In allen ostdeutschen Bundesländern wurde die AfD bei der Europawahl stärkste Kraft. Im Herbst wird in drei Ostbundesländern der Landtag gewählt. Was bedeutet das Ergebnis für diese kommenden Wahlen?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wer sich die Karte mit den Stimmergebnissen der vergangenen Europawahl anschaut, der kommt nicht umhin zu bemerken, dass ein Riss durch Deutschland geht. Abgesehen von den großen Ballungsgebieten wie Berlin, Hamburg und Bremen ist die Republik zweigeteilt. In den westlichen Bundesländern dominiert die CDU beziehungsweise in Bayern die CSU. In den östlichen Bundesländern klar die AfD.

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Dass die Rechtspopulisten bei der Wahl die klaren Sieger waren, ist unumstritten. Die Ergebnisse im Osten werfen jedoch die Frage auf, wie sich dieser starke Kontrast erklären lässt und was die Ergebnisse für die Landtagswahlen im Herbst bedeuten. Am 1. September wird in Sachsen und Thüringen gewählt, am 22. September in Brandenburg.

Sieg der AfD auch bei Landtagswahlen erwartet

Auch in den Umfragen zu den Landtagswahlen liegt die AfD in allen drei Bundesländern vorne. Politikwissenschaftler Werner Patzelt erklärt gegenüber unserer Redaktion, die Europawahl lasse erwarten, dass die AfD auch bei den kommenden Wahlen im Herbst stärkste Kraft wird. Anschließend würden sich die anderen Parteien genötigt sehen, eine Regierung gegen die AfD zu bilden. Das würde aber letztlich nur weiter zum Erstarken der AfD führen, sagt Patzelt.

Den Grund für das starke Abschneiden der AfD gerade im Osten sieht Patzelt bei den Vorbehalten in den ostdeutschen Bundesländern gegenüber der Regierung in Berlin. "Im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung hatte die PDS der Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher mit westdeutsch geprägten Entscheidungen auf Bundesebene Ausdruck verliehen."

An deren Stelle sei nun die AfD getreten. Der Protest mache sich vor allem an dem Widerstand gegen die Migrationspolitik fest. "Um dieses zentrale Thema lagern sich immer weitere sonstige Kritikpunkte, vor allem an der Klima-, Energie- und Russlandpolitik."

Rechtsextremes Weltbild begünstigt AfD

Politikwissenschaftlerin Isabelle Borucki sieht ebenfalls die politische Sozialisation der ostdeutschen Bundesländer als Grund für das Wahlergebnis, sieht allerdings den Rechtsextremismus hierbei als entscheidende Größe: "Schon bei den EU-Wahlen 2019 schnitt die AfD dort deutlich besser ab, wo Unterstützung rechtsradikaler Parteien und rechtsautoritäre Einstellungen historisch verwurzelt sind. Auch die Zugewinne gegenüber 2014 kamen vor allem aus Gegenden, die zuvor DVU oder Republikaner gewählt haben."

Kleinräumige Analysen zeigen, dass die AfD vor allem da stark ist, wo rechtsautoritäre Einstellungen abgerufen werden können und mitunter auch ein geschlossen rechtsextremes Weltbild vorherrscht. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fand 2021 heraus, dass mehr als die Hälfte der AfD-Wählerschaft latent oder manifest rechtsextrem eingestellt ist.

Verantwortung der Ampel-Regierung

Die Union, die ebenfalls ein Gewinner der Europawahl war, gibt der Ampel-Regierung die Schuld für das starke Abschneiden der AfD. Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder forderte als Konsequenz gar Neuwahlen. Gegenüber dem Nachrichtensender ntv erklärte er, die Ampel habe kein Vertrauen mehr, "diese Regierung ist im Grunde genommen fertig".

Politikwissenschaftler Patzelt dazu: "Diese CDU-Behauptung ist insofern richtig, als das Tun und Nichttun der Ampelregierung wirklich viele im Land enttäuscht und verärgert." Im vergangenen Jahr hatte das Heizungsgesetz von Wirtschaftsminister Robert Habeck viele Bürger aufgebracht. Anfang des Jahres brachten geplante Kürzungen bei den Agrarsubventionen Tausende Bauern auf die Straße. Aber auch das Thema Migration bestimmte den Wahlkampf zur Europawahl: Der Mord an einem Polizisten in Mannheim durch einen afghanischen Islamisten überschattete die Tage vor der Wahl.

Allerdings konnte die CDU selbst im Osten den Wahlsieg der AfD nicht verhindern – sie stellte also auch keine Alternative für deren Wähler dar. Patzelt sieht hierfür die Politik der CDU unter Angela Merkel als Grund an: "Ganz unrichtig ist diese Behauptung, dass allein die Ampel die Schuld an dem Wahlergebnis trägt, insofern, als diese ja nur zentrale Politiken entschieden fortsetzt, welche die CDU selbst - freilich unter Druck von SPD und Grünen - eingeleitet hat."

