Vor dem Duell Deutschland gegen Schweiz haben wir mit dem Schweizer Ex-Schiedsrichter Urs Meier gesprochen. Dabei erklärt er unter anderem auch, warum er kein Fan vom VAR ist und wo er KI-Möglichkeiten im Fußball sieht.
Am Sonntagabend geht es für das DFB-Team im letzten Vorrundenspiel der Heim-EM gegen die Schweiz um den Gruppensieg. Einer, der die Schweizer sehr gut kennt und einschätzen kann, ist der ehemalige Schweizer Schiedsrichter Urs Meier.
Wir haben ihn am Dienstagnachmittag – also kurz vor Ende des ersten Gruppenspieltags – in Nürnberg getroffen und mit ihm gesprochen.
Herr Meier, wo haben Sie den EM-Auftakt zwischen Deutschland und Schottland gesehen?
Ich habe das Spiel im Stadion angeschaut.
Wie war die Stimmung?
Es war eine super Stimmung. Schottland im Eröffnungsspiel, besser ging es nicht. Erstens war es ein machbarer Gegner und zweitens bringen die Schotten die besten Fans mit – die sind einfach genial.
Was sagen Sie zum Auftritt des DFB-Teams?
Es war schon sehr überzeugend. Sie sind mit sehr viel positiver Energie ins Spiel gegangen. Die mannschaftliche Geschlossenheit ist da gewesen, die Spieler sind wieder füreinander gerannt und haben füreinander gekämpft. Das sind die Tugenden, die den Deutschen in den letzten Turnieren oft gefehlt haben. Man hat diesmal einfach ein anderes Gesicht gesehen.
Denken Sie, die Mannschaft kann mit dem Druck beim Heimturnier umgehen?
Man sieht, dass es eine Mannschaft ist, die Freude hat, aber auch Druck. Natürlich ist Druck da, für die Heim-Mannschaft ist immer Druck da. Die Frage ist, wie man mit diesem Druck umgeht. Der Druck kann entweder auf die Flügel kommen, dann drückt er die ganze Mannschaft nieder, dann kommt nichts mehr. Er kann aber auch unter die Flügel kommen und dann gibt es einen Aufwind. Ich glaube, diesmal schafft es die Nationalmannschaft tatsächlich, diesen Druck so zu kanalisieren, dass er unter die Flügel kommt – und das macht einfach Freude.
Meier über die bisherigen EM-Auftritte der Schweiz
Auch die Schweizer konnten ihr erstes Spiel gegen Ungarn gewinnen. Ihr Kurzfazit zum Spiel?
Es war sehr überzeugend – und zwar in allen Bereichen. Vor der Europameisterschaft hatten wir ja genau dieses große Fragezeichen: Wie funktioniert der Trainer mit Xhaka? Wie funktioniert das Team? Es waren Spannungen da, die man aber gelöst hat. Jetzt hat man auch gesehen, was für eine unglaubliche Spielfreude Xhaka hat. Seine Form, die er das ganze Jahr bei Leverkusen hatte, konnte er konservieren. Er war der Dreh- und Angelpunkt gegen Ungarn und ist so ein wichtiger Spieler im Team.
Im zweiten Spiel gab es mit dem 1:1 gegen Schottland dann einen kleinen Dämpfer. Wie haben Sie die Leistung der Schweizer eingeschätzt?
Das Spiel gegen die Schotten war das erwartet schwere Spiel. Wenn die Schotten genau das kriegen, was sie wollen – also viele Unterbrechungen, immer wieder Zweikämpfe, immer diese Leidenschaft – dann sind sie nicht so schwach, wie man es nach dem ersten Spiel gegen die Deutschen vielleicht gedacht hat. Die Schweizer haben es den Schotten aber auch irgendwie angeboten. Man hat nicht unbedingt gespürt, dass die Schweiz unbedingt gewinnen wollte.
Wie geht es Ihrer Meinung nach jetzt für die Schweiz weiter?
