Am Samstag tritt der BVB im Champions-League-Finale gegen Real Madrid an. Vor dem Endspiel in Wembley haben wir mit Ex-Profi Sebastian Kneißl gesprochen.

Ein Interview

Kann Borussia Dortmund im Finale der Champions League gegen Real Madrid die eigene Saison krönen? Oder sind es die Königlichen, die am Ende wieder mal die Oberhand haben? Wir haben uns vor dem Endspiel mit dem Dazn-Experten Sebastian Kneißl über die Geschichten des Spiels, die Chancen des BVB und "Querpass-Toni"-Kroos unterhalten.

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Toni Kroos hört auf. Jude Bellingham trifft auf seinen Ex-Klub. Mats Hummels könnte aufhören, Marco Reus macht das zumindest beim BVB. Und dazu kann der BVB sein Wembley-Trauma abhaken. Herr Kneißl, wie kitschig ist dieses Finale?

Sebastian Kneißl: Wenn ich mich vorher mit diesem Spiel noch nicht beschäftigt hätte, hätten Sie mich mit dieser Einleitung sowas von heiß gemacht (lacht). Man sagt ja immer "The Last Dance", wenn jemand aufhört. Aber das ist fast schon ein Tanzwettbewerb. Dieses Spiel ist sehr besonders. Toni Kroos steht meines Erachtens über allem, weil er für mich der beste deutsche Mittelfeldspieler in der Geschichte ist. Deshalb ist es natürlich auch spannend zu sehen, welchen Abschied er bekommt. Es ist nicht einfach nur Borussia Dortmund gegen Real Madrid, es gibt so viele tolle Geschichten zu diesem Spiel. Ich mag es, wenn ein Spiel eine Geschichte hat. Aber dieses Duell hat gleich mehrere Ansätze.

Sebastian Kneißl hat im Interview mit unserer Redaktion unter anderem über das CL-Finale gesprochen. © imago images/Matthias Koch/Sebastian Räppold

Kroos hört nach der EM auf, in Madrid haben sie ihn zuletzt hochleben lassen. Warum hat er diese Anerkennung eigentlich nie in Deutschland erhalten?

Toni Kroos ist jemand, der eine eigene Meinung hat und diese auch sofort kundtut. Er weiß, was er für einen Wert hat. Und er weiß auch, welchen Einfluss er hat. Er ist ein Stratege auf dem Platz. Ein Stratege hat eine gewisse Vision, einen Weitblick. Und er kann Dinge ganz gut einschätzen. Das kam in Deutschland, speziell bei Uli Hoeneß, nicht so gut an. Er hielt die Gehaltsforderungen vor Kroos' Wechsel nach Madrid für übertrieben. Letzten Endes ist alles genauso eingetroffen, wie Kroos sich das vorgestellt hat. Dieser Schuss Vertrauen in die eigene Leistung, in das eigene Können, in die Vision, das hat zu dem Zeitpunkt in Deutschland nicht ganz gepasst.

"Das zeigt, wie professionell und wie groß Toni Kroos ist."

Sebastian Kneißl

Aber dieses "Querpass-Toni" war ja schon ein Stück weit unter der Gürtellinie und hielt sich hartnäckig, auch in den vergangenen Jahren.

Das zeigt, wie professionell und wie groß Toni Kroos ist. Denn er braucht kein Bild im Trikot mit dem WM-Pokal in der Kabine oder auf dem Platz. Es gibt kein Selfie mit Angela Merkel. Es gibt kein öffentliches Statement dagegen. Er braucht das nicht, weil er über den Dingen steht. Er hat die Überzeugung, er weiß, was er macht. Und letztlich, wenn man auf diverse Statistiken schaut, ist es schnell erkennbar, dass es auch einfach nicht stimmt. Der Querpass-Toni kommt eher daher, dass es das eine oder andere gekränkte Ego nicht verkraften kann, dass jemand sich gegen sie entschieden hat.

Welches Happy End der zahlreichen Geschichten wäre für Sie das schönste?

Jetzt habe ich ein kleines Problem. Denn auf der einen Seite wünsche ich Toni Kroos den maximal schönsten Abschied von der Fußball-Bühne. Auf der anderen Seite bin ich wirklich begeistert vom BVB. Von der Art und Weise, wie sie spielen, und auch, wie viele Rückschläge sie einstecken mussten, auch aufgrund nicht optimaler Leistungen. Aber in der Champions League haben sie fast immer überzeugt. Ich würde es auch Marco Reus gönnen. Edin Terzic würde ich es auch gönnen, weil er phasenweise richtig mitgenommen aussah und sich auch so anhörte. Der Job hat ihn bisweilen richtig ausgelaugt. Ich gönne Menschen, die so etwas durchmachen und durchstehen, den Erfolg. Weil sie trotzdem immer wieder abliefern. Dann wünsche ich ihnen auch diesen Titel.

Kneißl: So kann der BVB Real schlagen

Auf dem Papier ist Real Favorit. Sebastian Kehl hat gesagt, der BVB habe Waffen – wo sehen Sie diese Waffen?

