Generalsekretär Kevin Kühnert spricht vor dem Europaparteitag der SPD über die Zukunft der EU, den drohenden Rechtsruck bei der Europawahl – und darüber, ob Olaf Scholz im Wahlkampf eine Hilfe oder mehr Belastung ist.
Es ist der Auftakt in ein Superwahljahr: Am Sonntag trifft sich die SPD zur Europadelegiertenkonferenz in Berlin. Dort will sich die Partei programmatisch aufstellen und ihr Spitzenpersonal wählen. Die Europawahl vom 6. bis 9. Juni (Deutschland wählt am 9.) ist der erste große politische Stimmungstest in diesem Jahr – danach folgen drei Ost-Landtagswahlen im Herbst. Für die Sozialdemokraten dürfte es nach Lage der Dinge ein schwieriges Jahr werden.
Im Europawahlkampf setzt die SPD auf Katharina Barley, bisher Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Kann sie die Stimmung drehen? Und welches positive Bild von Europa will die SPD den Wählerinnen und Wählern anbieten? Darüber haben wir mit Generalsekretär
Herr Kühnert, die Europawahl wird von Wählern gerne genutzt, um den regierenden Parteien einen Denkzettel zu verpassen. Wird die SPD am 9. Juni abgestraft?
Kevin Kühnert: Dagegen können und werden wir etwas tun. Die SPD wird den Europawahlkampf nutzen, um über die Kraft europäischer Politik zu sprechen und wofür wir sie konkret einsetzen wollen. Die Wähler stimmen nur dann nach rein nationalen Erwägungen ab, wenn wir ihnen bei der Europawahl keine Chance bieten, sich zwischen verschiedenen politischen Ansätzen zu entscheiden. Außerdem geht es am 9. Juni um etwas ganz Grundsätzliches. Die Katze ist ja nun aus dem Sack: Die AfD will Deutschland laut Frau Weidel aus der EU führen und damit den Ast absägen, auf dem unsere Exportwirtschaft und Millionen Beschäftigte im Land sitzen. Diesen Kampf nimmt die SPD gerne an!
Im Wahlkampf sind zunächst vor allem die Gesichter der Spitzenkandidaten präsent. 2019 fuhr
Das Wahlergebnis 2019 hatte sicherlich am wenigsten mit Katarina Barley zu tun. Die SPD war am Ende langer GroKo-Jahre in einer sehr, sehr zerstrittenen Verfassung. Bei der Europawahl in diesem Jahr drängen sich Themen auf, die zu Katarina Barley als Kandidatin sehr gut passen: Sie hat sich maßgeblich um die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in Europa verdient gemacht und sich mit Demokratiefeinden in Ungarn und Polen erfolgreich angelegt.
Ist die SPD jetzt in einer besseren Situation? Zwar führen Sie die Regierung an, Bundeskanzler
In den nächsten fünf Jahren geht es darum, dass die nationale und die europäische Ebene Hand in Hand die Herausforderungen anpacken. Wenn Berlin und Brüssel im Dauerstreit sind, wird für die Menschen in Deutschland nichts besser. Deshalb braucht es die Achse aus Olaf Scholz und Katarina Barley. Respekt, Zukunftsmut und internationale Verständigung sind die gemeinsamen Grundlagen ihrer Politik. Der Bundeskanzler wird daher ebenso wie Katarina Barley eine zentrale Rolle in unserer Wahlkampagne spielen. Für Deutschland ist es gut, wenn wir eine starke Frau in Europa und einen SPD-Bundeskanzler in Deutschland haben, die dieselben Auffassungen zu zentralen Fragen der Migrations-, Arbeitsmarkt- oder Wettbewerbspolitik haben. Das können die Konservativen nicht von sich behaupten. Friedrich Merz und Ursula von der Leyen sind ja eher sowas wie Dieter Bohlen und Thomas Anders: Man hat mal in der gleichen Band gespielt, aber heute geht man sich lieber gepflegt aus dem Weg.
Der Kanzler wird bei öffentlichen Auftritten regelmäßig ausgebuht. Ist es wirklich klug, mit ihm Europawahlkampf zu machen?
Das Erscheinungsbild der Ampel lädt nicht zum Jubeln ein, stimmt. In der Sache kommt die Regierung von Olaf Scholz aber zackig voran. Mit unserer Regierungsbilanz können wir durchaus sehr zufrieden sein. Von Mindestlohn bis Deutschlandticket gab es zahllose Entscheidungen, die allgemein begrüßt werden. Damit brauchen wir uns nicht verstecken.