Mit dem ersten Sieg gegen Ungarn hatten sie natürlich schon drei Punkte und mit vier Punkten ist man quasi qualifiziert. Mit dem Pfostenschuss der Schotten hatten sie noch etwas Glück. Wenn die Schweiz verloren hätte, wäre es noch enger geworden, aber mit diesem 1:1 können sie jetzt gut leben. Wenn sie jetzt im letzten Spiel gegen Deutschland gewinnen, sind sie sogar Gruppenerster. Wenn sie Unentschieden spielen oder knapp verlieren, sind sie Gruppenzweiter. Also eigentlich ist das Ziel schon erreicht. Wenn man sich fürs Achtelfinale qualifiziert, hat man ja nicht viel falsch gemacht.
Am Sonntagabend kommt es dann zum Duell zwischen Deutschland und der Schweiz. Was erwarten Sie sich vom letzten Gruppenspiel?
Ich glaube, dass es für die Schweizer und die Deutschen jeweils um den Gruppensieg geht. Der Gruppensieg ist ziemlich wichtig, denn wenn du Zweiter wirst, spielst du ziemlich sicher gegen Italien oder Spanien – und das möchtest du so früh eigentlich nicht unbedingt. Beim Gruppensieg sieht es momentan so aus, dass die Deutschen einen Vorteil haben.
Wie werden die Schweizer ins letzte Gruppenspiel gehen?
Ich bin davon überzeugt, die Schweiz wird auf Sieg spielen. Die Schweiz möchte in einem wichtigen Turnier endlich mal wieder gegen die Deutschen gewinnen.
Blicken wir schonmal etwas voraus: Wie weit kommt Deutschland und wie weit kommt die Schweiz bei der EM?
Deutschland habe ich als Europameister getippt. Bei der Schweiz kommt es drauf an, ob sie in der Gruppe Erster oder Zweiter werden. Das Achtelfinale könnte schon das Ende sein, aber wenn sie so auftreten wie gegen Ungarn, dann traue ich ihnen viel zu. Die Schweiz ist kein einfach zu spielender Gegner. Und wenn der Embolo noch in Form kommt und ein paar andere Sachen passen – ja, warum soll es dann nichts mit dem Halbfinale werden? Das wäre doch schön.
Nicht nur in Deutschland gibt es eine Torhüter-Diskussion, auch in der Schweiz wurde vor allem vor der EM eifrig diskutiert. Yann Sommer oder Gregor Kobel – was sagen Sie zum Zweikampf der beiden Keeper?
Das war bei Nagelsmann ja auch so. Wenn du zwei Weltklasse-Torhüter in einer Mannschaft hast, ist es halt immer schwierig. Aber gerade auf dieser Position ist es auch wichtig, dass der Trainer dieses Vertrauen in seine Nummer eins frühzeitig kundtut.
Also eigentlich viel Wirbel um nichts?
Ob das jetzt Yakin oder Nagelsmann ist: Wenn die Nummer eins tatsächlich eine Schwächephase hätte oder nicht fit genug wäre, dann würden sie natürlich wechseln – um Gottes willen. Das würden beide ja sofort machen. Aber wenn beide Torhüter fit sind und ihre Leistung bringen, dann hat man nun mal eine Nummer eins. Man hat einen Torhüter, der vielleicht auch besser ins Konzept passt – sei es fußballerisch, von der Spieleröffnung, von der Ansage oder Ausstrahlung her. Diesem Torwart vertraut der Trainer und deswegen habe ich schon viel Verständnis dafür, wenn das man das relativ klar bekannt gibt.
Jetzt ist die EM erst ein paar Tage alt. Gibt es für Sie trotzdem schon eine Überraschung bei dieser EM?
