Ohne Bereitschaft zum Kompromiss gehe in Brüssel gar nichts, sagt EVP-Chef Manfred Weber im Interview mit unserer Redaktion kurz vor der Europawahl am 9. Juni. Wo stehen die Konservativen bei den zentralen Themen? Und wie weit will er bei der Zusammenarbeit mit Rechtsaußen gehen?

Ein Interview

Erst der Wahlsieg, dann die Schmach: 2019 sollte Manfred Weber (CSU) EU-Kommissionspräsident werden, doch obwohl er Spitzenkandidat der stärksten Partei war, bekam den Posten am Ende Ursula von der Leyen (CDU). Das Handtuch geworfen hat Weber dennoch nicht. Fünf Jahre später kämpft der Chef der konservativen Fraktion EVP, der bereits seit 20 Jahren im EU-Parlament sitzt, wieder um Stimmen bei der Europawahl.

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Mehr Engagement in Sachen Verteidigung, strenge Kontrolle der Migration, Verbrenner-Aus zurücknehmen – damit wollen die Konservativen punkten – und müssen sich ständig fragen, inwieweit sie zur Zusammenarbeit mit Rechtsaußen bereit sind, um ihre Ziele zu erreichen.

Herr Weber, in Umfragen gibt rund die Hälfte der Befragten an, sich weniger oder gar nicht für die Europawahl zu interessieren. Das muss deprimierend für Sie sein.

Manfred Weber: In mir löst das vor allem den Ehrgeiz aus, die Menschen zu motivieren, den Wahltermin ernst zu nehmen. Es ändert sich gerade Fundamentales. Handelsstreit mit China, Russlands Krieg in der Ukraine – es geht in den nächsten fünf Jahren darum, ob wir Frieden und Wohlstand in Europa sichern können.

Muss das mangelnde Interesse nicht auch Anlass zur Selbstkritik sein?

Aus meiner Sicht hat es viel zu lange gedauert, bis wir auf europäischer Ebene eine gemeinsame Haltung zur Asyl- und Migrationspolitik gefunden haben. Das hat zu viel Frust geführt. Deshalb war es entscheidend, dass Europa noch vor der Wahl endlich den Migrationspakt beschlossen hat, der zwei wesentliche Sachen klärt: Wir stehen für Humanität und stoppen illegale Migration. Und: An den Außengrenzen entscheiden Staaten, wer in die EU kommt, nicht Schlepperbanden.

Sie loben den Kompromiss. Im EVP-Programm klingt das anders. Ihre Partei fordert Asylverfahren in Drittstaaten nach dem Ruanda-Modell – genau wie die AfD.

Der Migrationspakt war ein historischer Durchbruch und ich bin froh, dass es gelungen ist, einen breiten Kompromiss zu finden, dem Politiker wie Olaf Scholz und Annalena Baerbock genauso zugestimmt haben wie Emmanuel Macron und Giorgia Meloni. Aber wir müssen den Grenzschutz nochmal deutlich verstärken und wir brauchen einen Mittelmeerpakt.

Was verstehen Sie darunter?

Das heißt, dass wir mit Ländern wie Tunesien, dem Libanon oder Ägypten umfassend kooperieren und die Migrationsfrage gemeinsam angehen. Dabei sind auch Drittstaatenmodelle wie Italiens Abkommen mit Albanien eine Option für die Zukunft.

Was, wenn solche Modelle nur mit den Stimmen der Rechtspopulisten und Rechtsradikalen durchzusetzen sind?

Die Rechtsradikalen haben gegen den EU-Migrationspakt gestimmt, leider auch die Grünen. Dass ihn aber zum Beispiel auch Giorgia Melonis Fratelli d'Italia mitgetragen hat, macht ihn für mich nicht schlechter. Das Ergebnis war sehr knapp. Was wäre denn gewesen, wenn sich nach acht Jahren, die an diesem Kompromiss gearbeitet wurden, keine Mehrheit gefunden hätte? Die Rechtspopulisten und Rechtsradikalen hätten Freudenfeste gefeiert. Sie hätten gesagt: "Schaut, die in Brüssel bekommen gar nichts hin."

Sind alle Parteien potenzielle Partner?

Nein, Nazis sind für uns keine Partner. Die AfD zum Beispiel gehört heute zu den Radikalsten unter den radikalen Parteien. Selbst Le Pen will nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Mit deren Rassemblement Nationale, Melonis Fratelli d'Italia oder der FPÖ wollen Sie aber sehr wohl zusammenarbeiten?

Le Pen und FPÖ sind unsere Gegner. Als Partner kommen für mich demokratische Parteien infrage, die pro Europa und pro Rechtsstaat sind und die hinter der Ukraine stehen, die derzeit unseren Kampf kämpft. Das ist unsere DNA. Dieses Europa wurde aufgebaut von Christdemokraten wie Adenauer und De Gasperi, es waren Kohl und Waigel, die den Euro eingeführt haben. Mein Vorgänger als EVP-Vorsitzender war Donald Tusk. Der ist in Polen von Stadt zu Stadt gezogen und hat dafür gekämpft, dass die PiS-Regierung abgelöst wurde, die über Jahre den Rechtsstaat demontiert hat.

