Jeder junge Mann in Deutschland muss in einem Fragebogen angeben, ob er zu einem Grundwehrdienst bereit wäre. So stellt sich Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius eine neue Wehrpflicht vor. Wie genau soll das Modell funktionieren? Und kann der Minister es wirklich in die Tat umsetzen?

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Die häufig beschworene Zeitenwende seit Russlands Überfall auf die Ukraine hat bisher auf den Alltag der meisten Menschen in Deutschland keine Auswirkungen. Boris Pistorius könnte daran etwas ändern, zumindest für mehrere Tausend junge Männer pro Jahr. Der SPD-Verteidigungsminister will einen neuen Grundwehrdienst in Deutschland einführen.

Seinen Vorschlag hat er am Mittwoch in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Wir fassen die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen.

Warum will Pistorius einen Grundwehrdienst einführen?

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sieht der Verteidigungsminister Deutschland in einer verschärften Bedrohungslage. Es gehe dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht nur um die Ukraine. Russland sei ab 2029 militärisch in der Lage, einen Nato-Staat anzugreifen.

Die Bundeswehr hat derzeit rund 180.000 Soldaten und Soldatinnen und soll wachsen. Aus dem Verteidigungsministerium heißt es: Die Truppe braucht Pistorius zufolge 203.000 aktive Streitkräfte – und zusätzliche 200.000 Personen in der Reserve.

Mit den bisherigen Mitteln ist das Wachstum aber nicht gelungen. Im Gegenteil: Die Truppe schrumpfe und altere, teilte die Wehrbeauftragte des Bundestages vor kurzem mit.

Wie ist die aktuelle rechtliche Lage?

In Artikel 12a des Grundgesetzes heißt es: Männer können vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. Das gilt weiterhin. 2011 hat die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP die Pflicht zum Grundwehrdienst allerdings ausgesetzt.

Junge Menschen können stattdessen einen "Freiwilligen Wehrdienst" in einem Zeitrahmen von sieben bis 23 Monaten ableisten und so den Soldatenberuf kennenlernen.

Vorschlag des Verteidigungsministers zur Wehrerfassung
Vorschlag des Verteidigungsministers zur Wehrerfassung © dpa-infografik GmbH

Wie sieht der Vorschlag von Pistorius genau aus?

Der Minister schlägt einen neuen Grundwehrdienst vor. Er soll sechs Monate dauern – und freiwillig auf bis zu 17 Monate verlängert werden können. Konkret soll es folgendermaßen laufen:

  • Alle jungen Menschen, die das wehrdienstfähige Alter (also das vollendete 18. Lebensjahr) erreichen, bekommen einen Online-Fragebogen vom Staat. Pistorius räumt ein: Es sei noch eine technische Herausforderung, die nötigen Kontaktdaten sammeln zu können.
  • Männer sind dann verpflichtet, den Fragebogen auszufüllen und zurückzusenden. Frauen können das freiwillig machen. Diese "Wehrerfassung" ist Pistorius zufolge der zentrale Baustein in seinem Konzept. Ein Journalist fasste es am Mittwoch in der Pressekonferenz treffend zusammen: Bei dieser neuen Wehrpflicht handle es sich eigentlich nur um eine "Fragebogenbeantwortungspflicht".
  • Auf Grundlage der Fragebögen entscheidet die Bundeswehr, wen sie zu einer Musterung einlädt. Sie wählt dann die besonders geeinigten und motivierten jungen Menschen für den Grundwehrdienst aus. Das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern, bleibt aber erhalten.
  • Die Zahl der Eingezogenen soll sich am Bedarf der Landes- und Bündnisverteidigung orientieren. Zunächst rechnet Pistorius mit 5.000 jungen Männern pro Jahr.
Pistorius rechnet mit 5000 neuen Rekruten pro Jahr

Pistorius stellt sein neues Wehrdienst-Konzept vor

Verteidigungsminister Boris Pistorius geht davon aus, dass mit seinem neuen Wehrdienst-Konzept jedes Jahr mehrere Tausend zusätzliche Soldaten für die Bundeswehr zur Verfügung stehen würden. Wie aber sieht sein Plan konkret aus?

Warum werden Männer und Frauen ungleich behandelt?

