Egal, was die Umfragen sagen: Einige Regierungsbündnisse scheinen schon vor der Wahl vom Tisch. Denn viele Parteien schließen die Zusammenarbeit mit bestimmten Konkurrenten schon jetzt aus. Schadet das vielleicht mehr, als es bringt – und wie ernst kann man solche Ansagen nehmen?
Eigentlich klingt der Satz nicht nach etwas Besonderem. "Möglicherweise die Sozialdemokraten, möglicherweise die Grünen", sagt
Trotzdem: Am Tag nach der Diskussionsrunde lässt er sich bei ziemlich jedem Nachrichtenmedium nachlesen. Das hat einen einfachen Grund: Solche Sätze haben Seltenheitswert bekommen.
Darüber, mit wem man sich eine politische Zusammenarbeit vorstellen kann, spricht in Berlin aktuell kaum jemand. Absagen an Koalitionen sind hingegen fester Bestandteil von Wahlkämpfen geworden.
"Ausschließeritis" wird die Häufung von Koalitionsabsagen noch vor einer Wahl umgangssprachlich oft genannt. Und vor der Bundestagswahl 2025 grassiert diese wieder. Doch was versprechen sich die Parteien davon? Eine Frage für Martin Gross, der als Politikwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu Koalitionsbildungen forscht.
Herr Gross, niemand im Bundestag will mit der AfD koalieren. Die CDU schließt zusätzlich noch die Linke und das BSW als Partner aus. Gleiches gilt für die CSU, die, wie auch die FDP, zusätzlich noch den Grünen eine feste Absage erteilt hat. Nimmt die "Ausschließeritis" im Bundestag zu?
Martin Gross: Dass schon vor der Wahl konkret Koalitionen ausgeschlossen werden, kommt tatsächlich häufiger vor. Von den 60er bis in die 90er Jahre gab es zum Beispiel noch klassische Lagerwahlkämpfe mit positiven Koalitionsaussagen. Da wurde noch aktiv kommuniziert: Wir kämpfen für Schwarz-Gelb, oder Rot-Grün.
Welche Strategie steckt hinter den Koalitionsabsagen im Vorfeld der Wahl?
Da prallen zwei widersprüchliche Dinge aufeinander. Zum einen die Abgrenzung von anderen Parteien im Wahlkampf. Die zeigt sich am klarsten, indem man eine Zusammenarbeit ausschließt. Das mobilisiert die eigene Anhängerschaft sowie potenzielle Wählerinnen und Wähler.
Aber?
Diese Wahlkampflogik widerspricht der unseres politischen Systems. In dem ist man zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien gezwungen, wenn man nicht die absolute Mehrheit hat. Es ist also ein Balanceakt. Denn unter Umständen muss man später mit den Leuten zusammenarbeiten, von denen man sich vorher distanziert hat. Und dieser Balanceakt gelingt den Parteien immer weniger.
Warum ist das so?
Weil CDU/CSU und SPD nicht mehr stark genug sind. Oftmals reicht es deshalb nicht mehr für klassische Zweierkoalitionen. Außer eben untereinander – oder theoretisch mit der AfD. Aber in diesem Wahlkampf ist es nicht einmal sicher, ob es für eine Große Koalition reicht. Auch eine Alternative dazu ist derzeit nicht gesichert. Denkbar wäre aktuell nur Schwarz-Grün.

Welche Risiken bergen solche Koalitionsabsagen?
Dass am Schluss keine Option mehr übrigbleibt. In Deutschland werden Minderheitsregierungen noch immer abgelehnt. Auch institutionell sind sie nicht praktikabel. Etwa weil es eine absolute Mehrheit im Bundestag braucht, um den Kanzler zu wählen. Außerdem finden es Wählerinnen und Wähler am allerschlimmsten, wenn im Wahlkampf etwas ausgeschlossen wird – und nach der Wahl wird es dann trotzdem gemacht. Dafür werden Parteien abgestraft.
"Die FDP versucht schlicht alles, um auf fünf Prozent zu kommen."
Die AfD außen vor, bekommen vor allem die Grünen die "Ausschließeritis" zu spüren. Die CSU und die FDP haben ihnen schon eine kategorische Absage erteilt. Als Argument führen sie an, dass die Partei unbeliebt sei. Aber die Grünen stehen in den Umfragen fast bei ihrem Ergebnis von 2021. Ist die Erzählung also falsch?
Ja. Und das liegt daran, wie wir auf Umfragen schauen. Fragt man: Welche Parteien können Sie sich vorstellen zu wählen, landen die Grünen und auch die SPD häufig auf Platz zwei oder drei. Weil die Umfragen aber nur abfragen, was die Befragten am wahrscheinlichsten wählen werden, fällt dieser Aspekt hinten runter. Eine so krasse Ablehnung gegen die Grünen, wie es teils suggeriert wird, gibt es also nicht.
