- Obwohl die Corona-Zahlen in England stark ansteigen und London ein Hotspot ist, werden bei den beiden EM-Halbfinals und dem Finale am Sonntag bis zu 60.000 Zuschauer im Wembley-Stadion sein.
- In Schottland, Finnland und Dänemark werden viele Neuinfektionen mit der Europameisterschaft in Verbindung gebracht.
- Virologen befürchten, dass die EM ein Superspreader-Event sein könnte.
Die Spannungskurve der Europameisterschaft strebt dem Höhepunkt entgegen: Am Dienstag und am Mittwoch finden in London die beiden Halbfinals statt. Unglücklicherweise zeigt die Kurve der Corona-Neuinfektionen in England und speziell in der Hauptstadt ebenso steil nach oben.
Während der Höhepunkt des Fußballturniers mit dem Finale am Sonntagabend im Londoner Wembley-Stadion klar terminiert ist, lässt sich nur darüber spekulieren, wo die durch die aggressive Delta-Variante des Coronavirus ausgelöste Infektionswelle hinführen wird.
Die Zahlen sind jedenfalls sehr beunruhigend. Als die EM am 11. Juni begann, verzeichnete England laut der Daten der Johns-Hopkins-University 7.960 neue Fälle von COVID-19. Am 1. Juli waren es bereits 27.646 Neuinfektionen. Innerhalb von knapp drei Wochen hat sich die Zahl der neuen Fälle also mehr als verdreifacht. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag am Montag bei 216.
Lesen Sie auch: Alle aktuellen Informationen rund um die Corona-Pandemie in unserem Live-Blog
Wird die Europameisterschaft zum Superspreader-Event?
Dass angesichts dieser Zahlen am Dienstag Spanien und Italien und am Tag darauf Dänemark und Gastgeber England vor jeweils bis zu 60.000 Zuschauern in London die Finalisten der EM ermitteln sollen, erscheint unverantwortlich. Nur vier Tage später steht das Finale an, wieder vor 60.000 Zuschauern.
In Deutschland durfte man phasenweise nur eine Person außerhalb des eigenen Hausstands treffen, im Hotspot London stehen drei Großveranstaltungen in kurzer Zeit an. Droht die EM also, zu einem Superspreader-Event zu werden?
"Ich hoffe es nicht, aber ich kann es nicht ausschließen", antwortete Hans Kluge, Regionaldirektor Europa der Weltgesundheitsorganisation WHO, bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Kopenhagen auf diese Frage. Es erscheint auch nicht ausgeschlossen, dass die insgesamt fünf EM-Spiele, die bislang in London ausgetragen wurden, zu den explodierenden Corona-Zahlen in der Stadt an der Themse beigetragen haben. Allein rund 42.000 Fans hatten am vergangenen Dienstag das Achtelfinale zwischen England und Deutschland im Wembley-Stadion verfolgt.
Horst Seehofer kritisiert die UEFA
"Ich halte diese Position der UEFA für absolut verantwortungslos", kritisierte Innenminister
Da die Inkubationszeit fünf bis sechs Tage beträgt, es aber auch bis zu 14 Tage dauern kann, bis eine Person an COVID-19 erkrankt, lässt sich noch nicht absehen, ob und wie viele Menschen sich bei dem Spiel des DFB-Teams in London infiziert haben. Genauso wenig absehbar sind derzeit die Folgen des Viertelfinales zwischen der Schweiz und Spanien. Das Spiel wurde am Freitag im Corona-Hotspot St. Petersburg ausgetragen.
Schottland bringt 2.000 Corona-Fälle mit der EM in Verbindung
Bei früheren EM-Partien zeigen sich die Auswirkungen jedoch bereits deutlich. Die schottische Gesundheitsbehörde Public Health brachte rund 2.000 Corona-Fälle mit der EM in Verbindung. Hunderte der positiv getesteten Fans waren trotz Warnungen zum Vorrundenspiel der Schotten gegen England am 18. Juni nach London gereist.
Neun von zehn der positiv getesteten Personen waren männlich, 75 Prozent davon zwischen 20 und 39 Jahren alt. Typische Fußballfans also, aufgrund ihres Alters oft noch nicht oder nicht vollständig geimpft.
Untersucht wurde der Zeitraum zwischen 11. und 28. Juni. In dieser Zeit machten Corona-Infektionen mit EM-Bezug rund sechs Prozent der Gesamtinfektionen in Schottland aus. Ein deutlicher Anstieg der Infektionen in Verbindung mit der EM wurde auch in Finnland beobachtet.
Rund 300 finnische Fans, die ihre Mannschaft zu den Spielen gegen Russland und Belgien in den Corona-Hotspot St. Petersburg begleitet hatten, wurden positiv getestet. Nach dem Spiel Dänemark gegen Russland am 21. Juni in Kopenhagen gab es 16 positive Corona-Tests, das dänische Amt für Patientensicherheit forderte daraufhin alle Besucherinnen und Besucher der B-Tribüne des Stadions auf, einen PCR-Test zu machen.
Trotz dieser Vorkommnisse ist es in England und bei der UEFA kein Thema, die Zuschauerzahlen im Wembley-Stadion für die verbleibenden drei Spiele der EM zu reduzieren. "Im Moment ist unsere Position im Vereinigten Königreich sehr klar, dass wir bestimmte Events in einer sehr vorsichtigen und kontrollierten Weise durchführen können, indem wir jeden testen, der dort hingeht", stellte Premierminister Boris Johnson auf einer Pressekonferenz während des Staatsbesuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel klar.
Virologen warnen: "Das ist Ischgl im Quadrat"
Die UEFA selbst verweist auf die Vorgaben der örtlichen Behörden. UEFA-Präsident Aleksander Čeferin hatte schon vor dem Turnier Druck auf die jeweiligen Gastgeberstädte gemacht und mit Entzug der Spiele gedroht, sollten keine oder nicht ausreichend viele Zuschauer zugelassen werden. Und so wird es wohl tatsächlich dazu kommen, dass in dieser Woche im Hochinzidenzgebiet London innerhalb von sechs Tagen drei Spiele mit jeweils 60.000 Zuschauern angepfiffen werden.
Die UEFA übernehme damit "die Verantwortung für zahlreiche Todesfälle", hatte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in einem viel beachteten Tweet geschrieben. Ebenso deutlich wurde der Schweizer Infektiologe Urs Karrer am Sonntag im Interview mit dem "Blick": "Die EM wird einen coronabedingten Todeszoll fordern. Das ist Ischgl im Quadrat."
In dem österreichischen Skiort war es im Frühjahr 2020 zu einem Superspreader-Event gekommen. Skitouristen hatten das Corona-Virus aus Ischgl in ganz Europa verteilt. Ob die Europameisterschaft und die anstehenden Spiele in London einen ähnlichen Effekt haben werden, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.
Verwendete Quellen:
- blick.ch: "Die Euro ist Ischgl im Quadrat"
- bbc.com: Covid-19 in the UK: How many coronavirus cases are there in my area?
- Arcgis.com: COVID-19 Dashboard
- publichealthscotland.scot: COVID-19 Statistical Report
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.