"Bevor sich der Zug in Bewegung setzte, haben wir schon die ersten Toten am Bahnsteig abgelegt." Eisige Kälte herrschte kurz vor Weihnachten 1946, als der damals 17 Jahre alte Heinz Paul - wie viele andere Schlesier - aus der Heimat vertrieben wurde.
Bei Temperaturen um minus 15 Grad ging es in zugigen Viehwaggons ohne Verpflegung, ohne Heizung, ohne Stroh im berüchtigten "Todeszug Nr. 514" von Breslau gen Westen: Nach Bückeburg und Hameln in Niedersachsen, eine einwöchige Fahrt unter unmenschlichen Strapazen, die etliche der 1540 Menschen im Zug, darunter Alte, Schwangere und Kinder, nicht überlebten.
"Bei jedem Halt wurden die Toten ausgeladen und am Bahndamm in den Schnee gelegt." Als der Zug schließlich in Bückeburg einlief, bot sich Helfern ein schreckliches Bild: "In den Wagen saßen und lagen total erschöpfte und teilnahmslos wirkende Männer, Frauen und Kinder. Die meisten hatten schwere Erfrierungen an Händen und Füßen", hielt eine Rot-Kreuz-Schwester fest. Eine Frau und ihr fünf Monate alter Säugling seien in den Händen der Helfer gestorben.
Die Erinnerungen an Krieg und Vertreibung sind noch präsent
Heinz Paul hat gerade seinen 96. Geburtstag in Bergisch Gladbach gefeiert, aber die Erinnerungen sind auch 80 Jahre später noch sehr präsent: an den letzten Kriegswinter in Schlesien, als ihn Hitler-Deutschland mit 16 Jahren noch zum Stellungsbau einsetzte. An den 7. Mai 1945, als er die Munition ins Gebüsch warf und einen Tag später - der Krieg war endlich aus – "er erste russische Soldat kam und uns alles wegnahm, auch die Stiefel". Schließlich an die Vertreibung aus seiner Heimat im Dezember 1946.
Seine Geschichte stehe "exemplarisch für die von 14 Millionen deutscher Vertriebener" nach Ende des Zweiten Weltkriegs, so Frank Grobolschek vom Bergischen Geschichtsverein, der sich intensiv mit der Geschichte der Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten befasst hat. Anlass war im vergangenen Jahr unter anderem die Renovierung des Gedenksteins, der 1956 auf Initiative der Vertriebenen-Landsmannschaften an ihr Schicksal erinnern sollte.
Viele Menschen aus Schlesien kamen auch nach Bergisch Gladbach
Zunächst an der Hauptstraße gegenüber der Hausnummer 247 aufgestellt, wurde er im Zuge des Straßenausbaus an der Schnabelsmühle 1988 in den nahen Forumpark versetzt. Der Stein erinnert auch an die zwei Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die durch Flucht und Vertreibung den Tod fanden. In Bergisch Gladbach galten 1950 mehr als 4200 und in Bensberg mehr als 1800 Menschen als Heimatvertriebene. Die Schlesier bildeten darunter die größte Gruppe.
Heinz Paul stammt aus dem Dorf Groß Mohnau, 35 Kilometer südwestlich von Breslau, das zu deutscher Zeit rund 400 Einwohner zählte. Heute ist es ein Dorf in Polen und heißt Maniów Wielki. Wiedergesehen hat Paul die Heimat erst mehr als 30 Jahre nach der Vertreibung. Seither hat er Schlesien immer wieder besucht, im Ruhestand regelmäßig Busfahrten für andere Schlesier in Rhein-Berg organisiert. 15 Touren seit 1991, sagt er nicht ohne Stolz.
Revanchismus ist Heinz Paul fremd
Revanchismus ist Paul fremd, aber Heimat sei, wo er herkomme, wo er zur Schule gegangen sei. "Ich hänge heute noch daran, aber ich will dort nicht mehr wohnen." Denn sein Zuhause hat er längst in Bergisch Gladbach gefunden. "Meine Tante wohnte hier und hatte eine Kammer frei", erklärt er, warum er 1950 im Bergischen landete.
Zunächst arbeitete er am Bau, sei an der Errichtung der Belgischen Siedlung in Frankenforst beteiligt gewesen, sattelte dann aber um und machte eine Fleischerlehre. Zügig bestand er die Gesellen-, dann die Meisterprüfung, betrieb schließlich einen Großhandel für Fleischbedarf. Auch privat veränderte sich viel: 1951 lernte er seine spätere Frau kennen, eine Einheimische.
"Jetzt haben wir wieder einen Krieg vor der Tür"
1952 wollte man heiraten, aber die Papiere fehlten. So stand das Paar erst 1953 vor dem Altar. "Etliche Schlesier heirateten hiesige Partner. Dadurch kamen Familien zusammen und das Zusammenleben wurde alltäglich", meint Paul, der sich in Bergisch Gladbach auch ehrenamtlich engagierte, unter anderem für den SV Bergisch Gladbach 09.

"Jetzt haben wir wieder einen Krieg vor der Tür", ist Heinz Paul besorgt. "Wenn man den Krieg erlebt hat, dann kann man das nur abscheulich finden." Er habe am 7. Mai 1945 seine Munition ins Gebüsch geworfen, betont er noch einmal. "Mit Waffen werden Menschen getötet." Viel, so der 96-Jährige, werde jetzt von den Menschen abhängen und inwieweit sie sich erinnerten. © Kölner Stadt-Anzeiger