Warum dann die kategorischen Absagen von CSU und FDP?
Die CSU ist eine bayerische Regionalpartei, deren Wählerschaft deutlich konservativer ausgerichtet ist als die Wählerschaft der CDU in den anderen Bundesländern. Sie hat schon recht damit, dass die Grünen etwa in Teilen der eigenen Anhängerschaft und bei möglichen AfD-Wählern, die unbeliebteste Partei sind.
Und was ist mit der FDP? Ist die Absage hier nur Anbiederung an die Union?
Das ist die einzige Strategie, die ich zurzeit bei den Liberalen sehe. Die FDP versucht schlicht alles, um auf fünf Prozent zu kommen. Deshalb springt sie auf diesen Zug auf. Im Grunde ist das eine Verzweiflungstat. So wie die FDP aus der Ampel ausgestiegen ist, hätte sie schon im November eine erneute Koalition mit Grünen und SPD ausschließen müssen. Das wäre glaubwürdiger gewesen.
"Meine Prognose ist immer: Ämter überwiegen die politischen Inhalte."
Halten Sie Schwarz-Grün also doch für eine Option?
Meine Prognose ist immer: Ämter überwiegen die politischen Inhalte. Wenn es bei so einem klaren Ausschluss von Schwarz-Grün bleibt, könnte die SPD mit deutlichen höheren Forderungen in die Verhandlungen mit der Union gehen. Im Grunde könnte sie sich die Ministerämter und Inhalte aussuchen. Schließlich hätten CDU/CSU keine andere Koalitionsoption. Zumindest, wenn die Union daran festhält, nicht mit der AfD zu koalieren.
Einige sehen das nach den umstrittenen Migrationsabstimmungen der Union zusammen mit der AfD im Bundestag im Bereich des Möglichen.
Bis vor einigen Wochen hätte ich auch gesagt, eine Koalition zwischen CDU und AfD ist ausgeschlossen. Inzwischen kann ich nachvollziehen, dass es da Zweifel gibt.
Die anschließende Debatte war von gegenseitigen schweren Vorwürfen geprägt. Die Fronten zwischen den Parteien scheinen verhärtet. Sind da Bündnisse überhaupt noch möglich?
Nach der Wahl werden einige politischen Akteure nicht mehr in der führenden Rolle sein, die sie jetzt haben. Koalitionsverhandlungen werden deshalb vermutlich teils von einer anderen Personalriege geführt werden. Was wir auch nicht unterschätzen dürfen, ist das neue Wahlrecht. Wir wissen noch nicht, wie sehr die Fraktionen sich dadurch in ihrer Besetzung verändern. Und nach einem nicht zufriedenstellenden Wahlergebnis kann der Druck aus der Fraktion für Kompromissbereitschaft merklich steigen.
Die SPD hat Friedrich Merz die Vertrauenswürdigkeit abgesprochen. Bei den Grünen fordert man, dass er offen eingestehe, dass die Abstimmungen ein Fehler waren. Dann plötzlich doch zu koalieren, würde doch zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führen, oder?
Nicht, wenn es auf eine Große Koalition hinausläuft. Die ist laut den meisten Umfragen die Wunschkoalition der Bevölkerung und ließe sich auch medial gut verkaufen. Im Koalitionsvertrag würde man sich dann sicherlich auf eine Klausel einigen, die Abstimmungen mit der Opposition eine Absage erteilt. Die SPD könnte dann erklären: Wir haben Friedrich Merz festgenagelt, dass er nicht mehr mit der AfD stimmt. Derweil würde die Union das als politische Selbstverständlichkeit abtun.
Mit Blick auf die Debatten nach den Migrationsabstimmungen im Bundestag hat Angela Merkel sich besorgt um die "Kompromissfähigkeit und Gemeinsamkeit der demokratischen Parteien" gezeigt. Geht es Ihnen ähnlich?
Es gab durchaus Zeiten, in denen die Kompromissfähigkeit größer war. Der Ton ist härter geworden. Wenn man nur auf Deutschland blickt – dann teile ich diese Einschätzung. Aber schauen Sie sich an, wie kompromisslos Debatten in anderen Ländern geführt werden. In den USA, Frankreich, Ungarn oder Polen, gibt es eine krasse Ablehnung zwischen den Politikern. Das haben wir hier noch nicht. Im Vergleich dazu bewegen sich die Schlagabtausche im Bundestag im zivilisierten Rahmen.
Über den Gesprächspartner:
- Dr. Martin Gross studierte Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2017 ist er akademischer Rat auf Lebenszeit am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Forschungsschwerpunkte hat er unter anderem in den Bereichen Koalitionsbildungen, Parteienwettbewerb und politische Repräsentation.