In der Schnelligkeit im Umschaltspiel. Wenn der BVB es schafft, Real Madrid aus der eigenen Hälfte zu locken, sie kommen zu lassen. Real Madrid ist in dieser Saison die beste Umschaltmannschaft. Sie haben Vinicius Jr., Rodrygo, Jude Bellingham oder Federico Valverde, die Tempo haben, die umschalten können. Sie können tief stehen und spielen diesen einen langen Ball. Das machen sie für den Gegner leider ohne Muster im Offensivspiel. Das macht es so schwer, sie auszurechnen. Wenn der BVB es schafft, dass Real Madrid kommen muss und Raum zulässt, dann hat Dortmund auch die schnellen Leute, um Real wehtun zu können. In das Pressing zu gehen, würde ich dem BVB nicht raten, das kann Real aushalten, da sind sie richtig stark. Eher tiefer stehen, um dann mit ein, zwei Umschaltaktionen erfolgreich zu sein.

Wie kann man die Königlichen generell knacken?

Indem man zäh bleibt in den Zweikämpfen, zäh in der Kompaktheit. Real Madrid wartet immer nur auf Räume, um sie dann zu bespielen. Sie sind extrem geduldig. Es ist diese Aura, diese Präsenz, wenn Real Madrid auf den Platz kommt, unabhängig von der Startaufstellung. Man weiß, da kommt eine Mannschaft, die vom eigenen Können komplett überzeugt ist. Die kann auch in der Nachspielzeit noch den 'Lucky Punch' setzen. Da gilt es, spätestens in der eigenen Hälfte immer wieder dran zu sein, damit Real sich nicht so entfalten und keine kontrollierten Bälle nach vorne spielen kann.

Auf welche BVB-Spieler wird es vor allem ankommen?

Ich bin tatsächlich gespannt, wie die Startaufstellung aussehen wird. Was macht die Innenverteidigung gegen Vinicius Jr.? Dann bin ich gespannt, wer auf der Sechserposition spielt, ob Marcel Sabitzer und Emre Can oder nur eine Sechs gegen Bellingham. Und natürlich bin ich gespannt, was vorne Niclas Füllkrug gegen Antonio Rüdiger macht. In diesem Spiel sind die zentralen Positionen, also der Sechser, Achter und Zehner, diejenigen, die das Spiel auch entscheiden werden.

Real Madrid hat noch kein Champions-League-Finale verloren, beim Landesmeister-Pokal sowieso nur dreimal, zuletzt 1981. Wie entwickelt sich so eine Mentalität? Real wirkt gerade in der Champions League nahezu unbezwingbar.

Mentalität kommt durch viele wiederholte positive Erlebnisse. Sie lagen in den Finals auch zurück. Sie hatten Gegendruck, sie hatten Phasen, in denen sie gelitten und gewackelt haben. Deshalb wissen sie aus Erfahrung, wie sie sich in diesen Situationen zu verhalten haben. Sie gehen mit einer Überzeugung in die eigene Leistung auf den Platz. Das haben sie sich hart erarbeitet. Der BVB hat nicht diese Tradition an Mentalitätserfahrung auf allerhöchster Ebene in der Champions League vorzuweisen. Aber sie haben in dieser Champions-League-Saison ganz oft Mentalitäts-Pluspunkte gesammelt. Deshalb ist es für mich ein klassisches Mentalitätsspiel. Wie lange habe ich Geduld und wann setze ich es um in Gier, um dieses Spiel gewinnen zu wollen? Da musst du während des Spiels immer wieder jonglieren. Und natürlich auch die Fähigkeit haben, zu leiden und zu sagen: "Jetzt hat der Gegner den Ball. Wir kommen gerade nicht in die Zweikämpfe, aber wir stehen zumindest kompakt." In dieser Saison sehe ich beide Teams in der Hinsicht auf Augenhöhe.

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Wie groß ist der Faktor Carlo Ancelotti?

Ich mag Understatement. Ich mag es, wenn trotz Understatement Leistung geliefert wird, und das immer auf allerhöchster Ebene. Ancelotti hat in den Top-5-Ligen die Meisterschaft geholt. Er hat auch viermal die Champions League gewonnen. Er ist jemand, der mehr über das Vertrauen in die Fähigkeit der Spieler kommt. Gleichzeitig aber auch weiß, wann er mal die Zügel anziehen muss. Er ist nicht der Taktik-Typ. Er kommt über Vertrauen, Ausstrahlung, Souveränität und Ruhe. Er ist einer der absolut Größten in der Trainergeschichte. Er hat das Spiel nicht geprägt mit seinem Fußball. Aber er hat ohne Frage das Traineramt geprägt.

Wie sehen Sie Edin Terzic? Er wurde während der Saison oft kritisiert, stand gefühlt ewig auf der Kippe und ist jetzt im Grunde unantastbar. Typisch Fußball? Oder ist das vor allem ungerecht?

