Beim überragenden Sieg gegen Schottland fügt die deutsche Mannschaft alle Puzzleteile der Vorbereitung zu einem stimmigen Bild zusammen. Mit perfekten Ideen und perfektem Timing plus der nötigen Effizienz ist Deutschland in der Form ein Titelkandidat. Oder?
"So was hat man lange nicht gesehen", sangen die deutschen Fans schon Mitte der ersten Halbzeit. Das mag zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch etwas voreilig gewesen sein, im Grunde war es aber eine durchaus zutreffende Beschreibung: So etwas wie diesen Auftritt einer deutschen Nationalmannschaft - zumal bei einem großen Turnier - hat man tatsächlich lange nicht mehr gesehen.
Das 5:1 gegen Schottland war der höchste deutsche Sieg bei einer EM-Endrunde überhaupt und phasenweise eine Machtdemonstration und auch ein bisschen ein Sieg über die Stammtischrunden der Republik.
Einige der vermeintlichen Sorgenkinder, namentlich
Und
Deutschlands Gegenpressing beeindruckt
Wer genau hingehört hat bei den Interviews nach dem Spiel, hat eine Mischung aus Erleichterung, Stolz und auch einer guten Portion Vorsicht vernommen. Er hoffe, dass da noch mehr kommen werden, sagte
Es war nicht nur das eindeutige Ergebnis, sondern die Art und Weise, wie die deutsche Mannschaft förmlich über die fast schon bemitleidenswerten Schotten hinwegfegte. In allen Spielphasen war Deutschland seinem Gegner mindestens eine Klasse voraus, im Spiel mit dem Ball und im Gegenpressing lagen zwischen beiden Mannschaften sogar Welten.
Während Deutschland 683 Pässe und 73 Prozent Ballbesitz sammelte und am Ende 20 Torschüsse notiert waren, schossen die Schotten kein einziges Mal selbst auf das deutsche Tor. Die Bewährungsprobe für den zuletzt umstrittenen Manuel Neuer musste also vertagt werden – was eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich sein könnte.
Die deutsche Defensive jedenfalls erlebte in der Restverteidigung einen geruhsamen Abend. Es kam kaum vor, dass es die Schotten kontrolliert über die Mittellinie schafften, geschweige denn in Strafraumnähe gelangten. Das deutsche Gegenpressing fraß den Gegner in dessen Hälfte förmlich auf und war so etwas wie das heimliche beste Stilmittel. Nur eben nicht so spektakulär wie die zahlreichen offensiven Akzente.
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Tore wie vom Reißbrett
Mit Toren wie vom Reißbrett zerlegte Nagelsmanns Mannschaft den Gegner in der ersten Halbzeit. Dem 1:0 ging wie im Training mehrfach geübt ein schneller Seitenwechsel Toni Kroos‘ voraus. Gündogans Laufweg in die Tiefe verschaffte am Sechzehner der "zweiten Welle" den nötigen Raum, den
Beim zweiten Treffer fand wieder ein Kroos-Pass Gündogan zwischen den Linien, der mit einem fantastischen diagonalen Tiefenpass die schottische Defensive zerschnitt. Der Rest war zwischen Havertz und
Die ersten beiden Treffer und noch ein gutes halbes Dutzend ähnlicher Momente zeigten die ganze Bandbreite des deutschen Angriffsspiels und wie gut diese Mannschaft auch gegen zwei hintereinander aufgebaute Abwehrriegel in engen Räumen agieren kann – oder diese Räume einfach geduldig und mit einem klaren Plan aufspielt.
"Die ersten 20 Minuten waren schon beeindruckend: Viel Power, viel Aggressivität im Gegenpressing. Schottland war in der Anfangsphase sehr beeindruckt. Das hat uns natürlich extrem geholfen", sagte Nagelsmann nach dem Spiel im ZDF.
Das DFB-Team hat immer die richtige Idee
Auch gegen das schottische 5-4-1 dominierte Deutschland das Zentrum und immer auch und ganz nach Belieben die Tiefe im Spiel. Schottland wusste nie, welche Waffe die deutsche Mannschaft als Nächstes wählen würde: Die ständig eingestreuten Tiefenläufe der Tempospieler Havertz, Wirtz und Musiala zogen die schottischen Linien auseinander und schufen Raum im Zentrum.
Oder aber Kroos' Verlagerungen. Oder Maximilian Mittelstädts und Joshua Kimmichs Läufe über Außen: Am Ende war es fast immer so, dass sich Deutschland dann durch diese gut vorbereiteten Angriffe Zeit und Raum im Zentrum oder in der Halbspur schufen.
Der deutschen Mannschaft ist es gelungen, fast alle Elemente ihres Angriffsspiels in eine herausragende Halbzeit zu packen. In den Testspielen gegen die Ukraine und Griechenland waren die Versatzstücke auch schon da, sie passten nur nicht immer stimmig zusammen. Nun hatte die Mannschaft aber fast jederzeit das perfekte Timing und eine griffige Idee. Weshalb sich auch die internationale Presse fast schon überschlug vor Lob.
"Die Aussichten Deutschlands, sich bei der EURO 2024 im eigenen Land durchzusetzen, wurden nicht gerade optimistisch eingeschätzt. Es war schwer zu verstehen, warum dies so war. Ihr Passspiel, ihre Bewegungen und ihre Abschlüsse waren atemberaubend", schrieb die schottische Tageszeitung "The Herald" ehrfurchtsvoll. Von einer deutschen "Maschine" und "Prügeln" für die Schotten war zu lesen und auch das ist nicht falsch.
Schottland enttäuscht komplett
Allerdings muss man bei der Bewertung des Spiels auch die Leistung des Gegners einfließen lassen und die war zum Teil katastrophal. Die Schotten wollten im Mittelfeld-Pressing die Räume verengen und selbst auch mutig sein im eigenen Ballbesitz. Zwei Schlüsselfaktoren, die über die kompletten 90 Minuten nie zu erkennen waren.
Schottland hatte keinerlei nennenswerte Ballbesitzphasen und damit keine Entlastung, das reaktive Pressing ohne Balldruck und die zum Teil kratergroßen Löcher zwischen der Abwehr- und Mittelfeldlinie luden die deutschen Kreativspieler ein, ihre Klasse zu zeigen. Schottland gab nicht einen Schuss auf das gegnerische Tor ab, der Ehrentreffer konnte also nur durch ein Eigentor entstehen.
Deshalb sind die realistischen Einschätzungen der deutschen Spieler für die kommenden Aufgaben auch so wichtig. So einfach wie die Schotten werden es erst die Ungarn und dann die Schweizer der deutschen Mannschaft jedenfalls kaum machen.
Verwendete Quellen
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