Als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten unterstützt die SPD den Luxemburger Nicolas Schmit. Warum haben Sie sich nicht für eine Frau eingesetzt – nämlich Katarina Barley?
Katarina Barley ist eine gestandene und erfahrene Parlamentarierin und deswegen führt sie die Liste der SPD für das Europaparlament an. Da nach unserer Auffassung der europaweite Spitzenkandidat bei einem Wahlsieg auch Kommissionspräsident werden soll, haben wir den Kandidaten nominiert, der dort die meiste Erfahrung hat. Nicolas Schmit als Kommissar für den Bereich Arbeit und soziale Rechte kennt unseren deutschen Arbeitsmarkt optimal, teilt unsere Leidenschaft für den Industriestandort Europa – und er spricht fließend Deutsch.
Bei der letzten Europawahl sollte eigentlich auch schon das Spitzenkandidatenprinzip gelten. Am Ende wurde
Die konservative Parteienfamilie hat mit diesem Prinzip gebrochen, das war ein Foul. An uns Sozialdemokraten wird es auch dieses Mal nicht scheitern. Die Wählerinnen und Wähler verdienen schon vor der Wahl maximale Transparenz. Die Spielregeln und Institutionen in Europa sind nur so stark, wie die Akzeptanz aller Akteure es zulässt. Die Konservativen müssen endlich mit offenen Karten spielen.
Apropos Akzeptanz: Die nimmt in Bezug auf die EU bei den Deutschen in den vergangenen Jahren eher ab. Welche Vision von Europa bietet die SPD den Wählerinnen und Wählern an?
Das Potenzial von Europa ist seine gebündelte Stärke, die den Menschen Schutz im Alltag bietet. Vorneweg gilt das für den Frieden zwischen unseren Ländern, der die Grundlage für alles und nicht selbstverständlich ist. Doch die EU könnte noch viel mehr sozialen Schutz bieten. Wir wollen einen europaweiten Mindeststeuersatz in Höhe der deutschen Körperschaftssteuer durchsetzen, um vor Steuerdumping der großen international agierenden Konzerne zu schützen. Wir wollen unseren Strommarkt so weiterentwickeln, dass Auswüchse wie im Sommer 2022 nicht mehr vorkommen. Europa kann seine Kraft bündeln, um konkrete Fortschritte für die arbeitende Mitte unserer Gesellschaft zu erzielen.
Das klingt nach mehr Europa, dabei wächst in der Bevölkerung die Skepsis.
Mit Parolen wie "mehr Europa" oder "weniger Europa" kommen wir nicht weiter. Der SPD geht es nicht darum, mehr Beamte in Brüssel zu haben. Manche Bürokratie kann gerne weg. Wir wollen aber, dass die EU ihre Marktmacht und politische Kraft dafür einsetzt, den Alltag der Menschen leichter und gerechter zu machen. Wenn die EU beispielsweise gegen Dumpinglöhne kämpft, dann ist das doch keine Bürokratie, sondern im Interesse der großen Mehrheit.
Gehört zu dieser Stärke auch eine gemeinsame Armee?
Das wäre der dritte Schritt vor dem ersten. Erstmal müssen wir beim Thema der gemeinsamen Beschaffung und Organisation für unsere nationalen Streitkräfte vorankommen. Wir brauchen nicht alles in 27-facher Ausführung, hier spart Zusammenarbeit Zeit und Geld. Eine bessere Koordinierung in der Rüstungsproduktion ist auch mit Blick auf unsere Unterstützung der Ukraine wichtig. Bis zur gemeinsamen Armee ist es aber gewiss noch ein langer Weg.
Ex-Außenminister Joschka Fischer hat sogar eine europäische Atombombe ins Spiel gebracht.
Das macht Menschen Angst. Ich halte das für eine verstörende Diskussion. Wir sind Teil der Nato und damit Teil eines kollektiven Schutzschirms, der auch atomare Kapazitäten beinhaltet – die gibt es nicht nur in den USA. Eine ernsthafte Diskussion darüber, wie verlässlich der Nato-Schutzschirm künftig noch funktioniert, ist notwendig und richtig. Die EU muss in dieser Hinsicht souveräner werden. Die Debatte darüber aber mit der Forderung nach europäischen Atomwaffen zu beginnen, das halte ich für einen Schachzug, der nur Herrn Fischer Aufmerksamkeit verschafft – nicht aber der Sache gerecht wird.
Im Entwurf zum SPD-Europaprogramm steht: "Die Europäische Union hat sich in den Krisen der vergangenen Jahre bewährt. Sozialdemokratische Krisenbewältigung hat Europa zusammengeführt, wo Konservative zuvor gespalten haben." Woran denken Sie?
