- Leserinnen und Leser fragen Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker - unser Format bietet den Usern unserer Plattform die Möglichkeit, einen direkten Draht zum Berliner Politikbetrieb herzustellen.
- Vor der Bundestagswahl brennen den Leserinnen und Lesern offenbar sehr viele Probleme unter den Nägeln.
- Von Linke-Politiker Gregor Gysi erwarten sie unter anderem Antworten auf ihre Fragen zu Rente, Vertrauen in die Politik - und Sahra Wagenknecht.
Vor der Bundestagswahl am 26. September haben wir unseren Leserinnen und Lesern die Chance gegeben, ihre Fragen und Anliegen an sechs Spitzenkräfte der im aktuellen Bundestag vertretenen Parteien zu schicken.
Bei Linke-Politiker Gysi interessieren die Leserinnen und Leser vor allem die Themen Armut und Rente, Vertrauen in die Politik - und
"Was möchte Ihre Partei gegen den Pflegenotstand und für die pflegenden Angehörigen tun?"
Jens, Recklinghausen, 55, arbeitssuchend bzw. pflegender Angehöriger
Gregor Gysi: Das A und O ist, dass die Pflegenden endlich angemessen bezahlt werden. Das gilt auch für die pflegenden Angehörigen, für die es großzügigere Regelungen bei Arbeitsfreistellung und Entlastung in der Pflege geben muss. Lob reicht nicht, wenn man die Lücke bei den Pflegekräften schließen will. Dazu gehört für mich, dass man wie im Krankenhaus mit der Gesundheit auch mit der Pflege von Menschen keinen Profit machen darf. Wenn 43 Prozent aller Pflegeeinrichtungen in Konzernhand sind, heißt das, dass fast die Hälfte der Pflege in Deutschland auf Profitmacherei ausgerichtet ist. Schon wenn diese Unternehmensgewinne nicht an Aktionäre, sondern in Personalausstattung und Pflegematerial flössen, wendete sich vieles zum Besseren, ohne dass die Heimkosten explodierten.
"Wird aus Ihrer Sicht der Immobilienmarkt unter den weiter anhaltenden Spekulationsmechanismen zusammenbrechen und wenn ja, welche Auswirkungen sehen Sie dann auf die Menschen beziehungsweise den Finanzmarkt zukommen?"
Steffen, Leipzig, 38, Logistiker
Gysi: Das ist schwer vorherzusehen, aber Spekulation mit einem Grundrecht, das für mich das Recht auf Wohnen ist, verbietet sich von selbst. Um dem einen Riegel vorzuschieben, braucht es einen bundesweiten Mietendeckel, die Vergesellschaftung von großen Wohnungskonzernen und steuerliche Regelungen, die Spekulation mit Grund und Boden unattraktiv und das Bauen von Wohnungen zu erschwinglichen Mieten attraktiv machen.
"Unterstützen Sie den Wunsch vieler Bürger nach einem bedingungslosen Grundeinkommen? Wenn ja, wie würden Sie es umsetzen?"
Indoha, Berlin, 56, Mitarbeiterin in der Öffentlichkeitsarbeit
Gysi: Gerade vor den Herausforderungen der Digitalisierung und auch im Zusammenhang mit der Corona-Krise ist die Frage dringender denn je, wie mit solchen Situationen und der Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch weitgehende Automatisierung und Roboterisierung sowie durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz umgegangen werden soll. Das Grundeinkommen könnte eine Antwort sein. Das Finanzierungsvolumen betrüge etwa eine Billion Euro im Jahr, die zunächst eingenommen und dann verteilt werden müssten. Ein Volumen von fast drei Bundeshaushalten, ein knappes Drittel des Bruttoinlandsproduktes. Das macht die Größe der Aufgabe deutlich, die nicht wirklich kleiner wird, selbst wenn man die Höhe des Grundeinkommens reduzierte, was ohnehin nur in einem beschränkten Umfang möglich sein dürfte, wenn es wirklich als gesellschaftliche Kompensation für ersetzte menschliche Arbeit funktionieren soll. Außerdem entfielen auch die Arbeitslosen- und die gesetzliche Rentenversicherung, was zu groben Ungerechtigkeiten führte. Dafür eine gesellschaftliche Mehrheit zu gewinnen, scheint mir absehbar eher schwierig zu sein.