Eine so große Überraschung ist es eigentlich nicht, dass die Belgier verloren haben. Die werden immer vor dem Turnier als Favoriten gehandelt und schaffen es dann häufig doch nicht, zu überzeugen. Mal schauen, wie sie reagieren. Ich hoffe natürlich, dass sie endlich mal zeigen, wozu sie fähig sind. Aber die Belgier werden an sich immer überbewertet – deswegen war das für mich keine große Überraschung.
Und sonst?
Vielleicht die Spanier und wie souverän sie die Kroaten besiegt haben. Ich glaube aber, dass die Kroaten unter Wert geschlagen worden sind. Aber große Überraschungen hat es für mich bislang noch nicht gegeben.
Die Engländer haben ihr erstes Spiel zwar gewonnen, aber mehr schlecht als recht. Sehen Sie das auch so?
Das Problem ist, es wird sowieso immer überbewertet, wie man ins Turnier kommt. Nicht das erste oder zweite Spiel ist entscheidend. Das dritte könnte es vielleicht sein, aber dann kommen erst die entscheidenden Spiele. Oft haben die Welt- oder Europameister im Turnier nicht gut begonnen, zum Beispiel die Portugiesen bei der Europameisterschaft. Die sind als Dritter irgendwie noch reingerutscht und wurden dann Europameister.
Urs Meier ist von der neuen Schiedsrichter-Regel begeistert
Bei der EM gibt es eine neue Schiedsrichter-Regel: Nur noch die Mannschaftskapitäne dürfen mit dem Unparteiischen kommunizieren. Was halten Sie allgemein von der Regel? Und wie fällt Ihr erstes Fazit aus?
Bis jetzt funktioniert es viel besser, als ich gedacht habe. Ich bin überrascht, wie sich die anderen Spieler zurückhalten und nicht reklamieren. Es läuft bis jetzt eigentlich problemlos. Wenn das so weitergeht, ist das wirklich schön anzusehen, dass man endlich mal diese dauernden Reklamationen und Rudelbildungen nicht mehr auf dem Fußballfeld sieht. Das ist bis jetzt etwas, was sehr positiv ist und was ich auch nur befürworten kann, dass das endlich umgesetzt wird.
Mit Sandro Schärer ist auch ein Landsmann von Ihnen als Schiedsrichter bei der EM vertreten. Beim Spiel Slowenien gegen Dänemark hatte er seinen ersten Auftritt. War er gelungen?
Es war sehr gut, er hat eine hervorragende Leistung gezeigt. Es gab zwei kritische Szenen im Strafraum, wo der VAR zum Teil drübergeschaut hat. Meiner Meinung nach hat man beide Szenen zugunsten des Fußballs entschieden.
Wie meinen Sie das?
Man hätte das ja auch anders sehen können. Das ist immer genau die Problematik, dass man solche Szenen so oder so sehen kann. Aber es war zugunsten des Fußballs, es war zugunsten des Spiels – und die Spieler haben das auch akzeptiert. Also da wurde beide Male gut entschieden. Bei den Karten war es auch gut, bis auf eine. Die hat wahrscheinlich brutaler ausgesehen als sie eigentlich war. Aber es gibt noch eine nette Geschichte.
Und zwar?
Er hatte sein erstes Spiel bei einer Europameisterschaft mit Dänemark und der Spielführer war Schmeichel. Mein erstes EM-Spiel 2000 war auch mit Dänemark. Und auch hier war Schmeichel, der Vater, Spielführer. Darum habe ich gesagt, hoffentlich startet auch für ihn eine so tolle Karriere wie ich sie hatte.
Sie gehen also davon aus, dass er bei der EM noch ein paar weitere Spiele bekommt?
Ja, mindestens eins, auf jeden Fall.
Sie haben einmal gesagt, dass Schiedsrichter mittlerweile nicht mehr als Respektsperson angesehen werden – zu Ihrer Zeit war das noch anders. Was glauben Sie, warum es zu einer solchen Verschlechterung der Situation gekommen ist?
