Der ukrainische Botschafter in Deutschland hat am Mittwochabend bei "Maischberger. Die Woche" der deutschen Verteidigungsministerin die Verbreitung von Unwahrheiten vorgeworfen und forderte mehr Waffenlieferungen. Gregor Gysi lobte - früher völlig undenkbar - das Vorgehen der Nato und warnte vor der Eskalation des Ukraine-Kriegs. Und ein FDP-Politiker will Wladimir Putin vor dem Kriegsverbrechertribunal sehen.
Das war das Thema
Waren die Morde an Zivilisten im Kiewer Vorort Butscha eine Zäsur im Ukraine-Krieg? Und sollten die Europäische Union und Deutschland weiter Milliarden Euro für Energieimporte an Russland überweisen?
Dies waren nur zwei aktuelle Fragen, mit denen sich
Das waren die Gäste
"Und Herr Lawrow (der russische Außenminister – Anm. d. Red.) noch dazu". Die Politik des Appeasements sei gescheitert. Für die enorme Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie zeigte Strack-Zimmermann kein Verständnis. "Das ist eine Tragödie".
Auch von seiner alten Kritik an der Nato hat sich Gysi inzwischen weitgehend verabschiedet. Und er sorgte sich um das Wohlergehen der Armen und Schwachen als Folge des Kriegs. Es würden "Millionen sterben", so seine drastische Warnung, wenn das ukrainische und russische Getreide dieses Jahr nicht exportiert werden kann". Gysi traut dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu, dass er sich nicht darum schert.
Andrij Melnyk: Der ukrainische Botschafter in Deutschland begrüßte nach seiner harschen Kritik am russlandfreundlichen Kurs von Ex-Außenminister
Er befürchtet, dass weitere Massaker und Gräueltaten geschehen sind. Daher müssten nun weitere Beweise für ein Kriegsverbrecher-Tribunal gefunden werden. Bleibt die Frage, wie angesichts solcher Maximalforderungen ein Frieden mit der russischen Führung verhandelt werden soll. Schließlich bezeichnete Melnyk es als falsch, dass es noch kein Energieembargo gegen Russland gebe und forderte ein Ende der Salamitaktik, das heißt der schrittweisen Verschärfung der Sanktionen.
Ulrich Wickert: "Die deutsche Sicherheitspolitik hat sich um 180 Grad gedreht", stellte der Autor und Moderator fest. Nato und EU rücken näher zusammen. Es sei eine Zeit, die etwas verändert.
Die Gräueltaten von Butscha nannte "Mr. Tagesthemen" einen "sehr emotionalen Moment". Dennoch sah Wickert darin keine Zäsur des Krieges. Die Nato werde trotzdem keine Flugverbotszone durchsetzen und Deutschland keine Panzer an die Ukraine liefern.
Anna Sauerbrey: Die "Zeit"-Journalistin machte auf die Folgen des Wirtschaftskrieges gegen Russland aufmerksam, die wir "noch gar nicht ermessen" und mit denen wir und die Welt "noch sehr lange zu tun" hätten. Zudem entlarvte sie Russlands Erklärungsansätze, wie die Toten von Butscha angeblich ums Leben gekommen seien, als Lügen.
"Das ist alles falsch", sagte Sauerbrey über die russische Propaganda, die die Massaker unter anderem als Inszenierung der USA bezeichnet hatte. Satellitenbilder beweisen das Gegenteil.
Gabor Steingart: Der Journalist und Publizist ("The Pioneer") gab zu, dass auch er sich in Putin geirrt habe. "Ich habe ihm diese Gräueltaten nicht zugetraut", sagte Steingart und widersprach zugleich der Kritik Melnyks an der früheren deutschen Regierung. "Der Weg von den Leichen von Butscha führt nicht zum Kanzleramt von Frau
Steingart ist Anhänger eines sofortigen deutschen Gas-Embargos Russlands. "Worauf wartet der Bundeskanzler, um unsere schärfste Waffe zu ziehen?", fragte er und stellte ernüchtert fest: "Die Patrone bleibt im Revolver."
Seine ein wenig zynisch klingende Formel sah so aus: "Die Menschen in der Ukraine geben ihr Leben, wir geben einen Teil unseres Reichtums." Für das untere Drittel der Gesellschaft seien die Preissteigerungen aber "brutal". Da braucht es in den Augen Steingarts die Hilfe des Staats.
Das war der Moment des Abends
Es war harter Tobak, den Andrij Melnyk über die deutsche Verteidigungsministerin
Lambrechts Darstellung, dass Deutschland der Ukraine mehr Waffen liefere als öffentlich bekannt und dies nur aus strategischen Gründen geheim halte, bezeichnete Melnyk als falsch. "Wir haben leider keinen offenen Dialog darüber, was wir brauchen." Und überhaupt: Im politischen Betrieb in Berlin höre man "viele Märchen". Melnyk hofft künftig auf eine bessere Kommunikation und mehr Lieferungen von schweren Waffen aus Deutschland.
