"Bedingt abwehrbereit – schafft Deutschland so die Zeitenwende?", fragte Anne Will am Sonntagabend. Doch anders als der Titel vermuten lässt, ging es nicht um eine Bestandsaufnahme der Bundeswehr, sondern um die Frage nach der Lieferung von Leopard-2-Panzern, das Zögern des Kanzlers, die militärische Lage in der Ukraine und was das für das Land und den Westen bedeutet.
Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will
- Boris Pistorius (SPD). Der neue Verteidigungsminister konnte wegen der Feierlichkeiten zum Jubiläum des Élysée-Vertrages nicht persönlich im Studio sein. Stattdessen führte
Will kurz vor der Sendung ein Interview mit Pistorius. - Lars Klingbeil (SPD). Der Parteivorsitzende der SPD will bei der Unterstützung der Ukraine keine roten Linien ziehen. In Bezug auf mögliche Bedrohungen aus Russland meint Klingbeil aber auch: "Wir müssen uns sicherheitspolitisch echt anders aufstellen in diesem Land. Wir tragen eine viel größere Verantwortung, aber das Denken in Szenarien, das können wir wirklich nicht."
- Roderich Kiesewetter (CDU). Der Bundestagsabgeordnete und Oberst a. D. meint zur Lieferung der Leopard-Panzer: "Ich glaube, dass
Pistorius das sehr rasch lösen muss und dass er sich auch nicht mehr als langen Arm vom Kanzleramt versteht wie Frau Lambrecht." - Sönke Neitzel. Militärhistoriker Neitzel bemängelt die Langsamkeit der Entscheidungen der Bundesregierung: "Wir sind vielleicht in einer Situation, dass die Ukraine in eine sehr schwierige Lage kommt aufgrund einer russischen Frühjahrsoffensive und dann sehen wir uns an, dass Herr
Scholz sagt: Wir brauchen mehr Zeit." - Nicole Deitelhoff. Die Leiterin des Leibnitz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung meint: Wenn man die Ukraine zu Rückeroberungen befähigen will, brauche man die Leopard-2-Panzer – und zwar viele. Aber auch noch sehr viel Munition und begleitende Waffensysteme. Daher müsse man sich vor der Lieferung fragen: "Haben wir die denn?"
- Ulrike Franke. Franke ist Verteidigungs- und Sicherheitsexpertin beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in London und war eigentlich für diese Sendung eingeladen. Doch wie die "Anne Will"-Redaktion via Twitter mitteilt, verhinderte der "Londoner Nebel" eine Teilnahme Frankes.
Das Interview mit Boris Pistorius
In Bezug auf seinen Prüfauftrag, wie viele Leopard-Panzer Bundeswehr und Industrie überhaupt bereitstellen könnten, will Pistorius keine Missverständnisse aufkommen lassen. Der Prüfauftrag sei "deutlich weitgehender und präziser" gewesen, als nur zu zählen, wie viele Panzer es gibt und lieferbar wären. Es gehe auch um eine Prüfung der "Interoperabilität", der Einsatzfähigkeit, des Einsatzzeitpunkts, abgestimmt mit den Partner und unter Betrachtung der "Industriepotenziale".
Die Antwort mag man als Wortklauberei betrachten, doch interessanter ist der Satz, den Pistorius folgen lässt, als er erklärt, warum der Prüfauftrag weitgehender sein musste: "Weil wir ja vorbereitet sein wollen und müssen für den Zeitpunkt einer möglicherweise ergehenden Entscheidung, Leopard-Panzer zu liefern."
Über die jüngste Ramstein-Konferenz erklärt Pistorius: "Am Freitag war es keineswegs so, dass alle einer Meinung waren. Es gab diejenigen, die haben Leopard-Panzer und wollen sie einsetzen, das sind einige Wenige, und dann gibt es diejenigen, die haben keine Panzer, aber eine Meinung." Es sei kein so einheitliches Bild gewesen, wie es bisweilen schien, so Pistorius. "Deutschland stand keineswegs alleine da."
