• Mit der Berufung der zuvor ausgemusterten Weltmeister Thomas Müller und Mats Hummels gesteht Bundestrainer Joachim Löw kurz vor der EM ein, dass sein personeller Umbruch gescheitert ist.
  • "Viele Spieler haben ihre Chancen nicht genutzt", stellt ARD-Experte Bastian Schweinsteiger fest.
  • Wenige Tage vor dem Start in die Europameisterschaft fehlt der Nationalelf eine klare Handschrift. Es gibt mehr Fragen als Antworten.
Eine Analyse

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Man kann das schon so sehen wie Bastian Schweinsteiger. Der hat in seiner Funktion als Experte bei der ARD neulich ein paar Sätze fallen lassen, die eigentlich für großes Aufsehen hätten sorgen können.

"Der Weg, den man eingeschlagen hat nach der WM 2018, muss man sagen, der ist gescheitert", sagte der ehemalige DFB-Kapitän. "Viele Spieler haben auch nicht ihre Chancen genutzt, die sie bekommen haben in der Nationalmannschaft." Die dazu passenden Namen nannte er allerdings nicht.

Das sind harte Aussagen unmittelbar vor einem EM-Turnier, wo so ein Umbruch ja erst einem richtigen Test unterzogen wird. Immerhin stützt sich Schweinsteiger auf einige Indizien, die offenkundig sind. Die herbe Niederlage gegen Nordmazedonien etwa oder den kompletten Ausfall aller Systeme beim historischen 0:6 gegen Spanien.

Auch auf die vielen Gegentore selbst gegen vermeintlich schwächere Nationen. Auf das Hin und Her von Bundestrainer Joachim Löw in den Fragen der taktischen Ausrichtung: Mal mit Vierer-, dann wieder mit einer Dreierkette, mal mit der Doppel-Sechs im Mittelfeld, dann wieder mit zwei Halbraum-Achtern. Mal dominant im Positionsspiel, dann wieder eher reaktiv und auf Umschaltmomente lauernd.

Deutschland ist eine Wundertüte

Tatsächlich ist es so, dass die deutsche Mannschaft vor dem ersten von zwei Testspielen Mittwochabend gegen Dänemark wie eine große Wundertüte daher kommt. Während alle anderen Favoriten oder großen Nationen eine klare Identität besitzen, eine Handschrift und einen hohen Wiedererkennungswert, bietet die DFB-Auswahl so viel Raum für Spekulationen wie selten im Vorfeld eines großen Turniers.

Von einem Ausscheiden bereits in der Gruppenphase ist ebenso auszugehen wie vom EM-Titel. An einem guten Tag schlägt diese Mannschaft jeden Gegner der Welt. An einem schlechten Tag verliert sie gegen Nordmazedonien. Dieses Grundvertrauen in eine gefestigte Basis, auf die sich die Nationalmannschaft seit der Heim-WM 2006 immer verlassen konnte, bröckelt. Und das ist Nachteil wie Vorteil zugleich.

Es ist ein Problem, weil selbst mit den erfahrensten Spielern auf dem Platz, mit Manuel Neuer, Toni Kroos und Ilkay Gündogan eine Kernschmelze wie gegen Spanien nicht aufzuhalten war - und weil auch die "neue" Generation um Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Kai Havertz, Leroy Sane, Serge Gnabry eine Niederlage gegen Nordmazedonien nicht abwenden konnte.

Das Grundvertrauen ist schwer erschüttert, die Nachwehen des WM-Desasters von Russland trägt die Mannschaft, trägt der Bundestrainer, immer noch mit sich herum. Deshalb ja auch der ausgerufene Neuanfang im Herbst 2018. Aber, da hat Schweinsteiger wohl Recht: So richtig schlüssig erscheint das bisher nicht.

Großer personeller Umbruch für die EM

Joachim Löw hat für die Spiele der Gruppenphase eine andere taktische Ausrichtung ausgerufen als bei seinem letzten Turnier vor drei Jahren. Das Ballbesitzspiel wird gegen Frankreich und Portugal einem sehr konterlastigen Ansatz weichen. Dafür ist der Kader im Angriff konzipiert mit den flinken Spielern wie Sane, Gnabry oder Timo Werner. Ein kleines Revival ist gegen die Ungarn zu erwarten, die ihrerseits eher defensiv spielen dürften und Deutschland dann wieder die "alten" Lösungen im Positionsspiel benötigt.