Beispiel Migrationspolitik: Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, dass auf unserem gar nicht mal so großen Kontinent nur gemeinsame europäische Regeln dieses gesellschaftlich wohl wichtigste Streitthema unserer Tage wieder beruhigen können. Konservative und nationalistische Kräfte dagegen bestreiten ihre nationalen Wahlkämpfe mit dem Thema, indem sie die Verantwortung an die Nachbarländer delegieren, aber nicht nach gemeinsamen europäischen Lösungen suchen. Das ist verantwortungslos.
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Die EU hat sich auf eine Reform des gemeinsamen Asylsystems geeinigt. Wie zufrieden sind Sie damit?
Ich finde längst nicht alles darin gut. Der künftige Umgang mit Familien und Kindern schmeckt mir nicht, da kämpft die SPD weiterhin für mehr Humanität. Das sind Zugeständnisse, die wir in den Verhandlungen an die nach rechts verschobenen Mehrheiten in Europa machen mussten. Im Gegenzug haben wir aber dafür gesorgt, dass sich kein Mitgliedstaat mehr aus der Solidarität nehmen kann. Zwar kann Herr Orban aus Ungarn auch weiterhin verhindern, dass Menschen bei ihm im Land aufgenommen werden, aber er muss verbindlich dafür zahlen, dass andere die europäischen Werte leben und die Integrationsarbeit leisten. Das ist ein wichtiger Fortschritt, der uns entlastet.
Bei der Europawahl droht ein Rechtsruck. Haben Sie Sorge, dass die EVP, die konservative Fraktion, im nächsten Parlament mit Rechtsaußen gemeinsame Sache macht?
Ich kenne ganz viele anständige Konservative, auch in Reihen der EVP, die mit Rechtsaußen nichts am Hut haben. Aber: Die Wirklichkeit in Europa spricht eine deutliche Sprache. In vielen Ländern regieren Rechtsradikale mit, weil ihnen die örtlichen Konservativen ins Amt verholfen haben. Ursula von der Leyen ist sicherlich keine, die Sympathien für Rechtsradikale hat. Aber ob sie die Kraft und vor allem die Macht hat, in ihrer EVP eine rote Linie durchzusetzen? Dafür spricht bislang nicht viel.
Appellieren Sie an die Konservativen, nicht mit den extremen Rechten zusammenzugehen?
Es ist ein Appell an die Konservativen, aber vor allem an die Wählerinnen und Wähler: Je größer der rechtsradikale und demokratiefeindliche Block im Europäischen Parlament wird, desto schwieriger wird es, unter den anderen Fraktionen Mehrheiten zu finden. Die aktuellen Umfragen lassen sowohl ein konservativ-sozialdemokratisch-liberales als auch ein konservativ-rechtes Bündnis zu. Ich befürchte für Europa eine Konstellation wie in Thüringen. Konservative könnten dann sagen: Wenn ihr Sozialdemokraten keine Kompromisse nach unseren Vorstellungen eingeht, dann seid ihr verantwortlich, wenn am Ende die Rechtsradikalen das Zünglein an der Waage sind. Dieses Spiel mit dem Feuer ist extrem gefährlich. Die Bürgerinnen und Bürger müssen den Parteien bei der Wahl daher eine wichtige Frage stellen: Gebt ihr euer Wort, dass ihr nicht den Pakt mit dem Teufel eingeht und Mehrheiten mit Rechtsaußen sucht? Wer dieses Bekenntnis nicht ablegen kann, dem sollte man als überzeugter Demokrat auch seine Stimme nicht geben.
Bei der letzten Europawahl hat die SPD 15,8 Prozent geholt. Welches Ziel haben Sie diesmal?
Ich will natürlich, dass das Ergebnis besser wird und deshalb werden wir auch einen Vollgas-Wahlkampf machen. Vor allem wollen wir aber eine hohe Wahlbeteiligung erreichen. Wenn das gelingt, dann ist es erfahrungsgemäß gut für die SPD, aber vor allem für unsere Demokratie.
Über den Gesprächspartner
- Kevin Kühnert wurde 1989 in West-Berlin geboren. Seit Dezember 2021 ist er Generalsekretär der SPD, zuvor war er von November 2017 bis Januar 2021 Bundesvorsitzender der Jusos. Für Aufsehen sorgte in seiner Amtszeit unter anderem die Kampagne gegen die Große Koalition. Als direktgewähltes Mitglied des Bundestags vertritt Kühnert seit Oktober 2021 den Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg im Süden von Berlin.
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