Pistorius sagt auch: "Jeder versteht die Notwendigkeiten und deswegen glaube ich auch, es wird bald eine Entscheidung geben, wie auch immer sie dann aussieht. Dass es Panzer braucht, dass es Offensivbewegung braucht im Hinblick auf den Donbass und Luhansk, ist völlig klar."
Die Themen des Abends
Man kann insbesondere in Pistorius’ Äußerung zur Vorbereitung von Leopard-Panzern einiges hinein interpretieren und genau das wünscht sich Will von ihren Gästen. Roderich Kiesewetter stellt hier einen großen Unterschied in den beabsichtigten Zielen fest. Macron und Pistorius seien der Meinung "Die Ukraine muss gewinnen", während Olaf Scholz sage "Die Ukraine darf nicht verlieren."
Man verliere Zeit, so Kiesewetter und es wäre auch Pistorius Recht gewesen, wenn er hätte sagen können: "Wir brauchen noch Abwägung, wir wollen noch entscheiden, aber Länder, die exportieren wollen, denen werden wir die Genehmigung erteilen, sofern sie anfragen, und diese Länder können bereits mit der Ausbildung beginnen." So aber entstehe der Eindruck des Zauderns. Kiesewetters Prognose: "Wenn der Krieg für die Ukraine in einem Stillstand endet, dann wird sich Russland erholen und den Krieg gegen Moldau und gegen das Baltikum wie angekündigt fortsetzen."
Sönke Neitzel relativiert die Bedeutung der Leopard-2-Panzer ein wenig: "Die Frage, ob wir jetzt 50 Kampfpanzer oder 100 liefern, das entscheidet diesen Krieg nicht", erklärt Neitzel, fügt aber hinzu: "Aber es ist ein Symbol des Zögerns und des Zauderns." Außerdem glaubt Neitzel: "Manche urteilen zu positiv über die Kriegslage. (…) Wir haben die Tendenz, die Russen zu unterschätzen. Auch, weil unser Bild sehr pro-ukrainisch ist und wir immer denken: Die Russen sind Kriegsverbrecher und Deppen und beides stimmt vielleicht zum Teil, aber wir unterschätzen sie."
Für Nicole Deitelhoff ist die Frage der Leopard-Panzer nur vertagt: "Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, bis es diese Entscheidung gibt. (…) Ich habe in dieser ganzen Debatte noch kein Nein gehört." Die Ramstein-Konferenz sei ein großer Erfolg, auch wenn man diese Leopard-Entscheidung noch nicht getroffen habe.
Die militärische Einschätzung des Abends
Sönke Neitzel erklärt am Sonntagabend seine Einschätzung der aktuellen Situation: "Ich würde die militärische Lage vergleichsweise sorgenvoll beurteilen." Die Russen hätten ihre Mobilmachung besser bewältigt als in manchen Medien dargestellt. "Die Lage ist eine völlig andere, als im Herbst", meint Neitzel. Hätte die Ukraine bereits im Herbst die Panzer gehabt, hätte sie viel mehr Territorium zurückerobern können. "Jetzt geht es bei den Panzern auch nicht um irgendeine Gegenoffensive der Ukraine. Es geht um die Verteidigungsfähigkeit", so Neitzel.
Das Déjà-vu des Abends
Nun kann man mit gutem Grund sagen: Wenn man immer dieselbe Frage stellt, darf man sich nicht wundern, wenn man auch immer dieselbe Antwort bekommt. Anne Will geht am Sonntagabend einen anderen Weg und fragt
Ähnlich wie sein Parteikollege Kevin Kühnert, der ebenfalls seit Wochen den Kanzler in den Polittalkshows des Landes erklären soll, aber nicht so recht kann, verweist auch Klingbeil bei "Anne Will" darauf, dass Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine mit führend sei: "Deutschland liefert bereits", erklärt Klingbeil und verweist wieder auf die Panzerhaubitzen, die Marder oder den Ringtausch.
