexistieren die verschiedensten Milieus friedlich und kommen sich selten in die Quere.

Es ist das Jahr 2014. Der einst unbeliebte Wedding ist damals angeblich ganz groß im Kommen. Jedenfalls wird es überall behauptet, und so titelt ein Jahr später die New York Times: "Wedding In Berlin Finally Has Its Moment" – Der Wedding in Berlin hat jetzt endgültig seinen Moment. Nun, zehn Jahre später, stellt sich die Frage: Was ist von diesem Hype geblieben und hat er überhaupt stattgefunden?

Eines ist jedenfalls klar: Die Gerichtsstraße, 1,4 Kilometer lang, zwanzig Minuten Fußweg vom Nordende an der Müllerstraße bis zum Südende an der Grenzstraße, steht exemplarisch dafür, was passiert, wenn ein Viertel seinen großen Moment hat. Wenn der Wedding seither irgendwo gekommen ist, dann hier und vielleicht noch ein Stück weiter nördlich im Sprengelkiez.

Heute sitzt Kadir Padir eine lebenslange Haftstrafe ab. Der berüchtigte Rocker hatte einen Mord in Auftrag gegeben, im benachbarten Reinickendorf schickte er 13 vermummte Rocker in ein Wettbüro, um einen Mann zu erschießen. Der Rockertreff "Sahara" ist damals einige Razzien später verschwunden, von einem auf den anderen Tag. Übrig blieb eine eingeschlagene Scheibe und das Musikvideo zum Song "Echte Männer" des Rappers Fler, der dem "Sahara" und seinen Gästen darin ein Denkmal setzt.

Das Stadtbad Wedding steht längst nicht mehr, es wurde aus Brandschutzgründen abgerissen. An seiner Stelle steht ein mit bräunlichen Fake-Ziegelsteinen geschmücktes privates Studentenwohnheim mit dem tristen Namen "Studio B2". Das billigste möblierte Apartment dort kostet rund 600 Euro für nicht mal 20 Quadratmeter. Unsere 100-Quadratmeter-Studenten-WG hat damals knapp 800 Euro gekostet – unvorstellbar heute.

Der Hype der New York Times ist zehn Jahre her, seither hat nur ein Spätkauf auf der Gerichtstraße und ein dubioses Internetcafé überlebt, auch Spielotheken, Wettbüros und Gemüseläden gibt es nicht mehr. Dafür vier hippe Cafés, eine Cocktailbar, ein mexikanisches Restaurant. Im Gelände um den Club Panke mit seinen verästelten Hinterhöfen haben sich Start-ups angesiedelt, und mit dem Silent Green und Savyy Contemporary sind zwei Kulturorte gewachsen, in denen man sich Nischenmusik aus Afrika anhören kann oder man geht auf Konferenzen zu nerdy Softwaretools. Immerhin gibt es einen wirklich guten Dönerladen, kostet aber nicht mehr 2,50 Euro wie damals, sondern sieben.

Wie massiv sich der Kiez verändert, zeigt die unscheinbare Glasfassade des "Ernst", immerhin ein Sterne-Restaurant hinter einer grauen, graffitibemalten Wand. Dort kocht der Kanadier Dylan Watson-Brawn japanische Spezialität. Der Laden hat nur neun Plätze, das Menü kostet 269 Euro pro Person. Spätestens hier stellt sich die Frage: Ist das nicht doch zu viel? Ist der Wedding zumindest hier auf der Gerichtstraße so sehr gekommen, dass das alte Milieu verdrängt wurde? Ist nicht nur die Geschichten vom alten Arbeiterbezirk Wedding auserzählt, vom legendären Roten Wedding, sondern auch die Geschichte vom multikulturellen Hotspot? Zumindest auf diesen 1,4 Kilometern. Ist das hier innerhalb von zehn Jahren gekippt? Keine Vielfalt mehr, nur noch ein Spielplatz fürs Bürgertum? Mehr Acne Studios-Schals als Nike Tracksuits?

Die Gerichtsstraße ist ein wenig wie das aktuelle Berlin, in einem ständigen Wandel, immer mehr neues trifft auf immer mehr altes. Es ist ein Spiel mit vielen Ambivalenzen. Die spürt auch jene Frau, die seit 62 Jahren im Kiez lebt, die in einem Laden in der Gerichtstraße arbeitet, und die im Stadtbad Wedding schwimmen lernte, als es noch ein Schwimmbad war. Sie will lieber anonym bleiben, weil sie Stress mit ihrem Hausbesitzer hat. Auch das ist der neue Wedding. Aber sie sagt auch, es sei abends heller geworden, belebter, die Läden schöner. "Ich fühle mich wohler auf der Gerichtstraße als früher", sagt sie. Nur die Betrunkenen stören sie manchmal. Nein, nicht das junge Partyvolk, nicht die Studenten, sondern die alten Säufer, die jeden Tag vorm Penny sitzen, rumbrüllen und manchmal einfach zusammenklappen. "Ich weiß dann nie, ob ich den Krankenwagen rufen soll oder nicht", sagt sie.

Wir befinden uns am Südende der Gerichtstraße. Hier ist alles noch etwas einfacher. Keine fancy Cafés, keine schicken Häuser. Ein Aldi, ein Penny, ein Seniorenwohnheim, eine "Bodyguard-Akademie". Angekommen sind hier nur die steigenden Mieten. Ihre Miete habe sich verdreifacht, sagt die Frau, die ihren Namen noch immer nicht nennen will. Einige Wohnungen im Haus stünden seit einem halben Jahr leer. Sie vermute, dass das Haus verkauft und luxussaniert werden soll. "Die Vermieter denken scheinbar, wir sind hier der Kurfürstendamm", sagt sie und ist kurz aufgebracht. Aber die neuen Cafés fände sie gut, sagt sie noch und lächelt.

