Ist die militärische Unterstützung der Ukraine richtig oder gefährlich? In Deutschland wird darüber teils unversöhnlich diskutiert. Nicole Deitelhoff, Leiterin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, erklärt im Interview mit unserer Redaktion: Es fehlt uns an Erfahrung, über Krieg und Frieden zu diskutieren – aber womöglich lernen wir es gerade.
Frau Deitelhoff, in der öffentlichen Diskussion über den russischen Krieg gegen die Ukraine stehen sich die Lager oft unversöhnlich gegenüber. Wer für die militärische Unterstützung der Ukraine ist, ist in den Augen der anderen ein Kriegstreiber. Wer dagegen ist, gilt als naiv oder als Russlandversteher. Woher kommt das?
Nicole Deitelhoff: Viele in unserer Gesellschaft haben den Eindruck, dass sie keine Kriegserfahrung haben, weil Kriege immer nur in anderen Teilen der Welt stattfinden. Natürlich, es gab in den 90er Jahren die Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien. Für viele sind diese Erfahrungen aber nicht so nah gekommen, wie es jetzt der Fall ist: Zur Flucht der Menschen aus der Ukraine und zur Sorge vor einer nuklearen Eskalation kamen im Winter auch die Angst um die Energieversorgung und die Inflation bei den Lebensmittelpreisen. Man sollte auch bedenken: Wir kommen gerade aus einer schweren Krise. Die Corona-Pandemie war für viele Menschen eine Phase massiver Unsicherheit. Da ist viel Diskussionskultur verlorengegangen. Man legt jedes Wort des anderen auf die Goldwaage und vermutet dahinter Böses. Das beobachten wir auch jetzt wieder.
Wir haben also vorher zu wenig über Krieg und Frieden diskutiert?
Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind immer noch ein bisschen die Schmuddelkinder der Bundesrepublik. Politische Debatten werden vor allem über Innenpolitik geführt. Auch über die großen Auslandseinsätze der Bundeswehr gab es kaum große Debatten – selbst wenn die Politik versucht hat, sie anzustoßen.
Können wir denn noch lernen, konstruktiv über diese Themen zu diskutieren?
Ich glaube, wir sind gerade dabei. Wenn ich mir die vergangenen 14, 15 Monate anschaue, habe ich den Eindruck, dass mehr Differenzierung in der Debatte möglich ist. Im vergangenen Herbst und Sommer gab es noch mehr Extrempositionen und jede Abweichung davon wurde sofort bestraft. Wir lernen gerade, uns zuzuhören und Zwischentöne und gegensätzliche Meinungen zuzulassen.
Woran machen Sie das fest?
Die Polarisierung auf Twitter war zum Beispiel lange extrem groß. Inzwischen liest man dort mehr differenzierte Positionen. Es heißt dann nicht mehr nur: Waffen, jetzt und sofort! Es geht häufiger um die Frage, was passieren müsste, damit es zu Verhandlungen kommt. Ich habe auch das Gefühl, dass die Zahl direkter Diffamierungen zurückgegangen ist.
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Nicole Deitelhoff: "Je stärker Angst und Furcht eine Debatte bestimmen, desto schlechter ist ihre Qualität"
Besteht nicht auch die Gefahr, dass wir uns zu sehr an diesen Krieg gewöhnen? Im Februar 2022 schien die ganze Welt über Nacht eine andere geworden zu sein. Inzwischen gehört der Krieg offenbar zum Alltag.
Eine gewisse Normalisierung ist erst einmal gut. So kommen wir aus dem Ausnahmezustand heraus, der nicht gut für die Debatte ist. Je stärker Angst und Furcht eine Debatte bestimmen, desto schlechter ist ihre Qualität. Ich sehe diese Gefahr aber auch: Als der Krieg Anfang dieses Jahres immer mehr zu einem Stellungskrieg wurde, gab es kaum neue Nachrichten. Wenn die angekündigte Offensive der Ukraine keine Gewinne bringt, kann das auch in Zukunft wieder passieren. Dann wird der Nachrichtenwert sinken, die Menschen werden sich anderen Themen zuwenden und die Unterstützung für die Ukraine wird abnehmen. Diese Gefahr sehe ich definitiv.
Wir sprechen inzwischen fast jeden Tag über Waffenlieferungen, als wäre das etwas ganz Normales. Hat der Krieg zu viel von seinem Schrecken verloren?