Klingbeil verstehe die Emotionalität der Ukraine in dieser Frage, aber auch, dass der Bundeskanzler die Entscheidung genau abwägen, überlegen und mit den USA abstimmen muss: "Das ist gerade eine historische Phase. Da gucken wir in 20, 30 Jahren noch drauf, was jetzt gerade entschieden wird und die Verantwortung trägt Olaf Scholz."
Das zweite Déjà-vu des Abends
Was Klingbeil bei seiner Argumentation nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass es in der Kritik an Scholz weniger darum geht, dass dieser abwägen und sich abstimmen möchte. Niemand möchte einen Kanzler, der so eine Entscheidung mal eben beim Frühstück fällt. Es geht bei der Kritik vielmehr um die beiden Fragen: Wie lange darf sich ein Kanzler bei so einer Entscheidung Zeit lassen und warum erklärt das Kanzleramt nicht die Hintergründe dieser Entscheidungswarteschleife?
Beide Fragen stellt Sönke Neitzel an diesem Abend noch einmal: "Herr Klingbeil sagt: Wir müssen das sorgfältig abwägen, klar. Aber der Krieg geht fast ein Jahr – was gibts denn da abzuwägen?" Neitzel erwarte, dass im Kanzleramt vorgedacht wird. Er verstehe nicht, und die Frage sei auch noch nicht beantwortet worden: "Was bringt Herrn Scholz so zum Zögern? (…) Was immer es sein mag, es wäre ja ein Argument, um es nachzuvollziehen. Da Herr Scholz nicht spricht, wissen wir’s nicht. Das führt natürlich dazu, dass alle spekulieren."
Auch Nicole Deitelhoff glaubt, dass das Kanzleramt hier mehr erklären müsste: "Ich finde auch, die Kommunikation ist wirklich verheerend. Da geht es darum, dass man sich nicht hinter der Worthülse versteckt, wir wollen immer abgestimmt mit den Partnern agieren (…) Hier gehts um ein bisschen mehr." Besonders die SPD müsse doch wissen, wie eine Debatte um Waffenlieferungen abläuft: "Sie wird an den Pranger gestellt und wenn man das schon weiß, dann kann man damit anders kommunikativ umgehen."
Das Fazit
Im Grunde war es am Sonntagabend eine Diskussion, wie sie schon so oft geführt wurde. Interessant waren die Ausführungen Klingbeils dennoch, weil sie den Eindruck vermittelten, dass das Kanzleramt tatsächlich seine Kommunikation für ausreichend hält. "Und das tut er", widerspricht der Parteivorsitzende etwa Anne Will, als die erklärt, die vornehmste Aufgabe eines Politikers sei, sich zu erklären. Es könne sein, so Klingbeil, dass einem die Argumente des Kanzlers nicht gefallen, "aber er redet und er sagt, es geht um drei Prinzipien: Ich stimme mich international ab, ich sorge dafür, dass Deutschland selbst nicht Kriegspartei wird und wir machen die Dinge, die Russland am Ende mehr schaden, als uns."
Drei Prinzipien, die in sich logisch erscheinen, aber vielleicht könnte man bei Punkt drei den Schwerpunkt ja auch ein wenig anders setzen. Denn wenn auch Sönke Neitzel, wie schon andere vor ihm, darauf verweist, dass man ohnehin bald westliche Kampfpanzer liefern müsse, weil die ukrainischen Panzer sowjetischer Bauart irgendwann nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn er darüber hinaus erklärt, dass es nicht um eine ukrainische Großoffensive geht, sondern um die Verteidigung. Und wenn auch noch Roderich Kiesewetter erklärt, dass die westlichen Panzer – anders als die russischen – so gebaut wurden, dass die Soldaten im Inneren überleben. Dann könnte man im Kanzleramt auch einmal überlegen, ob man nicht nur die Dinge macht, die Russland mehr schaden als uns, sondern auch die Dinge, die der Ukraine mehr nützen als uns.
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