Hinter besprühter Fassade: Bis Ende Oktober residiert hier das Sterne-Restaurant „Ernst“.
Hinter besprühter Fassade: Bis Ende Oktober residiert hier das Sterne-Restaurant „Ernst“. © Jordis Antonia Schlösser/Ostkreuz

Cafés also wie das von Rasa Urnieziute. Sie ist aus Litauen nach Berlin gekommen, arbeitet als Fotografin und verkauft Kaffee und Kuchen im Nebenraum der Cocktailbar The Forsberg, die ihr Partner betreibt. Gegenüber befindet sich das Studio B2 mit den Studentenappartments, daneben der Kieztreff "Baumhaus", die Selbstbezeichnung: "Eine Plattform für Weltverbesserer*innen in Berlin". Seit sechs Jahren lebt Rasa Urnieziute in der Gerichtstraße, mit Mann und Kind und ihrem kleinen Hund Daisy, der im Café um uns herumspringt.

"Es ist ruhig hier", sagt sie und holt weiter aus. "Ich mag es hier, weil die Menschen divers sind und niemand zu sehr versucht, cool zu sein. Es ist nicht zu hipster." In ihr Café kämen vor allem Menschen im Alter zwischen zwanzig und dreißig, oft von den StartUps in der Nähe, aus der Fabric23 mit Lofts voller Vintage-Möbel. Dann ist ihr Hund Daisy plötzlich verschwunden und Rasa rennt los, um ihn auf der Gerichtstraße zu suchen. Ihr Café lässt sie einfach unbewacht. Angst vor Dieben scheint sie nicht zu haben. Dass es hier früher nur weniger Meter weiter mal einen Hells-Angels-Treffpunkt gab, in dem sich bewaffnete Männer herumtrieben, habe sie letztens auch gehört, sagt sie noch. An ihrem gemütlichen Ort wirkt das wie eine Legende aus einer längst vergangenen Zeit.

Die Zeiten ändern sich massiv in Berlin, im Wedding, in der Gerichtsstraße. Ist das gut? Einerseits: ganz klar ja. Alles ist schicker geworden, neue Eigentumswohnungen sind entstanden, doch wie überall steigen dadurch die Mieten. Auch der Kaffee ist teurer und die Kulturangebote richten sich nicht unbedingt an das alte Kiez-Publikum, sondern eher an Expats mit Akademikerbackground, die nicht unbedingt hier wohnen müssen. Einige Besitzer der neu gebauten, teuren Häuser lassen penibel jedes Graffiti entfernen, als wollten sie sagen: Hier herrscht ab jetzt Sauberkeit.

Andererseits: Jede Woche entstehen neue Graffiti auf der Gerichtsstraße. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Und so schließt das Sterne-Restaurant "Ernst" zum Ende Oktober. Zu wenig Kundschaft, wie der Besitzer der Süddeutschen Zeitung sagte. Aber die Kunden seien ohnehin nicht aus Berlin gekommen, sondern vor allem aus dem Ausland. Die provokante Idee eines Nobel-Restaurants in einem ehemaligen Arbeiter-Kiez funktioniert dann doch nicht so gut.

Bei der Tour durch die 1,4 Kilometer lange Straße ist sie dann doch noch zu finden: die Vielfalt, die alteingesessenen Geschäfte, die kleinen Gewerbe, in denen es nicht um die neueste Mode und die besten Kaffeebohnen geht. Die Änderungsschneiderei an der Grenze zur Müllerstraße, die weißlich leuchtende Dominos Pizza-Filliale, die Taykan Sports Arena, wo Bülent Calikiran den Kindern aus dem Kiez Kickboxtraining gibt.

Mittlerweile saniert: Hier trafen sich früher die Helles Angels.
Mittlerweile saniert: Hier trafen sich früher die Helles Angels. © Jordis Antonia Schlösser/Ostkreuz

Oder das "City Aqua", ein kleines Geschäft für Wasseraufbereitungsanlagen, in dem Nuri Sariyerli hinterm Tresen steht und sagt: "Viele Läden standen leer, als wir 2016 eingezogen sind." Er freue sich über die ganzen Menschen, die das Silent Green besuchen, die Gegend beleben und manchmal sogar in den Laden kämen. "Früher war hier alles tot."

All diese Orte sind Kontrapunkte zur stetig fortschreitenden Aufwertung der Gerichtstraße und wichtig, um ein Gleichgewicht zu halten, das in ganz Berlin innerhalb des S-Bahn-Rings und eben auch hier gefährdet ist.

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Und so ist es auf eine eigenartige Art auch wieder beruhigend, als ich eines Abends an der "Bodyguard Akademie" vorbeilaufe und einen wirklich heftigen Streit höre: Ein schwarzer SUV hält mit quietschenden Reifen und ein paar Männer schreien sich an, als ginge es um ihr Leben. Mehr aber passiert nicht, ein lautstarker Streit zwischen Kontrahenten, während im The Forsberg wahrscheinlich Jazz-Musik läuft und im Nobelschuppen "Ernst" wohl wieder neun Menschen für sehr sehr viel Geld zu Abend speisen. Dieser Streit ist ein wichtiges Störgeräusch auf der doch recht schicken Gerichtstraße, einer Straße, die zwar mehr als im Kommen ist, die sich aber immer noch im Wedding befindet und nicht im piefigen Prenzlauer Berg.  © Berliner Zeitung

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