In den meisten Phasen wurde er ungerecht behandelt. Wenn es nicht gut läuft, steht der Trainer zuerst in der Kritik. Die Kritik war teilweise echt heftig. Man muss immer verstehen, dass das ein Mensch ist. Man muss deshalb schauen, wie man die Kritik äußert. Auf der anderen Seite wird er mir jetzt aber auch zu hochgejubelt. Es zählen heute leider oft nur noch die Extreme. Er war nicht alleine für schlechte Phasen verantwortlich. Er ist aber auch nicht alleine dafür verantwortlich, dass es jetzt so gut läuft. Aber er hat an Standing gewonnen, nach außen, aber auch bei der Mannschaft. Als Trainer ist es wichtig, dass du Ergebnisse lieferst. Die Jungs haben gemerkt, dass es ganz schön okay ist, was der Trainer ihnen mitgibt. So haben sie es bis ins Finale geschafft.

"Es sitzen alle in einem Boot."

Sebastian Kneißl

Wie groß schätzen Sie seinen Anteil am Finale ein?

Es ist für mich immer ausgeglichen. Natürlich ist der Trainer wichtig. Aber eine Mannschaft mit diesen starken und erfahrenen Spielern kann auf dem Platz auch vieles alleine regeln. Es sitzen alle in einem Boot. Es gab Phasen, in denen die Mannschaft mehr gefunden hat als er. Auf der anderen Seite gab es Momente im Spiel, in denen er mehr geliefert hat.

Die Verantwortlichen haben vergeblich versucht, die Diskrepanz zwischen Bundesliga und Champions League zu erklären. Können Sie das?

Du weißt als Spieler, dass die Champions League die größte Ebene und Bühne ist. Du bekommst noch mehr Aufmerksamkeit. Es gibt ganz besondere Spiele, auch schon in der Gruppenphase. Es wird deutlich mehr berichtet, die mediale Präsenz ist viel größer. Wenn du in der Bundesliga irgendwann den Anschluss an die Spitze verloren hast, geht Spannung verloren. Dann geht dieses "Wir können etwas gewinnen" verloren. Damit hast du dann automatisch bei jedem Spieler zwei, drei Prozentpunkte weniger auf dem Platz. Dann kommen Ergebnisse zustande, die man dem BVB eigentlich nicht zuordnen würde. Deshalb wäre es gut, wenn sich die Verantwortlichen nach der Saison zusammensetzen und in Ruhe analysieren. Um dann zu schauen, wie es weitergeht.

BVB gegen Real: Wie viel Spektakel können wir auf dem Platz erwarten?

Wir werden viel Taktik sehen. Defensiv wird der BVB sehr abwartend agieren. Wir werden einen BVB sehen, der viel kommuniziert und versucht, so wenig Räume wie möglich herzugeben. Wir werden Real Madrid sehen, das sehr geduldig spielen, die sich das Ganze erstmal anschauen wird. Was macht der BVB, wann gehen sie ins Pressing, wann rücken sie mal raus? Das testest du aus als Spieler auf dem Platz, um ein Gefühl für den Gegner zu bekommen. Deshalb glaube ich nicht, dass wir so ein Spektakel sehen werden wie bei Real Madrid gegen Manchester City. Es wird aber zwischendurch mal Phasen geben, die intensiver sind. Mein Hot Take ist, dass es bis ins Elfmeterschießen geht.

Was würde eine Niederlage für den BVB bedeuten?

Eine Niederlage wird nichts daran ändern, dass die Bundesliga-Saison nicht gut und dass die Champions-League-Saison eine sehr, sehr gute war. Es wäre überhaupt kein Drama oder eine Abschwächung der Saison, falls sie verlieren.

Wie groß ist der Einfluss dieses Finals und des Ausgangs auf die deutsche Nationalmannschaft im Hinblick auf die EM?

Es kommt auf die Art und Weise der Leistung an. Wenn du als BVB verlierst, aber mit einer richtig guten Leistung aus dem Finale rausgehst, dann nimmst du das mit. Ich glaube schon, dass es etwas mit dir macht, wenn du es nicht hinbekommst, die Leistung auf den Platz zu bringen und dann verlierst. Doch klar: Wenn du gewinnst, profitiert die Nationalmannschaft davon. Da kommen Jungs, die den größten Titel auf Vereinsebene eingefahren haben. Das kann der Mannschaft nur helfen. Da kommen Jungs, die gerade ein positives Erlebnis hatten und gehen in eine Heim-EM und nehmen diesen Schwung mit.

Über den Gesprächspartner

  • Sebastian Kneißl wagte 2000 mit nur 17 Jahren als vielversprechendes Talent (U19-Vize-Europameister) den Sprung von Eintracht Frankfurt zum FC Chelsea, kam dort aber nicht bei den Profis zum Einsatz. Er spielte anschließend unter anderem für Fortuna Düsseldorf und Wacker Burghausen. 2014 beendete Kneißl aufgrund einer Sportinvalidität seine Profikarriere. Seit 2016 ist er unter anderem bei Dazn als Experte tätig.
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