Das hat mit dem Videoassistenten zu tun. Dadurch ist auch der Kompetenzbereich des Schiedsrichters irgendwo etwas weggewandert. Obwohl der Schiedsrichter immer noch die letzte Instanz ist, hat sich die Machtfülle durch den VAR verändert. Und das nimmt dem Unparteiischen etwas von seiner Ausstrahlung und seiner Kraft. Zum Teil ist nicht mehr so diese absolute Präsenz da. Die EM müssen wir da aber etwas ausklammern, weil bei einem solchen Turnier ja die Besten pfeifen. Aber in den Ligen ist es teilweise schon auffällig.
Was genau?
Es hat dort zwar auch gute Leute, gute Persönlichkeiten auf dem Platz, aber früher war das irgendwie anders. Man wurde anders wahrgenommen. Du hattest einen anderen Auftritt mit den Spielern. Diese ganz klare Ausstrahlung fehlt mir mittlerweile zum Teil.
Bei der EM 2004 bekam Meier Tausende Morddrohungen
Schiedsrichter werden mittlerweile immer häufiger Opfer von Hassnachrichten im Internet. Auch Sie haben dies sehr früh erfahren müssen, nach dem EM-Viertelfinale 2004 zwischen England und Portugal. Sie sollen rund 16.000 Morddrohungen erhalten haben. Was haben Sie damals gedacht?
Ja gut, das war nur am Morgen um 9 Uhr. Wenn wir es nicht vom Netz genommen hätten, wäre es weit über eine halbe Million geworden. Das war mehr als extrem. Meine E-Mail-Adresse wurde von den Zeitungen in England abgedruckt, Fluggesellschaften haben sie bekannt gegeben. Es war eine richtige Hexenjagd, die da im Prinzip stattgefunden hat. Aber in den unteren Ligen ist es ganz anders, das möchte ich nochmal erklären.
Bitte, sehr gerne.
Manchmal bist du da alleine irgendwo auf dem Dorf draußen und wirst vielleicht nicht geschützt, wenn du körperlich bedroht wirst. Im Gegenteil. Vielleicht machen die Leute auch noch Druck auf dich. Das ist im Stadion oder wenn du in von den Medien bedroht wirst, natürlich etwas ganz anderes – das ist das eine. Aber das andere, wenn ein Schiedsrichter wirklich alleine unterwegs ist, ist etwas, wo wir wirklich schauen müssen, dass diejenigen, die da Gewalt androhen oder sogar ausüben, entsprechend hart bestraft werden.
Ich würde gerne nochmal kurz auf 2004 zurückkommen. Wie präsent ist das noch bei Ihnen, jetzt, 20 Jahre später?
Es ist schon noch präsent – das Spiel beziehungsweise diese Szene kurz vor Schluss ist auch Teil meines Vortrags. Erstens war es so, dass die Entscheidung damals richtig war. Zweitens war es so, dass ich das Foulspiel an sich so nicht gesehen habe. Im Vortrag geht es darum, Entscheidungen zu treffen, auch wenn man nicht alles genau gesehen hat.
Sie haben das Foulspiel an den portugiesischen Torhüter damals also gar nicht wirklich gesehen?
Es war eine Entscheidung, wo das Bild einfach nicht stimmte. Das heißt, die Hand des Torhüters war nicht da, wo sie eigentlich hingehört hätte – das war der Grund, warum ich gepfiffen habe. Aus der Intuition heraus, aus dem Bauch heraus, habe ich diese Entscheidung getroffen und sie war richtig. Mit meiner Erfahrung und meinem Fußballverständnis habe ich genau die richtige Entscheidung getroffen. Trotzdem war ich danach vier Tage lang am Stück auf der Titelseite der "Sun", David Beckham hat es nur zwei Tage geschafft.
Welchen Rat würden Sie Schiedsrichtern geben, die angefeindet oder verbal oder sogar körperlich angegangen werden?