Den Grundwehrdienst für Männer könnte der Bundestag mit einer einfachen Gesetzesänderung wieder einführen. Um auch Frauen dazu zu verpflichten, müsste hingegen das Grundgesetz geändert werden. Pistorius glaubt aber, dass dieser Weg zu lange dauern würde. "Diese Zeit haben wir nicht", sagte er am Mittwoch.

Für die Zukunft sei das aber eine Option – genauso wie die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, die sich auch im Sozialbereich ableisten ließe. Generell wünscht sich Pistorius jedenfalls mehr Soldatinnen in der Truppe: "Wir haben nach wie vor viel zu wenig interessierte Frauen", sagte er. Generell sieht er sein Modell nur als Einstieg.

Was würde der Schritt für die Bundeswehr bedeuten?

Die Truppe müsste mehrere Tausend junge Menschen mustern, unterbringen und ausbilden. Der Verteidigungsminister rechnet mit Kosten von 1,4 Milliarden Euro pro Jahr. Der Minister weiß aber auch: Die Personalprobleme der Truppe sind damit alleine noch nicht gelöst. Die Zahl von 5.000 Wehrdienstleistenden soll mit der Zeit steigen. Und: "Wehrdienstleistende können niemals stehende Streitkräfte dauerhaft ersetzen", sagte Pistorius.

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Langfristig lautet sein Ziel: Der neue Wehrdienst führt mehr Menschen an die Bundeswehr heran, die sich dann auch länger für die Truppe verpflichten.

Kommt der Grundwehrdienst jetzt wirklich?

Das ist noch lange nicht entschieden. Es handelt sich bisher "nur" um einen Vorschlag des Bundesverteidigungsministers. Der Anspruch von Pistorius lautet, sein neues Modell noch in dieser Legislaturperiode einzuführen. Das wäre, wie erwähnt, mit einer einfachen Gesetzesänderung möglich.

Ob er die eigene Koalition davon überzeugen kann, ist aber offen. Der Minister gab sich auf der Pressekonferenz selbstbewusst: "Dafür habe ich alle Signale, die ich brauche."

Was sagen die Koalitionsparteien?

Bei Grünen und FDP – und auch in Teilen der SPD – herrschte zuletzt Skepsis. Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, sprach sich am Mittwochmorgen im "Deutschlandfunk" dafür aus, den Wehrdienst auf freiwilliger Basis attraktiver zu machen und zu stärken. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil äußerte sich in der Vergangenheit ähnlich.

FDP-Chef Christian Lindner hatte noch Mitte Mai angezweifelt, dass die Bundeswehr mit vielen jungen Wehrdienstlern wirklich professioneller werden könnte. Er sei eher für eine gestärkte Reserve, sagte er in einem Interview mit der "Mediengruppe Bayern".

Wie steht die Opposition zur Wehrpflicht?

Die CDU will den Wehrdienst schrittweise wieder einführen – das schrieben die Christdemokraten auf ihrem Parteitag im Mai sogar ins neue Grundsatzprogramm. Die CDU-Verteidigungspolitikerin Serap Güler fordert allerdings eine Wehrpflicht auch für Frauen. Der Vorschlag von Pistorius sei "nur ein Anfang", sagte sie dem Online-Magazin "Politico". "Wir müssen schon über eine Vervierfachung mindestens sprechen."

Auch die AfD ist für die Wiedereinsetzung des Wehrdienstes. Sie hatte diesen Schritt schon 2020 im Bundestag beantragt.

Die von Sahra Wagenknecht gegründete Partei BSW ist dagegen kritisch: "Anstatt darüber zu diskutieren, wie über einen neuen Zwangsdienst Kanonenfutter herangezogen werden kann, um die Kriegstüchtigkeit Deutschlands zu befördern, muss die Bundesregierung endlich aufhören, permanent an der Eskalationsschraube zu drehen und damit das von ihr herbeigeredete Bedrohungsszenario erst zu schaffen", teilte die BSW-Bundestagsabgeordnete Zaklin Nastic auf Anfrage unserer Redaktion mit.

"Darüber hinaus gibt es weitere Kritikpunkte, wie etwa die Fragen der Wehrgerechtigkeit und der Kosten für Personal und Infrastruktur, sodass zu hoffen bleibt, dass Pistorius' Vorschläge zum Rohrkrepierer werden", so die verteidigungspolitische Sprecherin der BSW-Gruppe.

Verwendete Quellen

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