So ist die Flüchtlingspolitik seit 2015, der Atomausstieg, die weitestgehende Abrüstung der Bundeswehr und die Russland-Politik nach der Besetzung der Krim unter CDU-Führung beschlossen worden.

Union übernimmt AfD-Positionen

Seitdem der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz das Amt übernommen hat, versucht die Union sich zunehmend von der Politik der Merkel-Ära abzugrenzen. Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fordert die Partei entschieden mehr Waffenlieferungen für das angegriffene Land und eine schnelle Aufrüstung der Bundeswehr. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wollte zuletzt den Atomausstieg verzögern und stellte diesen sogar ganz infrage. Beim Thema Abschiebungen straffälliger Asylbewerber drängt CDU-Chef Merz die Ampel-Regierung immer wieder zu entschlossenerem Handeln.

Die AfD vertritt in großen Teilen ähnliche Haltungen – und das bereits deutlich länger als die Union. So fordert sie einen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, konsequentere Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern und eine schnellere Aufrüstung der Bundeswehr. Einzig bei der Unterstützung der Ukraine ist die AfD komplett anderer Ansicht als CDU und CSU. Sie fordert ein Ende der Unterstützung.

Politikwissenschaftlerin Borucki sieht im Umschwenken der Union in Richtung der AfD einen Grund dafür, dass die Rechtspopulisten im Osten trotzdem die Oberhand behalten haben. Die Union würde die AfD eben lediglich kopieren; und "warum sollten Wählerinnen und Wähler das Imitat wählen, wenn man das Original haben kann?"

Politikwissenschaftler Patzelt: AfD-Positionen ernst nehmen

Laut Politikwissenschaftler Patzelt gäbe es zwei Handlungsweisen, um den Höhenflug der AfD zu stoppen. Zunächst sei es wichtig zu unterscheiden, was an den Vorwürfen der AfD an die Adresse der etablierten Politik sachlich begründet sei und was allein Polemik oder ideologische Verblendung. So gebe es einige reale Fehler der Politik der vergangenen Jahre im Bereich Migration, Energiepolitik, Sozialpolitik und Sicherheitspolitik, auf denen der Erfolg der Rechtspopulisten beruht.

Patzelt sieht hier vor allem die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und die Fortführung einer migrationsfreundlichen Position durch die Ampel-Regierung als ausschlaggebend. So vermittele die Überlastung der Kommunen durch aufgenommene Geflüchtete das Bild, dass deutsche Bürger weniger wichtig für die Bundesregierung seien als Geflüchtete. Dass Ukrainer direkt und ohne Antrag Bürgergeld erhalten, sei ein weiterer Punkt, der der AfD bei der Europawahl Stimmen gebracht habe.

Auch Teile der Union und der FDP kritisieren die aktuelle Situation und fordern ein Umdenken bei der Frage der Bürgergeldzahlungen an ukrainische Geflüchtete. Gegenüber dem "Tagesspiegel" erklärte der Parlamentsgeschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, die Bundesregierung habe "mit ihrem Bürgergeld Fehlanreize geschaffen, die dringend korrigiert werden müssen".

Er halte es für dringend geboten, diese Fehlentwicklung zu korrigieren und die Unterstützung der Ukrainer zu überarbeiten. FDP-Politiker Frank Schäffler erklärte laut Bericht: "Die Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine in den Arbeitsmarkt ist mit 25 Prozent immer noch völlig unzureichend." Daran sehe man die falsche Anreizwirkung des Bürgergeldes.

AfD-Politiker argumentativ stellen

Außerdem sei es wichtig, dass sich Politiker persönlich in öffentlichen und medialen Diskussionen den AfD-Politikern stellen, so Politikwissenschaftler Patzelt. Er moniert den Umgang der Politik und der Öffentlichkeit mit der AfD in den vergangenen Jahren. Dieser würde dazu führen, dass die AfD "bloß von außen" kritisiert würde.

Nur selten begaben sich Politiker in TV-Debatten wie der Thüringer Spitzenkandidat der CDU, Mario Voigt, welcher im April gegen Björn Höcke beim TV-Sender WELT in den Ring stieg. Patzelt fordert mehr solcher direkten Aufeinandertreffen: "Der erwünschte 'Kampf gegen rechts' muss als argumentativer Nahkampf geführt werden, nicht durch symbolische Handlungen."

Über die Gesprächspartner

  • Werner Patzelt war von 1991 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden.
  • Isabelle Borucki ist Politikwissenschaftlerin und seit 2022 Professorin an der Philipps-Universität Marburg.

Verwendete Quellen

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