Es ist immer schwierig, da einen guten Rat zu geben, weil ich Gott sei Dank nie körperlich angegangen worden bin. Der türkische Schiedsrichter, der letztens vom Vereinspräsidenten niedergeschlagen worden ist und ins Krankenhaus musste – da habe ich auch gesagt, da geht irgendwas kaputt. Dieses Urvertrauen, diese Sicherheit, diese Souveränität, die geht mit so etwas kaputt.
Können Sie Schiedsrichtern dennoch etwas raten?
Generell gilt, die Dinge immer möglichst schnell aufzuarbeiten. Man muss nach vorne schauen und wissen, dass man manche Dinge nicht mehr ändern kann. Im Prinzip muss man einfach vergessen können. Man ist eigentlich immer in der Vorwärtsbewegung, nie in der Rückwärtsbewegung. Eines meiner Leitmotive war: "Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist." Das heißt, auch wenn du mal ein schlechtes Spiel hattest und du am nächsten Wochenende wieder aufs Spielfeld gehst, darfst du nicht mehr an das Spiel von vor einer Woche denken. Du hast es abgehakt.
Warum Meier den VAR kritisch sieht
Sie haben sich in der Vergangenheit wiederholt kritisch zum Videoassistenten geäußert. Warum gefällt Ihnen der VAR nicht?
Weil das System nicht funktioniert. Der VAR ist gut und recht für alles, was Schwarz-Weiß ist, für ganz klare Fälle: Tor, Nicht-Tor, Abseits, Nicht-Abseits – da kann man den VAR einsetzen. So wäre er eigentlich auch geplant gewesen. Man hat ihn für ganz klare Fehlentscheidungen einsetzen wollen. Das Problem ist aber, dass man ihn auch für Fälle einsetzt, die nicht so klar sind, die grau sind.
Können Sie das genauer erklären?
Wir haben vorhin über Sandro Schärer gesprochen, der zwei von diesen grauen Entscheidungen hatte. Die soll der Schiedsrichter selbst entscheiden – und zwar auf dem Platz. Er kann die Absicht erkennen, das kann der Videoassistent in der Regel nicht. Dann stimmen die Geschwindigkeiten und Distanzen auf den Fernsehbildern nicht. Was für den Schiedsrichter auch wichtig ist: Wie ist die Intensität? Wie ist das Spielklima? Wie ist die Atmosphäre auf dem Platz? Ist es friedlich, angespannt, unfair? Das kann der Videoassistent nicht wahrnehmen – er hat das Gefühl nicht. Das hat aber der Schiedsrichter und darum gehören diese Entscheidungen dem Schiedsrichter. Der muss das sehen und der muss das auch entscheiden.
Sie sagen also, dass sich der Schiedsrichter auf dem Platz mittlerweile zu sehr auf den VAR verlässt?
Ja, natürlich, das ist genau das Problem. Man sieht den Schiedsrichter nicht mehr Entscheidungen treffen. Ein Beispiel aus dem Eröffnungsspiel: Das Foulspiel des Schotten im Strafraum an Gündogan. Wenn du das nicht siehst, wie der da reingeht – da habe ich kein Verständnis. Das ist die Hauptaufgabe eines Schiedsrichters und wir sprechen da nicht von irgendeinem Schiedsrichter. Wir sprechen von Turpin, der einer der Besten der Welt ist. Wenn einer der zehn besten Schiedsrichter der Welt so eine Aktion nicht mehr sieht, dann hat das damit zu tun, dass er für diesen Entscheid nicht bereit war, dass er eine schlechte Position hatte und sich dann eben auf den VAR verlässt.
Die Künstliche Intelligenz nimmt in unserem Leben einen immer größeren Raum ein. Was sagen Sie zum Thema KI im Fußball? Würde es Ihrer Meinung nach Anwendungsgebiete geben?