Ich sehe deshalb die Arbeitszeitverkürzung als eine Form der Weitergabe der Produktivitätszuwächse, also mit Lohnausgleich, und eine gesamtgesellschaftliche Offensive zur Nutzung des freigesetzten Arbeitskräftepotenzials für den umfassenden Dienst am Menschen – auch und gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung – als sinnvollere und für die Menschen Sinn stiftende Alternative zum Grundeinkommen. Egal welche Lösung man bevorzugt – sicher gibt es auch noch andere –, man wird um eine vergleichsweise radikale Umwälzung nicht herumkommen und muss dabei die soziale Frage in Deutschland, Europa und weltweit in den Mittelpunkt stellen, zumindest wenn wir die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt erhalten wollen.
"Laut der offiziellen Armutsstatistik der Bundesregierung haben wir mittlerweile circa 13 Millionen Arme in Deutschland. Würde man realistischere Lebenshaltungskosten ansetzen, wäre die Zahl sicher noch höher. Wir sind daher ein reiches Land mit vielen armen Bürgern. Daher meine Frage: Wie würden Sie dieses Problem zu lösen versuchen?"
Harald, Niedersachsen, 50, IT-Fachmann
Gysi: Bertolt Brecht dichtete schon 1934: "Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich." Ohne mehr Steuergerechtigkeit, die die Bestverdienenden und Vermögenden mehr als bisher zur Finanzierung von Bildung, Gesundheit, sozialen Leistungen, öffentlicher Daseinsvorsorge und Infrastruktur heranzieht, wird dies so bleiben. Zudem muss der Mindestlohn endlich auf ein Niveau angehoben werden, dass die Menschen im Alter nicht von Armut bedroht sind. Das wären heute 13 Euro pro Stunde. Und natürlich müssen Frauen für die gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit genauso viel verdienen wie Männer. Das Gleiche gilt für die Arbeit in Ost und West.
"Die Deutsche Rentenversicherung ist aufgrund der demografischen Entwicklung bald zahlungsunfähig. Haben Sie ein Konzept, um unser Rentensystem zu retten - ohne Steuererhöhung, ohne 'Erschießung von Reichen' und ohne Enteignung?"
Ulrich, Mannheim, 72, Rentner
Gysi: Die Rentenversicherung muss und kann reformiert werden. Alle mit Erwerbseinkommen müssten in die Rentenversicherung einzahlen, also auch Politiker, Manager, Rechtsanwälte, Selbständige und auch die Beamten. Die Beitragsbemessungsgrenzen müssten aufgegeben werden. Der Rentenanstieg Bestverdienender wäre abzuflachen.
"Viele ehemalige Linken-WählerInnen sind wegen spaltender Aussagen von Sahra Wagenknecht zu den Grünen gewechselt. Wie möchten Sie diese zurückgewinnen?"
Steve, Mülheim an der Ruhr, 32, Staatlich examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger
Gysi: Man ist immer gut beraten, wenn man in Parteien auf das schaut, was dort die Mehrheiten beschlossen haben, und weniger auf das, was Einzelne sagen. Danach hat Die Linke das sozial gerechteste, klimapolitisch konsequenteste und friedliebendste Wahlprogramm. Viele Grün-affine Wählerinnen und Wähler bemerken das gerade, wenn sie sich im Wahl-O-Mat und vergleichbaren Programmen testen. Ich hoffe, dass es zu einem Umdenken führt.
"Inwieweit können Sie sich eine Koalition mit der SPD und den Grünen unter Führung einer Kanzlerin Baerbock vorstellen?"
Gysi: Ich kann mir vieles vorstellen. Entscheidend ist, dass es zunächst einmal arithmetisch für eine Mitte-Links-Mehrheit reichen muss. Dafür müssen wir noch einiges tun. Und dann wird man sehen, ob die drei Parteien anders als 2005 und 2013 die Chance auch ergreifen und dem Land einen neuen sozial gerechten, ökologisch nachhaltigen und im Äußeren und Inneren friedlicheren und Polarisierungen abbauenden Schwung geben wollen und können. Voraussetzung dafür ist eine gesellschaftliche Stimmung, die auf eine solche Änderung drängt.
"Inwieweit glauben Sie, haben Politiker den letzten Rest an Vertrauen eingebüßt? Damit sind nicht nur die Skandale der letzten Wochen bezüglich Schutzmasken, Wirecard und vieles mehr gemeint. Es ist eher der Eindruck, dass sich auch innerparteilich trotz gröbster Verfehlungen niemand mehr etwas von seinen Parteigenossen sagen lassen muss. Es ist wohl keine Strafe zu befürchten, die eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus."