Ich beobachte manchmal eine gewisse Tendenz zur Infantilisierung. Es gibt zum Krieg Memes und Bilder und Karikaturen, die ich zum Teil durchaus problematisch finde. Krieg ist und bleibt nichts anderes als das befehlsmäßige Töten und Vernichten des Gegners – vollkommen egal, ob man sich verteidigt oder angreift. Auf der anderen Seite haben wir jetzt die Möglichkeit, uns mit diesen wichtigen Fragen auseinanderzusetzen: Was für ein Gemeinwesen wollen wir haben? Sind wir bereit, es zu verteidigen? Wozu brauchen wir Waffen und die Bundeswehr? Warum wollen wir in der Nato sein? Viele Menschen im Land stellen sich jetzt zum ersten Mal diese Fragen zu Krieg und Frieden – und auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten. Wir müssen sie zunächst mal hören und uns austauschen. Das ist ein schmerzhafter Prozess.
Sie kritisieren, dass in Deutschland zu wenig über gefallene Soldaten gesprochen wird. Woran machen Sie das fest?
Andere Staaten veranstalten für ihre Kriegsversehrten große Paraden oder Zeremonien. Wir haben zwar auch in Deutschland beispielsweise die Kriegsgräberfürsorge, aber eigentlich wird über dieses Thema wenig öffentlich gesprochen. Mit Einschränkungen gab es diese Ansätze zum Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Das Gedenken an die Soldaten ist aber eher ein Verwaltungsakt – und wird zu wenig öffentlich gewürdigt.
Die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Friedensgedanken zu verbreiten. Wie einfach ist das noch, wenn der Krieg so eine große Rolle spielt?
Es ist nicht unbedingt schwieriger geworden, den Gedanken zu verbreiten. Wir als Friedens- und Konfliktforscher denken aber verstärkt darüber nach, wie wir den Begriff Frieden ausleuchten. Kann Frieden nur ohne Gewaltmaßnahmen gedacht werden? Oder müssen wir Frieden nicht eigentlich breiter verstehen und feststellen, dass er in bestimmten Situationen nur mit Waffengewalt herzustellen und zu sichern ist?
Mussten Sie da auch selbst umdenken?
Es gab bei uns sehr kontroverse Diskussionen und wir sind auch heute nicht alle einer Meinung. Wir lassen diese unterschiedlichen Ansichten als Institut auch zu, damit wir immer wieder diskutieren und unsere eigenen Annahmen auf die Probe stellen.
"Es gibt in diesem Krieg kaum noch neutrale Vermittler"
Sie können nicht in die Glaskugel schauen. Sie haben aber als Friedens- und Konfliktforscherin viel Erfahrung: Wie sieht der wahrscheinlichste Weg zu einem Frieden in der Ukraine aus?
Ich bin überzeugt, dass es gefährlich wäre, auf einen rein militärischen Sieg oder eine Niederlage zu setzen. Vermutlich wird eine ukrainische Frühjahrsoffensive nicht zu einem einfachen Durchmarsch der Ukraine führen. Es kann aber sein, dass sie Russland in eine Situation bringt, in der die russische Armee nicht mehr viele Fortschritte machen kann. In diesem Fall könnte es zu ersten Annäherungen, zumindest zu Vorgesprächen kommen. Friedensverhandlungen werden aber bestimmt sehr langwierig. Wir werden möglicherweise immer wieder ein Aufflammen der Gewalt erleben, bevor es einen Waffenstillstand gibt. Vermutlich kommt man zunächst nur zu einem vorläufigen Abkommen, das gewisse territoriale Fragen offenlässt.
China hat sich als Vermittler ins Spiel gebracht. Könnte Deutschland bei möglichen Verhandlungen ebenfalls vermitteln? Dazu hat sich die Bundesregierung wohl zu deutlich positioniert.
Es gibt in diesem Krieg kaum noch neutrale Vermittler. Das gilt auch für die chinesische Regierung, die ihre grenzenlose Partnerschaft mit Russland immer wieder beteuert hat. Es wird wohl auf eine ganze Vermittlungsgruppe hinauslaufen – mit verschiedenen Akteuren, die unterschiedliche Perspektiven haben und jeweils bei einer Kriegspartei Vertrauen genießen. So eine Gruppe könnte zwischen den Seiten vermitteln und Vorschläge unterbreiten.
Wird in diesem Krieg vielleicht schon mehr verhandelt, als wir wissen?
Es wird vielleicht noch nicht verhandelt, aber bestimmt vorbesprochen. Und das ist fast genauso wichtig: Verhandlungen müssen geplant und entworfen werden. Man spricht im Vorfeld darüber, wer für eine solche Kontaktgruppe infrage kommt. Man spricht darüber, welche Zugeständnisse für die beiden Seiten verkraftbar wären und wo die nicht akzeptablen Schmerzpunkte liegen. Diese Vorgespräche müssen aber unter völliger Verschwiegenheit stattfinden, sonst sind sie von vornherein zum Scheitern verurteilt.
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