Das sollte aber auch im weiteren Turnierverlauf - so er denn zustande kommt - gegen dann immer stärkere Gegner eine Ausnahme bleiben. Insofern ist Löws Planänderung hin zu mehr Umschaltphasen in der Offensive schon stringent und auch die Auswahl seiner Spieler deutet darauf hin.

Der Bundestrainer hat seinen Kader durchaus stark verändert. Im Vergleich zum letzten großen Turnier in Russland fehlen elf der damals 23 nominierten Spieler, nur Marc-Andre ter Stegen und Marco Reus sind unfreiwillig nicht mehr dabei. Dafür hat Löw insgesamt 14 neue Spieler im Kader, der personelle Umbruch ist also auf jeden Fall vollzogen.

Nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen

Über die dritte und womöglich entscheidende Ebene lässt sich wenige Tage vor dem Start ins EM-Turier aber allenfalls trefflich spekulieren. Neben den personellen und taktischen Änderungen wird es vor allem auch darauf ankommen, wie sich die 26 Spieler als Mannschaft präsentieren. Löw sprach nun schon mehrfach davon, dass die Entwicklung einer Gewinnermentalität im Trainingslager von Seefeld von größter Bedeutung ist.

Vielleicht hilft dabei die Blase, in der sich die Spieler wegen der Corona-Lage auch in ihrer Freizeit bewegen müssen. Vielleicht ist sie aber auch hinderlich, Stichwort Lagerkoller.

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Jedenfalls dient auch hier das Beispiel Russland als abschreckende Warnung. Das DFB-Quartier im mittlerweile fast schon berüchtigten Watutinki war ein Fehlgriff und der Anfang vom Ende aller Hoffnungen. Dazu kamen die Querelen im Vorfeld des Turniers, unter anderem um Mesut Özil und Gündogan und deren Auftritt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Damit vorbelastet gerieten die Testspiele unmittelbar vor der Abreise nach Russland zu Rohrkrepierern. Die Mannschaft verpasste es, dort Fahrt aufzunehmen und auch ein wenig Euphorie im Land zu erzeugen und ging im fatalen Glauben an ihre Überlegenheit in einer machbaren Gruppe komplett unter.

Diese Gefahr der Arroganz und Ignoranz den Gegnern gegenüber dürfte für die EM auszuschließen sein. Wie es aber um den Teamgeist steht und wie die Mannschaft die Reintegration der Führungsspieler Mats Hummels und Thomas Müller verträgt, bleibt offen.

Neues, altes Machtgefüge

Bisher zumindest erweckt der Tross in Seefeld einen guten Eindruck und nicht den jener Cliquenbildung, die in Russland schleichend um sich griff und das Klima vergiftete. Hummels und Müller sehen sich zwar als Anführer, wollen den nachgerückten Spielern wie Kimmich, Goretzka oder Rüdiger aber nicht ihren neu erlangten Status streitig machen.

Vielmehr sollen sie eine zusätzliche Ebene einbringen, sowohl mit ihrer Präsenz auf dem Platz als auch in der Kabine oder eben im Teamquartier. An der Leader-Frage hat sich auf dem Papier also wenig verändert.

Neuer bleibt als Kapitän der Kopf der Mannschaft und der Anfang einer starken Achse, zu der Hummels, Müller und Kroos gehören. Wobei der durchaus auch ein wenig um seinen Platz bangen muss. Kroos kommt aus einer 14-tägigen Quarantäne, wird das Spiel gegen Dänemark noch verpassen und hat in seinem Mannschaftsteil enorm starke Konkurrenz.

Mit Kimmich und Goretzka sind längst auch meinungsstarke Kontrahenten erwachsen, die dem einzigen Feldspieler der Goldenen Generation, der das Großreinemachen nach der WM sportlich überlebt hat, richtig Druck machen.

Aber ein bisschen Reibung und Konkurrenzkampf gehören dazu, wenn man Großes erreichen will. Das war schon immer so und wird sich auch nie ändern.

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