Michael, Dortmund, 59, Fachwirt für Versicherungen
Gysi: Ich finde, man muss da schon differenzieren. Was Sie beschreiben, erlebt man vor allem bei CDU und CSU und auf die Parteispenden bezogen bei der AfD. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die CDU einen korruptionsbelasteten Politiker wie Philipp Amthor als Spitzenkandidat in Mecklenburg-Vorpommern aufstellt oder Andreas Scheuer als vollkommen untauglicher Verkehrs- und Digitalminister die gesamte Legislaturperiode im Amt bleibt. Angela Merkel kann man dergleichen nicht nachsagen, aber sie hat es als Kanzlerin und CDU-Vorsitzende zugelassen. Das hat zweifellos den Ruf der Politik weiter beschädigt und Glaubwürdigkeit gekostet. Vertrauen kann nur durch ehrliche und harte Arbeit zurückgewonnen werden.
"Ich bin 54 Jahre alt und seit Jahren arbeitssuchend (gut ausgebildeter Maschinenbautechniker). Nach einem Jahr Weiterbildung als Projekt- und Qualitätsmanager und in Businessenglisch (alles vom Steuerzahler bezahlt) hatte ich nur zwei Telefongespräche. Viele Stellenbewerbungen werden gar nicht beantwortet. Liegt es an Corona? Vermutlich mehr am Alter. Ab 50 ist man auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen. Und jetzt meine konstruktive Frage: Warum ist der Staat nicht in der Lage, seinen Bürgern, welche 30 Jahre Steuern gezahlt haben, einen Job (beispielsweise bei der Stadt) anzubieten. Nach zwei Jahren erfolglosem Bewerbungsschreiben fühlt man sich gedemütigt, ausgeschlossen und nicht mehr der Gesellschaft zugehörig. Ich lebe übrigens vom Verdienst meiner Frau und bekomme vom Staat keinen einzigen Cent. Ist das gerecht?"
Marco, Schorndorf, 54, arbeitssuchend
Gysi: Es gibt ohne Zweifel auf dem Arbeitsmarkt eine Art Altersrassismus. Auf der einen Seite fordern die Arbeitgeber, man solle am besten bis 70 arbeiten, andererseits stellen sie Menschen jenseits der 50 kaum noch und jenseits der 60 gar nicht mehr ein. Wir schlagen schon seit Langem vor, dass der Staat einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor einrichtet, in dem Menschen nach Tariflohn gesellschaftlich wichtige Arbeit verrichten, für die sich das Kapital nicht interessiert, weil die Rendite nicht hoch genug ist. Und vielleicht muss man gerade vor dem Hintergrund, dass die Wirtschaft immer wieder über fehlende Fachkräfte klagt, neben der Beschäftigungsquote für Menschen mit Handicap auch über eine Quote für Ältere nachdenken.
"Wie können Sie, nachdem die SED mit sozialistischer Politik in der DDR nichts als Armut und Unfreiheit erreicht hat, immer noch an die sozialistische Irrlehre glauben?"
Gerald, Düsseldorf, 54, IT-Berater
Gysi: Sie haben offenbar nicht in der DDR gelebt. Armut gab es dort kaum, Unfreiheit allerdings sehr wohl. Dies hatte seine Ursache darin, dass die DDR wie die anderen staatssozialistischen Länder eben keinen demokratischen Sozialismus gestaltete, wie ihn Die Linke will, sondern die gesellschaftliche Entwicklung dem Diktat der Partei unterwarf. Die Idee des Sozialismus findet ihren Ursprung zum Beispiel in der Bergpredigt. Und Marx und Engels formulierten: "Die Freiheit des Einzelnen ist die Bedingung der Freiheit aller." Es geht also nicht um eine Irrlehre, sondern darum, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit auf demokratische Weise, also mit demokratischen Mehrheiten zu lösen. Leider gibt es kein Beispiel in der Geschichte, wo dies dauerhaft gelungen ist. Erfolgreiche Anfänge wie im Chile Allendes oder im Prager Frühling wurden sehr schnell durch militärische Gewalt gestoppt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
In der zweiten Folge unserer Reihe stellt sich Unionsfraktionschef
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