Kirchen öffnen sich: Im Odenwald werden im Gottesdienst Schlager gesungen, im nordhessischen Vellmar tritt Harry Potter vor den Altar und in Frankfurt legen DJs ihre Lieblingsmusik auf: Die evangelische Kirche wirbt mit ungewöhnlichen Formaten um Besucher.

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Beim Vinylgottesdienst in der Johanniskirche im Frankfurter Stadtteil Bornheim wird der Altar zum DJ-Pult. Die Musik bringt ein Gast mit, beispielsweise hat die deutsch-schwedische Künstlerin Amelie Persson Platten zum Thema «Schauen» dabei. Zu Besuch beim Vinylgottesdienst in der barocken evangelischen Kirche waren auch schon Prominente wie Rapper Moses Pelham oder DJ Ata.

Trotz des ungewöhnlichen Settings geht es wie in anderen Gottesdienstes um Glauben, Religion und «die großen Fragen des Lebens», sagt Pfarrer Lars Heinemann. Jeder Gast erkläre bei einem Podiumsgespräch, warum er speziell diese Songs mitgebracht habe. Bei diesem Teil des Abends werde es oft sehr persönlich.

Während die Musik spielt, stehen die Kirchentüren offen, wie Heinemann erzählt, es herrscht Lebendigkeit im Raum. «Wenn der Segen gesprochen wird, dann halten die Menschen inne, es wird ganz ruhig.» Mit den Vinylgottesdiensten will der Pfarrer Interesse wecken, rund zwei Drittel der Menschen an diesen Abenden gingen sonst selten oder nie in die Kirche. Aber auch bekannte Gesichter aus der Gemeinde seien dabei. «Es geht darum, dass die Menschen einen anregenden, guten Abend verbringen - den sie positiv mit der Kirche verbinden.»

«Die ungewöhnlichen Gottesdienste sollen vor allem ein neues Publikum für die Kirche und den Glauben begeistern», erklärt auch der Sprecher der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Rahn. Tatsächlich klappe das bei konzeptionellen Feiern wie dem Vinylgottesdienst sehr gut. «Was zählt, sind also nicht unbedingt nur volle Kirchenbänke, sondern auch positive Schlagzeilen vor Ort, um zu zeigen: Kirche und Gemeinde ist viel lebendiger und lebensnäher, als es manche Vorurteile besagen», bekräftigt Rahn.

Schlager im Odenwald, Harry Potter in Vellmar

Zu den weiteren besonderen Gottesdiensten in den EKHN-Gemeinden zähle der Schlagergottesdienst im Odenwald, bei dem die Besucher Songs wie «Marmor, Stein und Eisen bricht» und «Aber bitte mit Sahne» mitsingen können. Eine Fortsetzung sei auch für den Darmstädter «Kneipengottesdienst» geplant, der zuletzt in einer Weinstube gefeiert wurde - mit «Predigt vom Fass».

«Wir beobachten ein reges Interesse an diesen besonderen Formaten», erklärt die Sprecherin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), Anja Berens. «So war etwa beim ABBA-Gottesdienst die Melsunger Stadtkirche brechend voll: Rund 700 Menschen waren gekommen – 200 mehr als in die Kirche passen.»

Auch ein Harry-Potter-Gottesdienst in Vellmar habe die Kirchenbänke gefüllt. «Deutlich wird, dass wir Menschen mit unserer Botschaft erreichen, wenn wir dahin gehen, wo sie sich gern aufhalten, wenn wir das Potenzial ungewöhnlicher Orte oder populärer Themen nutzen und Glaubensthemen kreativ vermitteln.»

Whisky und Kirchengeschichte als Lockmittel

Wie beim Whisky-Tasting im Evangelischen Gemeindehaus Niedervellmar im Landkreis Kassel. Zu der Verkostung hatte der Kooperationsraum Ahnatal-Vellmar-Fuldatal des evangelischen Kirchenkreises Kaufungen kürzlich eingeladen. «Die Resonanz war sehr gut. Wir waren mit 32 Teilnehmern voll ausgebucht und hatten noch eine Warteliste», sagt Johannes Kraft, Diakon für das Gebiet im nördlichen Altkreis Kassel. Ziel sei es gewesen, mit jungen Erwachsenen ins Gespräch zu kommen, die nicht zum Gottesdienst gingen und auch sonst nichts mit Kirche zu tun hätten.

«Das ist statistisch gesehen die Gruppe, die am häufigsten aus der Kirche austritt und die gleichzeitig die Möglichkeit hätte, Kirche zu verändern, bevor sie ausstirbt», sagt Kraft. Die Veranstaltung sei kein Gottesdienst gewesen, erklärt er. Und der Whisky sei nur in überschaubaren Mengen geflossen. «Wir haben vielmehr Einblicke in die Herkunft, Herstellung und Verkostung der edlen Tropfen gegeben und dabei den Bogen zur Kirche geschlagen.» Der Legende nach seien es schließlich Mönche gewesen, die den Whisky erfunden hätten.

Gießener Bluesgottesdienst "ist subversiv und radikal"

Zu den ungewöhnlichen Gottesdiensten im Bistum Mainz zählt der «Bluesgottesdienst» in der Gießener Kulturkirche St. Thomas Morus. «Bluesgottesdienste sind anders, keine klassischen Gottesdienste, vielmehr subversiv und radikal, von der Wurzel gedacht. Hier predigt kein Priester am Altar», heißt es in der Einladung. An den Abenden geht es um Fragen wie: Was macht uns Hoffnung? Was bedrückt uns? Was gibt uns Mut und was Vertrauen? Auch um Musik - jedoch einer anderen Stilrichtung - dreht sich in der Pfarrei Hl. Johannes XXIII. im südhessischen Viernheim der Gottesdienst mit Liedern von Reinhard Mey.

Im Bistum Limburg hat der Kirchenraum St. Raphael im mittelhessischen Wißmar seit Ende 2022 seine Türen für «frische Ideen und kreative Begegnungen» geöffnet. Unter dem Titel «Luft nach oben – Für alles, was Dir heilig ist» gibt es neben Gottesdiensten auch Platz für Kunst, Musik oder Kleidertauschpartys, wie das Bistum mitteilt. Bei der Lichterkirche in Dillenburg können über ein Bedienpult Musikstücke, Texte, Gebete oder Meditationen abgespielt werden. Passend dazu wird der Altarraum in ein vordefiniertes Licht getaucht.

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«Für uns ist jeder Gottesdienst etwas Besonderes, da er einen Raum der Begegnung mit Gott schafft. Diese Feier in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen stärkt unseren Glauben», teilt die Pressestelle des Bistums Fulda mit und verweist unter anderem auf Fastnachtsgottesdienste, Segnungsgottesdienste für Tiere sowie besondere Gottesdienste anlässlich des Kirchenjahres, wie Erntedank oder Allerheiligen.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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