Übrigens: Marie-Agnes Strack-Zimmermann wollte Melnyiks Darstellung nicht direkt kommentieren. "Ich kann das nicht beantworten. Ich will das auch nicht." Es werde zurzeit sehr viel erzählt, ergänzte sie. "Es wird auch viel Stuss erzählt". Ob sie damit direkt den Botschafter gemeint hat, blieb offen.
Das war das Rededuell des Abends
Was kann den Krieg in der Ukraine schneller beenden? Waffenlieferungen oder ein Energie-Embargo Russlands? Uli Wickert und Gabor Steingart kamen da auf keinen grünen Zweig. Als militärischer Laie, so Wickert, würde er jetzt das machen, was den Krieg am schnellsten beenden kann: "Waffen können es am allerbesten."
Er geht davon aus, dass der Krieg durch eine noch massivere Aufrüstung der Ukraine in zwei bis drei Monaten vorbei wäre. Steingart widersprach energisch: "Das wissen wir nicht so genau, Uli. Hinter den Waffen steckt Geld. Die Russen brauchen dringend Geld", gab er zu Bedenken: Doch Wickert blieb bei seinem Punkt: "Da bin ich anderer Meinung."
Lesen Sie auch: Alle aktuellen Informationen zum Krieg in der Ukraine im Live-Ticker
So hat sich Sandra Maischberger geschlagen
Den einzigen Vorwurf, den man Sandra Maischberger am Ende ihrer Sendung machen konnte, war der Umgang mit Andrij Melnyk. Zum Beispiel hätte sie den ukrainischen Botschafter fragen können, ob seine harsche Kritik an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) im Ton angemessen ist.
Schließlich üben beide ihre früheren Ämter nicht mehr aus und können sich daher schlecht verteidigen – auch wenn es Steinmeier nun trotzdem tat. Auch bei Gregor Gysi hätte die eine oder andere kritischere Frage zu seinen früheren Positionen gegenüber Russland der Sendung gutgetan.
Das ist das Fazit
Wenn selbst Gregor Gysi mit der Nato übereinstimmt, dann ist eigentlich schon alles gesagt: Der Ukraine-Krieg hat selbst viele der größten Kritiker des westlichen Militärbündnisses ins Boot geholt. Und so herrschte bei vielen der großen Fragen an diesem Abend im Grunde Einigkeit.
Gysi stimmte etwa ausdrücklich der Nato-Politik zu, keine Flugverbotszone über der Ukraine etablieren zu wollen. Denn dies würde bedeuten, notfalls auch auf russische Flugzeuge zu schießen. "Dann hätten wir den Dritten Weltkrieg". Was im Übrigen auch das Ende "unserer Landes bedeuten" würde, so der frühere Vorsitzende der Linkspartei.
Gysi war jedenfalls sicher, dass Putin mit seinem Krieg gegen das Nachbarland sein eigenes Ende eingeleitet hat. Nur wann es komme, da war sich der 74-Jährige nicht sicher. Sogar Andre Melnyk gab noch etwas zuversichtlich stimmendes zu Protokoll. Obwohl er in einem kürzlich erschienenen Interview sagte, alle Russen seien derzeit die Feinde der Ukraine, stellte er klar, dass das nicht immer so bleiben werde. Der Krieg wird schließlich nicht ewig weitergehen und "die Versöhnung wird kommen."
Wäre eigentlich ein schönes Schlusswort gewesen, doch Maischberger hetzte in den letzten knapp 15 Minuten der Sendung durch die aktuelle Corona-Lage und das Auslaufen der Schutzmaßnahmen. Da war der Tenor trotz der hohen Inzidenzen recht entspannt.
Steingart freute sich über das Vertrauen in die Eigenverantwortung der Bürger und auch Anna Sauerbrey kann mit den Lockerungen gut leben. Was sagen die Experten zu Pannen-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der die Abschaffung der Quarantäne-Pflicht kürzlich in einer Talkshow kassierte? "Es ist für mich eine Katastrophe", sagte Ulli Wickert.
Für einen Rücktritt reicht das Verhalten aus Sicht Sauerbreys aber nicht aus. Und auch die Impfpflicht werde aus Sicht des Experten-Trios in der baldigen Bundestagsabstimmung nicht beschlossen werden - was niemand wirklich bedauerte.
15 Minuten Corona und 60 Minuten Krieg: Das einst bestimmende Talkshow-Thema, so eine weitere Erkenntnis des Abends, wird inzwischen nur noch nebenbei abgefrühstückt. Die Zeiten haben sich geändert.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.