Vor einem Jahr hatten wir so viele Handspiel-Fälle, bei denen wir unterschiedliche Auslegungen hatten. Der eine hat Elfmeter gegeben, der andere wieder nicht. Irgendwann hatte ich die Nase voll. Dann habe ich die Fifa angerufen und gesagt, setzt doch mal KI ein. Das Problem ist, momentan weiß man nie, was am Ende rauskommt. Der Schiedsrichter entscheidet auf der einen Seite und dann gibt es ja noch den Videoassistenten. Wenn wir die KI hätten, die alle Handspiel-Fälle abspeichert, dann müssten wir eigentlich nur die Bilder dem Computer geben und der Computer sagt dann entweder Handspiel oder kein Handspiel. Dann hätte man überall genau dieselben Entscheidungen – es wäre überall und immer gleich. Momentan ist es sehr willkürlich. Mal hast du einen Schiedsrichter, der so entscheidet, dann wiederum hast du einen Schiedsrichter, der in derselben Situation anders entscheiden würde.
Was hat die Fifa damals gesagt?
Dass es gar nicht infrage kommt. Aber ich bin immer sehr vorsichtig, wenn es heißt, es kommt nie. Ich habe vor ungefähr 20 Jahren mal mit einem Italiener über Schiedsrichterinnen im Männerfußball gesprochen. Da hat er mir gesagt, in tausend Jahren wird in Italien keine Frau Spiele leiten. Diese tausend Jahre sind jetzt relativ schnell vorbeigegangen.
Zurück zu Ihnen: Sie haben zahllose internationale Spiele geleitet. Gibt es eines, das ihnen am meisten in Erinnerungen geblieben ist?
Es gibt natürlich einige. Eines der schönsten Spiele war sicher das Spiel zwischen Portugal und England bei der EM 2004. Das Spiel hatte alles, was den Fußball so faszinierend macht. Rooney, der sich den Fuß gebrochen hat, dieses annullierte Tor, die Verlängerung, Ricardo, der im Elfmeterschießen die Handschuhe wegschmeißt. Das sind hunderte Geschichte in diesem Spiel. Das ist sicher eines, das noch am präsentesten ist.
Gibt es noch ein anderes?
Das erste WM-Spiel zwischen den USA und dem Iran – mit diesem Gruppenfoto, wo sich die Spieler gemischt aufgestellt haben. Das war auf meine Initiative hin. Wir wollen doch der Welt zeigen, dass wir friedlich miteinander umgehen – das war für mich immer klar, dass man das so macht. Bei der WM in Katar gab es auch wieder das Spiel. Ich habe der Fifa geschrieben, dass sie nochmal so ein Foto machen sollen. Aber leider haben sie es nicht gemacht.
Zum Abschluss nochmal zurück aufs Duell Deutschland gegen Schweiz. Ihr Tipp für Sonntag?
Also das letzte Mal haben wir die Deutschen 5:3 geschlagen – das war 2012 in einem Testspiel. Das war unser einziger Sieg gegen Deutschland, den ich überhaupt mitgekriegt habe, seit ich auf der Welt bin. Na komm, dann machen wir doch nochmal ein 5:3.
Über den Gesprächspartner
- Urs Meier (Jahrgang 1959) ist ein ehemaliger Schweizer Profi-Schiedsrichter. In seiner Karriere hat er über 880 Spiele geleitet, unter anderem auch bei großen Turnieren wie Welt- und Europameisterschaften. Später war er unter anderem als TV-Experte beim ZDF im Einsatz, heute ist er Schiedsrichter-Experte beim Schweizer Fernsehsender Blue TV sowie Dazn. Daneben ist Meier als Redner tätig, in seinen Vorträgen geht es häufig um das Thema "Entscheidungen treffen".
Verwendete Quellen
- Persönliches Interview mit Urs Meier (18. Juni), telefonische Nachfrage bei Urs Meier (20. Juni)
- youtube.com: EURO 2004 highlights: Portugal edge England in penalty drama
- Instagram-Post von Urs Meier, Stand 21. Juni 2024
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.