Der frühere Bayern-Spieler und heutige Sky-Experte Didi Hamann spricht im exklusiven Interview mit unserer Redaktion über die Baustellen des FC Bayern München und wirft einen Blick auf den Abstiegskampf am 34. und letzten Spieltag (15:30 Uhr live auf Sky). Darüber hinaus schätzt er die Chancen von Borussia Dortmund sowie Bayer Leverkusen im Champions-League- und Europa-League-Finale ein.

Ein Interview

Herr Hamann, der FC Bayern wird am Samstag nach dem letzten Spieltag auf die erste titellose Saison seit der Spielzeit 2011/2012 zurückblicken. War das somit trotz Champions-League-Halbfinale eine total misslungene Spielzeit?

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Didi Hamann: Es war klar, dass sie irgendwann einmal nicht die Deutsche Meisterschaft gewinnen würden. Das muss man ihnen zugestehen und ist kein Weltuntergang für die Bayern. Dass sie im DFB-Pokal so früh gescheitert sind, war natürlich enttäuschend. Aber dafür haben sie das Champions-League-Halbfinale erreicht. Das muss man erst einmal hinbekommen. Insgesamt war das für mich eine durchschnittliche Saison für den FC Bayern.

Der FC Bayern hatte in dieser Saison sehr viele Verletzungsausfälle. War das Pech, oder muss sich der Verein fragen, ob man vielleicht zu viele verletzungsanfällige Spieler im Kader hat?

Ja, ich glaube, sie hatten in dieser Saison etwa 30 Muskelverletzungen – nicht nur Muskelfaserrisse, sondern auch viele Muskelbündelrisse. Das ist verwunderlich, weil sie zusammen mit dem SV Darmstadt 98 die Mannschaft sind, die am wenigsten läuft. Irgendetwas kann da nicht stimmen. Ob das an der Trainingssteuerung liegt oder an der medizinischen Abteilung oder beides, kann ich nicht beurteilen. Aber sie müssen etwas ändern, das ist völlig klar. Man darf nicht vergessen, dass die verletzungsbedingte Auswechslung von Serge Gnabry auch das Champions-League-Rückspiel gegen Real Madrid beeinflusst hat. Sie mussten früh auswechseln, hatten nach 80 Minuten das dritte Wechselfenster benutzt und konnten danach nicht mehr wechseln. Grundsätzlich muss der FC Bayern schauen, welche Spieler wie oft verletzt sind und was diese kosten.

Joshua Kimmich hat sich beim FC Bayern als Rechtsverteidiger festgespielt. Sehen Sie ihn in München dauerhaft auf dieser Position?

Das wird davon abhängen, wer den FC Bayern zukünftig trainieren wird. Sollte es Hansi Flick sein, wäre es ein Trainer, der ihn damals in die Mitte beordert hat. Grundsätzlich bin ich überrascht, wie gut er als Rechtsverteidiger spielt. Er hatte gegen Real Madrid natürlich Probleme gegen Vinicius Junior, aber das ging schon vielen Spielern so. Ich könnte mir vorstellen, dass er Rechtsverteidiger bleiben wird, weil der FC Bayern vermutlich einen neuen defensiven Mittelfeldspieler verpflichten wird.

Der FC Bayern hat in den vergangenen Jahren sehr viel Geld in die Innenverteidigung gesteckt. Min-jae Kim und Dayot Upamecano waren in der Hinrunde Stammspieler und verloren in der Rückrunde ihren Stammplatz an Eric Dier und Matthijs de Ligt. Haben Kim und Upamecano eine Zukunft in München?

Bei Upamecano ist es schon länger der Fall, dass ihm immer wieder einmal Fehler unterlaufen. Ansonsten hätte er definitiv das Zeug dafür, um dauerhaft beim FC Bayern zu funktionieren. Aber man hat gesehen, wie wichtig eine sattelfeste Abwehr ist. Eric Dier kam nach München, ohne dass man allzu viel von ihm erwarten konnte. Aber er hat das hervorragend gemacht und bildete eine wunderbare Achse mit de Ligt. Die werden wohl als Innenverteidiger Nummer eins und zwei in die Saison gehen. Upamecano und Kim stehen wahrscheinlich dahinter, haben aber viel Geld gekostet. Daher muss man sich fragen, ob man vier teure Innenverteidiger im Kader haben möchte.

