Wohin steuert Deutschland? In unserer Serie "Zukunft Deutschland" beleuchtet unsere Redaktion große Herausforderungen, vor denen das Land steht – und die Chancen, die sich daraus ergeben. Zum Auftakt geht es um die Verteidigungsfähigkeit: Die Abwehr eines Krieges hat für die Bundeswehr in den vergangenen 30 Jahren eine untergeordnete Rolle gespielt. Doch Russlands Überfall auf die Ukraine stellt auch Deutschland vor unangenehme Fragen.
Was passiert, wenn Deutschland Ziel eines kriegerischen Angriffs wird? Zugegeben, vor zwei Jahren hätte diese Frage nach Panikmache geklungen. Doch seit dem 24. Februar 2022 ist die Welt bekanntlich eine andere.
Der russische Einmarsch in der Ukraine hat den Schrecken des Krieges zurück nach Europa gebracht. Seit Deutschland und andere westliche Staaten die Ukraine militärisch unterstützen, warnt zudem der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew offen und regelmäßig vor dem Dritten Weltkrieg – und droht mit Raketen auf Berlin.
Die Frage lässt sich also durchaus stellen: Wie gut wäre Deutschland für diesen Fall gerüstet?
Andere Prioritäten nach Ende des Kalten Kriegs
Einen Tag nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hatte der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, für Aufsehen gesorgt: Die Bundeswehr stehe "mehr oder weniger blank da", schrieb der Generalleutnant im Karrierenetzwerk LinkedIn. Zur Verteidigung des Nato-Bündnisses habe man nicht viel anzubieten.
Wahr ist: Die eigene Abwehrbereitschaft hat in den vergangenen 30 Jahren für die Bundeswehr nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt. Nach dem Ende des Kalten Krieges war die gefühlte Kriegsgefahr gesunken. Das Verteidigungsministerium sah Deutschlands Grenzen "auf absehbare Zeit" nicht mehr existenziell bedroht.
Stattdessen rückten der Kampf gegen den Terrorismus und die Friedenssicherung in anderen Teilen der Welt in den Vordergrund: auf dem Balkan und am Horn von Afrika, später in Afghanistan und Mali. Erst Russlands Überfall auf die Krim 2014 sorgte für ein erstes Umdenken.
Von 6.779 Kampfpanzern auf rund 800
Die gefühlte internationale Sicherheit ab Beginn der 90er Jahre hat Spuren hinterlassen. Deutschland habe über internationale Vorgaben hinaus abgerüstet, viele Waffen "verschenkt, verkauft und verschrottet", schrieb das Münchner ifo-Institut im vergangenen Jahr in einer Analyse.
Nur ein paar Beispiele: 1992 verfügte Deutschland über 6.779 Kampfpanzer, 2020 noch über 806. 1992 umfassten die Bundeswehrbestände 1.337 Kampfflugzeuge und -hubschrauber, 2020 noch 345. Dem Bundeswehrverband zufolge fehlt der Truppe Munition im Wert von 20 bis 30 Milliarden Euro.
Die Lücken werden durch die militärische Unterstützung der Ukraine eher größer. "Man muss sich ehrlich machen und sagen, dass die Waffenlieferungen die eigene Verteidigungsfähigkeit abschwächen: Die Bundeswehr gibt Material ab, das sich erst in einigen Jahren wiederbeschaffen lässt. In der Industrie hat die Produktion für die Ukraine gerade Vorrang", sagt Torben Schütz im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Sicherheitsexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gibt allerdings auch zu bedenken: "Wenn man Russland als Gegner in einem möglichen Großkonflikt begreift, muss man auch feststellen: Die Schwächung dieses Gegners ist noch wesentlich größer."
Der Abwehrkampf der Ukraine stellt Deutschland vor unangenehme Fragen: Wäre die Schienen- und Straßeninfrastruktur hierzulande geeignet, Truppen und Gerät in großem Stil zu transportieren? Oder auch: Wie würden sich Drohnenangriffe auf deutsche Städte auswirken?