Lassen Sie uns über ein anderes zentrales Thema sprechen: den Klimaschutz. Warum sägt die EVP an von der Leyens Green Deal, etwa, indem sie das Verbrenner-Aus kippen will?

Ich stehe hinter dem Green Deal und dem Ziel, dass Europa bis 2050 klimaneutral sein soll. Genauso bin ich dafür, dass wir ab 2035 keine Autos mehr neu zulassen, die CO₂ ausstoßen. Aber wir als EVP haben nie verstanden, warum man bestimmte Technologien verbietet. Ob die Autos mit Strom oder Kraftstoffen aus Altfetten fahren, soll der Markt entscheiden.

Keine Rolle rückwärts beim Klimaschutz?

Im Gegenteil. Es geht jetzt darum, den Klimaschutz zu globalisieren und ihn zum Deal mit den Menschen zu machen. Unsere Maßnahmen allein werden die Welt nicht retten. Wir müssen alle überzeugen, auch China, auch die USA, selbst wenn dort wieder Donald Trump regieren sollte.

Eine gewaltige Aufgabe. Sie glauben, die EU hat die Kraft dafür?

Wir müssen es versuchen. Mit Druck wird das nicht gehen, nur mit Partnerschaft und Argumenten und indem wir zeigen, dass man trotz Klimaschutz wirtschaftlich erfolgreich sein kann.

Das führt zurück zu dem, was Sie eingangs sagten: Wohlstand sichern – wie kann das gelingen?

China schaltet auf Binnenwirtschaft und Protektionismus um und auch die USA sind als Handelspartner eine Herausforderung. Europa muss deshalb seinen Binnenmarkt stärken. Wir haben genug Kraft, um selbst Wachstum schaffen zu können. Zweitens müssen wir offen sein für neue Handelsabkommen und dabei vor allem mit Demokratien wie Australien, Mexiko oder Indien zusammenarbeiten, weniger mit China. Und drittens müssen wir unsere Betriebe von Bürokratie entlasten. Das Versprechen der EVP ist, dass wir 25 Prozent aller Berichtspflichten in der kommenden Legislatur abschaffen.

Und wie sichert man Frieden? Welche Sprache muss die EU mit Putin sprechen?

Europa hat im Angesicht des russischen Angriffs zusammengestanden und gibt der Ukraine mit dem EU-Beitritt eine echte Perspektive. Wir müssen aber auch militärisch so stark werden, dass keiner auf die Idee kommt, uns herausfordern, auch Putin nicht. Wir brauchen deshalb zusätzliche Investitionen in bessere militärische Fähigkeiten und Kapazitäten, unter anderem eine Cyberabwehr-Brigade, die unsere digitale Infrastruktur schützt, und eine Raketenabwehrstruktur für den gesamten europäischen Luftraum.

Da werden nicht alle Staaten mitziehen, oder?

Deshalb muss endlich das Einstimmigkeitsprinzip weg. Wir dürfen nicht länger abhängig sein von Politikern wie Orbán, der ganz Europa in Geiselhaft nimmt, um seine persönlichen Interessen durchzusetzen, aber nicht fähig ist, Kompromisse mitzutragen.

Die Forderung ist alt …

Die EU kann keine Kompetenzen an sich reißen, es geht nur, wenn die Mitgliedsstaaten bereit sind, Kompetenzen abzugeben. Ich appelliere deshalb an Olaf Scholz und Emmanuel Macron, weniger Reden an Universitäten zu halten, so wichtig sie sind, und stattdessen endlich zu handeln.

Es scheitert an Scholz und Macron?

Es scheitert an der fehlenden Führung. Politiker wie Helmut Kohl und François Mitterrand hatten die Kraft für eine unpopuläre, aber wichtige Entscheidung wie die, die D-Mark und den Franc abzuschaffen. Von Scholz und Macron erwarte ich, dass sie die heute notwendigen Entscheidungen fällen.

Zur Person

  • Manfred Weber (51) stammt aus Niederbayern und trat mit 16 Jahren der Jungen Union bei, der Nachwuchsorganisation von CDU und CSU.
  • Er hat Ingenieurwissenschaften in München studiert.
  • 2002 zog er für die CSU in den Bayerischen Landtag ein, 2004 wechselte er ins Europaparlament.
  • Weber ist Chef der Europäischen Volkspartei und Vorsitzender der EVP-Fraktion. Die EVP ist ein Zusammenschluss von christdemokratischen Parteien und Mitte-Rechts-Parteien, zu der auch CDU und CSU gehören.
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