"Ich bin ein großer Fan von Sané."

Didi Hamann

Der FC Bayern wird sich auch entscheiden müssen, ob sie den im Sommer 2026 endenden Vertrag mit Leroy Sané verlängern. Fehlt bei ihm noch immer die Konstanz, um einen neuen großen Vertrag zu rechtfertigen?

Ich bin ein großer Fan von Sané und empfinde die Kritik oft als überzogen, wenn über die Körpersprache gesprochen wird. Ganz ehrlich: Wenn man Lionel Messi nach der Körpersprache bewertet hätte, hätte er bereits vor 15 Jahren keinen Verein mehr gefunden, so wie er oft über den Platz geschlichen ist. Oft ist es ja auch so: Je mehr ein Spieler über den Platz schleicht, desto gefährlich wird er dann plötzlich! Daher lasse ich das Argument nicht gelten.

Aber…

Aber man muss feststellen, dass Sané offenbar mit dem Schambein große Probleme hat. Wenn er das nicht in den Griff bekommt, ist das sehr ungut. Außerdem sprechen die Zahlen nicht gerade für ihn. Nach Ende Oktober hat er nur noch ein Tor geschossen – auch, wenn das im Hinspiel gegen Real Madrid ein wichtiges Tor gewesen ist. Aber das ist einfach nicht genug. Viele Tore vorbereitet hat er ebenfalls nicht. Vielleicht hängt das alles mit seinen Schambein-Problemen zusammen. Ich würde daher keine große Dringlichkeit sehen, den Vertrag zu verlängern.

Wie schätzen Sie die Situation im Sturm ein, wo Harry Kane auch zukünftig gesetzt sein dürfte, allerdings der Entwicklung des Sturm-Talents Mathys Tel weiterhin im Wege steht?

Man hat Mathys Tel leider vergrault. Ich habe auch nicht verstanden, warum er nicht in Madrid eingewechselt wurde. Man hat mit ihm den besten Nachwuchs-Stürmer. Aber es kann gut sein, dass er im Sommer wegwill. Ich sehe keinen Grund für ihn, in München zu bleiben. In der Rückrunde hat er kaum noch gespielt. Kane ist offenbar gesetzt. Wobei ich es nicht nachvollziehen kann, dass er im Rückspiel in Madrid zehn Minuten vor Spielende darum bittet, ausgewechselt zu werden. Psychologisch war das ein fatales Zeichen. In großen Spielen muss man sich für die Mannschaft aufopfern. Wenn dann der Star-Spieler, der das meiste Geld verdient, nach 80 Minuten um eine Auswechslung bittet, würde ich mich fragen, ob das der Spieler ist, mit dem ich in den nächsten Jahren große Titel gewinne.

Es ist noch immer nicht bekannt, wer der zukünftige Trainer des FC Bayern sein wird. Wen halten Sie von jenen Trainern, die noch nicht abgesagt haben, für die beste Lösung?

Das ist eine schwere Frage, weil nicht viele Trainer übrigbleiben. Roberto De Zerbi ist offenbar noch in der Verlosung. Er leistet in England bei Brighton sehr gute Arbeit. Ich würde auch einen Zinedine Zidane oder einen Jose Mourinho gut finden. Die Frage wäre nur, ob der FC Bayern sie haben möchte und ob die das überhaupt machen würden. Denn in München wartet keine einfache Aufgabe.

Eine Rückkehr von Hansi Flick können Sie sich nicht vorstellen?

Nicht wirklich. Er hat das hervorragend gemacht, als er 2020 alle Titel gewann. Allerdings war das aufgrund der Corona-Pandemie eine besondere Situation. Die deutschen Vereine hatten den Vorteil, dass sie zuerst wieder mit dem Training beginnen durften. RB Leipzig war dadurch auch im Halbfinale. Ich habe meine Bedenken, ob sich das wiederholen lässt.

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Es gibt auch die These, dass Tuchel Trainer bleiben könnte, weil sich Manuel Neuer und Thomas Müller für ihn eingesetzt haben. Ist das vorstellbar?