"Relativ große Drohnen wie die Shahed-Drohnen, die Russland einsetzt, lassen sich mit Flugabwehrraketen und der Luftwaffe relativ gut bekämpfen", sagt Schütz. "Gravierender ist das Problem, wenn es um die Abwehr von kleineren Drohnen geht." Der Krieg in der Ukraine mache gerade die Allgegenwärtigkeit von Kleinstdrohnen in modernen Kriegen deutlich. "Bei deren Abwehr sind wir bis jetzt nicht gut aufgestellt."
Nicht zu vergessen: Sicherheit ist nicht mehr nur eine Frage von "Hardware". Kriege werden auch im virtuellen Raum geführt. Die Ukraine profitiert in dieser Hinsicht von der Zusammenarbeit mit Tech-Konzernen wie Microsoft und Starlink, die die Datensicherheit und die Kommunikation des Staates mit seinen Bürgerinnen und Bürgern gewährleisten.
Die Nato: Sicherheit und Verpflichtung
Natürlich darf man das Thema nicht nur durch die nationale Brille betrachten: Deutschland gehört zum europäisch-amerikanischen Verteidigungsbündnis Nato: Im Falle eines Falles müsste sich die Bundeswehr also hoffentlich nicht allein verteidigen.
"Das Argument darf aber nicht genutzt werden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen", findet Torben Schütz. "Auch die Nato ist nur so gut wie die Summer ihrer Teile." Das Bündnis bringt Sicherheiten wie auch Pflichten mit sich. Die Bundesregierung sieht sich als "Anlehnungspartner" für kleinere Nato-Staaten und bekennt sich in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie zu einer "militärischen Führungsrolle" im Bündnis. Als mitten im Kontinent gelegenes Land spielt Deutschland auch logistisch eine große Rolle als militärische Drehscheibe.
Eine geschrumpfte Truppe
Gesunken ist über die Jahre zudem die Truppenstärke in Deutschland: In den 70er und 80er Jahren bestand die Bundeswehr aus fast 500.000 Soldaten. Nach dem Ende der ersten Ost-West-Konfrontation und dem Aussetzen der Wehrpflicht sank die Zahl beständig auf rund 180.000. Im Mai 2023 leisteten dem Verteidigungsministerium zufolge 181.600 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bei der Bundeswehr, rund 24.100 davon sind Frauen.
Nach der Krim-Annexion rief das Verteidigungsministerium 2016 zwar die "Trendwende Personal" aus. Das Ziel lautete nun: 203.000 Soldaten und Soldatinnen bis zum Jahr 2025. Das Ziel erwies sich aber als zu ehrgeizig: Inzwischen geht das Ministerium davon aus, dass die Zahl erst im Jahr 2031 zu erreichen ist.
Die Bundeswehr zähle mit mehr als 1.000 Berufsbildern zu den größten und vielseitigsten Arbeitgeberinnen des Landes, teilt eine Sprecherin auf Anfrage unserer Redaktion mit. Gleichwohl konkurriert die Truppe mit anderen Arbeitgebern und steht vor den gleichen Herausforderungen: Die Zahl der Schulabsolventen sinkt, gleichzeitig legen immer mehr junge Menschen Wert auf Flexibilität und Gestaltungsfreiheit im Berufsleben.
Wehrbeauftragte: Kaltstartfähigkeit momentan nicht gegeben
Für einen Ernstfall muss die Bundeswehr schnell einsatzbereit – im Militärjargon kaltstartfähig – sein. "Das ist ein sehr fordernder Auftrag, der unseren Soldatinnen und Soldaten viel abverlangt, nämlich die Fähigkeit und die Bereitschaft, im Ernstfall binnen kürzester Zeit eingesetzt zu werden", sagt die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Eva Högl, unserer Redaktion.
Die nötigen Rahmenbedingungen dafür sind aus ihrer Sicht momentan nicht gegeben. Es fehle an Personal, Ausrüstung, Infrastruktur. "Unsere Kasernen sind zum Teil in einem desolaten Zustand. Baufällige Unterkünfte, schimmelnde Duschen, fehlende Sportplätze, Truppenküchen, Lagerhallen und Spinde. Um allein die Infrastruktur zu modernisieren, bräuchte es 50 Milliarden Euro", sagt Högl.
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"Zeitenwende" – zumindest auf dem Papier
Ein Klagelied auf unsere Schutzlosigkeit ließe sich also leicht singen. Allerdings lässt sich auch feststellen, dass das Problem erkannt ist. Bundeskanzler
- Das Sondervermögen für die Bundeswehr wird in den kommenden Jahren mehr Investitionen in die Verteidigung ermöglichen als zuvor. Vom kommenden Jahr an sollen der Bundesregierung zufolge zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung fließen.
