• Ein Jahr nach seiner Zeitenwende-Rede hat Olaf Scholz im Bundestag Bilanz gezogen.
  • In einer Regierungserklärung lobte der Bundeskanzler die Anstrengungen seiner Koalition – und des ganzen Landes.
  • CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz kritisiert dagegen: Die Zeitenwende bleibe hinter den Erwartungen zurück.

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Am Anfang erinnert das Bild im Bundestag am Donnerstag an den 27. Februar des Vorjahres. "Putins Imperialismus darf sich nicht durchsetzen", sagt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Applaus erklingt nicht nur in den Fraktionen der Ampel-Koalition, sondern auch bei CDU/CSU.

Scholz betont die Gemeinsamkeiten mit seinen Koalitionspartnern und der Opposition. Den Unionsparteien dankt er für die Unterstützung des Ukraine-Kurses. Seiner Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) dankt er für ihren Einsatz für eine Resolution der UNO-Vollversammlung gegen Russlands Einmarsch im kleineren Nachbarland. Der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev verfolgt die Debatte von der Tribüne aus und hebt den Daumen. Demonstriert die deutsche Politik hier einen großen Schulterschluss wie ein Jahr zuvor?

"Zeitenwende": Ein Wort machte Karriere

Es gelingt Politikern nicht sehr häufig, einen neuen Begriff in die öffentliche Debatte zu bringen. Vor einem Jahr war das aber der Fall. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sei eine "Zeitenwende", sagte Scholz am 27. Februar 2022 in einer denkwürdigen Sondersitzung des Bundestags. Der Begriff machte große Karriere, wurde unzählige Male zitiert, kritisiert, wiederverwendet. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte die "Zeitenwende" 2022 zum Wort des Jahres.

Was Scholz damals ankündigte, war in der Tat ein Bruch mit bundesrepublikanischen Gewissheiten: Deutschland wird der Ukraine Waffen zur Verteidigung liefern. Deutschland wird ein 100 Milliarden Euro teures Sondervermögen für die Auf- und Ausrüstung der Bundeswehr auflegen. Deutschland wird in Zukunft zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben.

Inzwischen liefert Deutschland nicht nur Waffen und Munition an die Ukraine, die Liste der Lieferungen und Zusagen der Bundesregierung wird immer länger: Raketenwerfer und ein Luftabwehrsystem, Panzerhaubitzen, Flugabwehr-Panzer, Schützenpanzer, Kampfpanzer.

In Deutschland haben in den vergangenen Wochen Tausende Menschen gegen diese Waffenlieferungen und für Verhandlungen demonstriert. Zu diesen Forderungen kommt von Scholz ein klares Nein: "Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln", sagt er. Verhandlungen könne es nicht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg geben. "Friedensliebe heißt nicht Unterwerfung unter einen größeren Nachbarn."

Der Kanzler zieht ein positives Fazit nach einem Jahr Zeitenwende: Deutschland sei "der zentrale Ausbildungsort" für ukrainische Soldaten in Europa. Ein Großteil des Sondervermögens solle in diesem Jahr "unter Dach und Fach" sein. Zudem lobt Scholz die Anstrengungen, die das ganze Land unternommen habe, um die wirtschaftlichen Folgen des Krieges zu mildern. "Wir sind gut durch den Winter gekommen – auch ohne russische Energielieferungen", sagt er. "Und hinter diesem 'Wir' steht unser ganzes Land."

Friedrich Merz: "Wir entfernen uns vom Ziel"

Aus der CDU/CSU-Fraktion kam zuvor vereinzelter Applaus. Auch Fraktionschef Friedrich Merz knöpft sich zunächst die anderen Oppositionsparteien Linke und AfD vor: Ihnen wirft er im Ukraine-Krieg eine Täter-Opfer-Umkehr vor. In Wirklichkeit sei es so, sagt Merz: "Wenn heute Russland die Waffen niederlegt, dann ist morgen der Krieg zu Ende. Wenn heute die Ukraine die Waffen niederlegt, dann ist morgen das ukrainische Volk und der Staat am Ende."

Dann geht der Oppositionsführer allerdings zum Angriff auf die Bundesregierung über: Was folge aus der Ankündigung der Zeitenwende? Der Verteidigungshaushalt sei 2023 niedriger als 2022, das Zwei-Prozent-Ziel nicht erreicht. "Wir entfernen uns von diesem Ziel, wir nähern uns ihm nicht", kritisiert Merz.

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Vom 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen seien erst 600 Millionen Euro ausgegeben. "Weitere Bestellungen lassen auf sich warten", so Merz. Die versprochene nationale Sicherheitsstrategie sei ebenfalls nicht zustande gekommen. Die "tiefzerstrittene Koalition" ringe um Zuständigkeiten, statt Antworten zu geben. "Sie bleiben heute ein Jahr nach dem Beginn des Krieges weit hinter den selbst gesetzten Ansprüchen ihrer Zeitenwende zurück", sagt er zum Kanzler.

Christian Dürr (FDP): "Wir standen vor einem Scherbenhaufen"

Auch Scholz' Koalitionspartner Grüne und FDP hatten dem SPD-Kanzler in letzter Zeit immer wieder Zögerlichkeit vorgeworfen. An diesem Tag aber schließen sie die Reihen der Koalition. "Die Ukraine braucht die Unterstützung – und zwar humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen. Sonst könnte sie sich nicht selbst verteidigen, und sie hat jedes Recht, das zu tun", sagt Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann.

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr betont, die Ampel habe viele überfällige Entscheidungen getroffen, um die eigene und die europäische Außen- und Sicherheitspolitik an die neue Weltlage anzupassen: "Wir standen vor einem Scherbenhaufen – und diese Bundesregierung hat den Hebel umgelegt." Die Koalition habe Verantwortung übernommen und steuere das Land durch mehrere Krisen, sagt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich.

Dietmar Bartsch beklagt "unsägliche Verengung des Meinungskorridors"

AfD-Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla wirft Regierung und Union dagegen "Kriegsrhetorik" vor. "Es ist nicht unser Krieg", sagt Chrupalla, das Reden über mögliche Gewinner und Verlierer hält er für falsch. Allerdings macht er auch selbst dabei mit. "Es gibt einen Gewinner: Und dieser Gewinner heißt USA", so Chrupalla. Die Amerikaner nennt er: "die ehemaligen Besatzer".

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch setzt einen anderen Ton. Russland habe einen "unerträglichen Angriffskrieg" gegen die Ukraine angezettelt, betont er zu Beginn. Das umstrittene Friedensmanifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer hätten auch Mitglieder von CDU und SPD unterschrieben, sagt Bartsch - und wirft Friedrich Merz vor, eine "ziemlich große Klappe" zu haben.

Gleichwohl verteidigt Bartsch die Forderung nach Friedensverhandlungen. Wer darauf poche, der werde in der Öffentlichkeit als naiv oder russlandfreundlich dargestellt. "Das ist eine unsägliche Verengung des Meinungskorridors und das schadet der Demokratie in diesem Land", ruft Bartsch.

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