Wenn die Bayern wirklich mit dem Gedanken spielen, ist das wohl vorstellbar. Die Frage ist nur, ob Tuchel das machen würde. Nach den kritischen Aussagen von Uli Hoeneß dachte ich eigentlich, dass sich das erledigt hat. Hoeneß hat schließlich noch einen erheblichen Einfluss. Mich würde das wundern. Aber ausgeschlossen ist momentan wohl nichts.

Auf welchen Positionen muss sich der FC Bayern im Sommer vor allem verstärken?

Ich denke, ein defensiver Mittelfeldspieler wird kommen. Das war bereits im vergangenen Sommer angedacht. Außerdem vermutlich ein Flügelspieler. Hier kommt es natürlich darauf an, was mit Gnabry, Sané oder Coman passiert. Diese drei Spieler haben verletzungsbedingt zu viele Spiele verpasst.

Im Winter wurde bereits Bryan Zaragoza verpflichtet

Er hat das gegen Wolfsburg ganz ordentlich gemacht. Aber trotzdem denke ich, dass er auf seiner Position nur die Nummer vier oder fünf sein wird. Der FC Bayern hat ja auch noch für viel Geld den Außenverteidiger Sasha Boey geholt. Beide haben bislang nicht viel gespielt, dürften aber auf guten Verträgen sitzen. Diese Personalien werden nur schwer zu lösen sein.

"Die Vergangenheit zeigt, dass sich der Bundesligist fast immer durchsetzt."

Didi Hamann

Blicken wir abschließend noch einmal auf den letzten Spieltag: Der 1. FC Köln und Union Berlin könnten direkt absteigen, dem 1. FSV Mainz 05 und dem VfL Bochum droht schlimmstenfalls der Relegationsplatz. Welche Vereine werden sich Ihrer Einschätzung nach retten?

Ich glaube, dass Union gegen Freiburg einen Punkt holen wird. Der 1. FC Köln würde dadurch direkt absteigen. Ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob Köln in Heidenheim gewinnen wird. Union geht dann vermutlich in die Relegation…

Und trifft auf Fortuna Düsseldorf. Das wäre keine einfache Aufgabe, oder?

Die Vergangenheit zeigt, dass sich der Bundesligist fast immer durchsetzt. Düsseldorf spielt aber wirklich hervorragend. Ich könnte mir vorstellen, dass sie gegen Union die beste Chance haben. Dass die Berliner gegen Köln nach einer 2:0-Führung noch 2:3 verloren haben, hat bestimmt einen Knacks hinterlassen. Mainz ist sehr stabil und hat einen guten Lauf. Das würde für Fortuna sehr schwer werden. Dann hätten sie eher gegen Bochum eine Chance.

Dortmund steht im Finale der Champions League und trifft auf Real Madrid. Bayer Leverkusen wird im Endspiel der Europa League gegen Atalanta Bergamo antreten. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass beide Titel nach Deutschland gehen?

Bayer Leverkusen geht als Favorit in das Finale. Allerdings darf man Atalanta Bergamo nicht unterschätzen. Sie flogen lange unter dem Radar, bis sie Liverpool besiegt haben. Trotzdem glaube ich, dass Leverkusen gewinnen wird – und Dortmund auch. Das wäre für den deutschen Fußball hervorragend.

Ist der BVB gegen Real Madrid für Sie also nicht der Außenseiter?

Doch, sie sind der Außenseiter. Alles muss für sie passen. Sie müssten 90 Minuten an ihre Grenze gehen. Aber das haben sie auch zweimal gegen Paris hinbekommen. Wenn sie wieder so zusammenhalten und das Tor verteidigen, außerdem Jadon Sancho eine so gute Form wie gegen Paris zeigt, bin ich guter Dinge. Ich glaube, dass Real Dortmund mehr liegt als es bei Bayern der Fall gewesen wäre, denn Bayern ist aggressiver. Real will mit dem Ball spielen. Dortmund hat in den letzten Wochen einen Weg gefunden, solche Gegner zu bearbeiten.

Über den Gesprächspartner

  • Dietmar "Didi Hamann" (Jahrgang 1973) spielte von 1993 bis 1998 für den FC Bayern München, wechselte daraufhin nach England und war für Newcastle United, den FC Liverpool, Manchester City und Milton Keynes Dons aktiv, ehe er im Jahre 2011 seine Laufbahn beendete. Heute ist er als Experte bei Sky tätig.
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