- Die internationale Zusammenarbeit ist eng wie nie. Die Bundeswehr wird 4.000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren. Eine niederländische Brigade ist in eine deutsche Panzerdivision integriert. Zusammen mit Frankreich und Spanien entwickelt Deutschland ein gemeinsames Kampfflugzeug.
- Im Juni hat der Bundestag dem Kauf des israelischen Raketenschutzschirms Arrow 3 zugestimmt. Insgesamt 19 Staaten arbeiten bei der Schaffung eines europäischen Schutzschirms (European Sky Shield Initiative) zusammen. Sie wollen unter anderem das Luftverteidigungssystem Iris-T SLM kaufen und die Patriot-Raketenabwehr modernisieren.
- Seit Oktober 2022 gibt es in Berlin das Territoriale Führungskommando der Bundeswehr als zentrales Kommando für Einsätze der Truppe im Inland.
- Militärische Großübungen wie "Air Defender 23" im vergangenen Juni zeigen, dass für Bedrohungsszenarien wieder verstärkt trainiert wird.
Insgesamt habe die Bundeswehr nach dem russischen Überall auf die Ukraine "eine beeindruckende Handlungsfähigkeit bewiesen", findet die Wehrbeauftragte Eva Högl. Diesen Weg müsse man nun konsequent weitergehen.
Der aktuelle Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ist Umfragen zufolge der beliebteste Politiker des Landes – und hätte damit das politische Gewicht, das Thema auf der Agenda zu halten. Auch im Entwurf für den Bundeshaushalt 2024 sei eine Verschiebung von Prioritäten erkennbar, sagt Experte Torben Schütz: hin zur Verbesserung der Einsatzbereitschaft. "Es gibt einige ernstzunehmende Versuche, langwierige Probleme anzugehen." Dazu gehört in erster Linie eine Reform des Beschaffungswesens der Bundeswehr, die noch die glücklose Verteidigungsministerin Christine Lambrecht angeschoben hat.
Gesellschaftliche Debatte ist notwendig
Ob die Reform dem schwerfälligen Beschaffungswesen wirklich Beine macht, muss sich erst noch zeigen. Zudem wird die Geldspritze durch die Zeitenwende kaum ausreichen. "Wenn das Sondervermögen ausläuft, gibt es keine nachhaltige Finanzierung, um das Geplante auch umzusetzen", betont Torben Schütz.
Bundeskanzler Olaf Scholz will aus der Bundeswehr die "am besten ausgestattete Streitkraft Europas" machen. Das wäre wohl eine Generationenaufgabe in einem Land, das auch viele andere Herausforderungen für die Zukunft schultern muss. Hinzu kommt: Pazifismus hat zumindest in einem Teil der deutschen Bevölkerung Tradition. Militarismus stehen viele Menschen hierzulande eher skeptisch gegenüber.
Deswegen müssen wir uns auch fragen: Wollen wir das? Und was ist es uns wert? Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen.
Die Juristin Dr. Eva Högl war von 2009 bis 2020 Mitglied des Bundestages. Von 2013 bis 2020 war sie dort stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, zuständig für die Bereiche Inneres und Recht. Seit dem 25. Mai 2020 ist sie als Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages für die Kontrolle der Streitkräfte zuständig, gilt aber auch als Anwätin der Soldatinnen und Soldaten.
Torben Schütz hat Politikwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover studiert, ist "Associate Fellow" bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Doktorand an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Er beschäftigt sich unter anderem mit deutscher und europäischer Sicherheitspolitik, militärischen Fähigkeiten und Militärtechnologie.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Torben Schütz
- Schriftliche Stellungnahmen von Eva Högl
- Alfons Mais auf LinkedIn
- Bundesverteidigungsministerium, Pressestelle
- Bundesverteidigungsministerium: Kompetente Antworten auf Fragen zur ersten Nationalen Sicherheitsstrategie
- ifo-Institut: Sind wir noch bedingt abwehrbereit? Die Entwicklung der deutschen Verteidigungsfähigkeit seit dem Ende des Kalten Krieges
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