Die deutschen Schiedsrichter stehen trotz des Video Assistant Referee (VAR) immer wieder in der Kritik. Es kommt sogar die Frage auf, ob der VAR sie schlechter gemacht hat. Eine knifflige Angelegenheit, der Schiedsrichter-Experte Alex Feuerherdt im Gespräch mit unserer Redaktion nachgeht.
Matthias Jöllenbeck ließ weiterspielen. Er sah im Zweikampf zwischen dem Mainzer Anthony Caci und dem Schalker Marius Bülter nämlich kein Foul. Er pfiff keinen Elfmeter, und früher hätte es dann wohl auch keinen Schalker Siegtreffer in der Nachspielzeit gegeben. Keinen immens wichtigen Dreier im Abstiegskampf, kein Drama, keine Freudentränen, keinen unbändigen Jubel, Emotionen, Ärger, Wut, Erleichterung.
Das alles fand dann doch statt, weil es seit 2017 den Video Assistant Referee gibt, der nach Jöllenbecks Entscheidung einschritt. Jöllenbeck zeigte nach dem eigenen Studium der Bilder doch auf den Punkt und ließ damit mal wieder die Frage hochkochen: Sind die Schiedsrichter schlechter geworden? Womöglich auch bedingt durch den Videobeweis?
Eine angesichts der vielen neuen und intensiv geführten Diskussionen berechtigte, aber auch knifflige Frage. Denn die Suche nach einer Antwort ist so vielschichtig wie der Job des Schiedsrichters selbst. Was anfängt mit der Frage: Was gehört überhaupt zu einer guten Spielleitung? "Die Qualität der Entscheidungen, korrekt zu entscheiden, angemessen, und dabei eine einheitliche Linie zu fahren", antwortet Schiedsrichter-Experte Alex Feuerherdt im Gespräch mit unserer Redaktion.
Der VAR macht etwas mit den Schiedsrichtern
Dabei verbessere der VAR die Entscheidungsqualität, aber es mache etwas mit den Schiedsrichtern, wenn man einen Airbag habe; es beeinflusse das Gesamtagieren, sagt Feuerherdt. "Er hilft und trägt dazu bei, dass gravierende Fehlentscheidungen geändert werden können. Aber er beeinflusst die Art und Weise der Schiedsrichter, das Spiel zu leiten." Konkret kann es zu Unkonzentriertheiten führen, zur Zurückhaltung. Und auch dazu, dass Schiedsrichter nicht mehr so entscheidungsfreudig sind in ihrer Art, das Spiel zu führen.
"Manche Schiedsrichter wurden durch den VAR schwächer", sagte der frühere Weltklasse-Referee Urs Meier vor ein paar Monaten der "Zeit". "Wir liefen früher auf dem Hochseil ohne Fangnetz. Wer runterfiel, tat sich weh. Heute stürzen manche jungen Kollegen dreimal im Spiel runter und landen weich. Das senkt die Konzentration."
Dagegen stehen die Fakten aus der Bundesliga: Denn die Zahl der unberechtigten Eingriffe des VAR ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen, die Zahl der korrigierten Fehler ist zudem nicht gestiegen. "Es gab also weder mehr Eingriffe aufgrund von mehr Fehlern der Schiedsrichter, noch mehr falsche oder fehlende Eingriffe durch den VAR", sagt Feuerherdt. Die Zahl der Gesamt-Eingriffe liegt mit Ausnahme der Saison 2020/21 zudem auf einem ähnlichen Niveau, in der vergangenen Saison waren es mit 84 Eingriffen die wenigsten seit der Einführung.
VAR als Störfaktor
Feuerherdt sieht in der Bundesliga "Referees, die durch den VAR besser geworden sind, weil sie eine Absicherung haben und mutiger geworden sind. Andere waren es gewohnt, alleine zu entscheiden, und mit ihnen macht der VAR möglicherweise etwas", sagt Feuerherdt.
Der VAR wirkt dann eher als eine Art Störfaktor, als Ablenkung, gar als Belastung. Als ein Kontrolleur, der den Referee in seinen Freiheiten einschränkt, die früher seine Stärke waren. "Das kann bei Schiedsrichtern so sein, die sehr stark über die Persönlichkeit kommen und so die Spiele leiten, bei denen die Gesamtheit der Spielleitung, ihr Auftreten, ihre Akzeptanz deutlich über Entscheidungen steht, die man auch anders treffen kann", sagt Feuerherdt.
Der deutsche Top-Schiedsrichter Felix Brych findet den VAR "alternativlos, weil es mich vor diesen Maximalfehlern schützen kann und ganz oft schon geschützt hat. Wir können es mit dem VAR momentan nicht allen recht machen und wir werden es auch nicht jedem recht machen können", sagte der 47–Jährige im "Kicker meets DAZN"-Podcast. Zuvor hatte er den VAR laut dpa bereits als "doppelten Boden" für die Schiedsrichter bezeichnet. "Ich würde ohne VAR nicht mehr pfeifen wollen", sagte der Bundesliga–Referee.
Für Brych ist er aber "nur" ein zusätzliches Tool, entscheidend bleiben Faktoren wie Autorität, Spielführung und Entscheidungen. Auch bei anderen Schiedsrichtern hört man einen positiven VAR-Tenor heraus. "Ich kenne keinen Schiedsrichter, der sagt: 'Lasst uns den ganzen Mist wieder abschaffen.' Der Tenor ist, dass er den Schiedsrichtern trotz aller Diskussionen nützt und sie vor gravierenden Fehlern bewahrt", sagt Feuerherdt. Man gibt damit zwar die Kontrolle ab, allerdings für eine große Portion an Sicherheit, die vielen Schiedsrichtern wichtig ist.
Allerdings bildet sich durch den VAR eine neue Generation an Schiedsrichtern heraus. Frühere Spitzenschiedsrichter wie Meier, Anders Frisk, Pierluigi Collina, Markus Merk oder auch Howard Webb waren für eine charismatische, von ihrer Ausstrahlung geprägten Spielleitung bekannt.
"Immer noch markante Schiedsrichter an der Spitze"
Das gibt es heute auch noch, ist aber nicht mehr der einzige Faktor. "Wir haben in Deutschland immer noch markante Schiedsrichter an der Spitze. Wir haben aber eine Generation, die technischer entscheidet, stärker am Regelbuch orientiert als nach dem Gespür und Gefühl. Das liegt eben auch am VAR, der sehr viel technischer entscheidet", erklärt Feuerherdt.
Wichtig ist es aber auch, dass man ein großes Spiel nicht nur mit dem Regelbuch unter dem Arm lenken kann. "Man muss es auch mit Charisma und Persönlichkeit leiten. Trotzdem müssen einzelne, wichtige Entscheidungen stimmen. Und da wird heute ein größerer Wert darauf gelegt, anstatt nur auf den Gesamteindruck zu achten", sagt Feuerherdt.
Das bringt aber einen weiteren Punkt mit sich, der in die Niveau-Diskussion mit einfließen muss: die zwei Wahrheiten. Nämlich die auf dem Platz und die im Fernsehen. Was man auf einem zweidimensionalen Bildschirm sehe, täusche oft, betont Meier.
"Erstens: Ob ein Spieler mit Absicht foult, siehst du nur auf dem Platz, an Details, an einem Blick des Spielers, einer kleinen Bewegung. Zweitens schätzt man Distanzen am Bildschirm falsch ein. Sie sind aber wichtig, vor allem beim Handspiel. Drittens sieht am Fernseher alles viel langsamer aus", sagt Meier. Er nennt ein Beispiel, das den Unterschied veranschaulicht: "Wer Formel 1 schaut, denkt, er könnte mitfahren. An der Strecke verhält sich das ganz anders. Im Fußball ist es genauso."
Das technische Dilemma
Die Schiedsrichter in einem technischen Dilemma also? Ja, durchaus. "Die Bilder gaukeln schon mal eine Objektivität vor, die so gar nicht gegeben ist", bestätigt Feuerherdt: "Denn oft ist es bei Zweikämpfen oder Handspielen eine subjektive Frage, wie zu entscheiden ist, und da gibt es oft nicht die eine Wahrheit." Es kommt dann stattdessen zu Situationen auf dem Platz, bei der eine Entscheidung getroffen wird, mit der alle leben können. Niemand meckert, auch das Publikum rührt sich nicht. "Werden die Bilder jedoch seziert, sieht das möglicherweise schon wieder anders aus", sagt er Experte.
Ein Beispiel aus der Bundesliga ist ein Zweikampf am ersten Spieltag zwischen dem Kölner
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Das Niveau muss neu definiert werden
"Wäre es mit einem Freistoß weitergegangen, hätte niemand etwas gesagt. Nicht einmal Hector selbst. Stattdessen kommt Rot heraus, was die gesamte Statik des Spiels veränderte", sagt Feuerherdt. Das Problem mit den beiden Wahrheiten hat Meier auch als TV-Experte. Saß der Schweizer im Stadion, hat er keine Bilder gebraucht, "ich erkannte die Situation sofort. Wenn ich nicht im Stadion war, wurde ich unsicher. Dann prüfte ich fünf, sechs, sieben Perspektiven und gab ein Urteil ohne Überzeugung ab."
Feuerherdt sieht durch die Technik in der Bundesliga unter dem Strich keine neue, sondern "eine andere Baustelle". Beim Niveau falle ein Vergleich aber schwer, sagt er, "denn es ist etwas anderes, ob man den VAR als Absicherung hat. Die Anforderung an eine Spielleitung ist eine andere. Und das Niveau muss daher im Grunde neu definiert werden". Weshalb es bei der Frage, ob der VAR die Schiedsrichter schlechter gemacht hat, ein "Jein" wohl am besten trifft. Es ist nicht unbedingt schlechter geworden, sondern anders.
Verwendete Quellen:
- zeit.de: Urs Meier über VAR: "Manche Schiedsrichter sind durch den Videobeweis schlechter geworden"
- Podcast "Kicker meets DAZN"
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