Stefanie Babst hat 22 Jahre für die Nato gearbeitet. Zum 75-jährigen Bestehen des Verteidigungsbündnisses spricht sie über einen löchrigen Zaun zu Russland, amerikanische Zweifel und deutsche Angst.

Ein Interview

Bei der Nato in Brüssel geben immer noch viele Männer den Ton an. Stefanie Babst war eine Ausnahme: Die deutsche Politikwissenschaftlerin war unter anderem stellvertretende beigeordnete Generalsekretärin des Militärbündnisses, von 2012 bis 2020 leitete sie im Brüsseler Hauptquartier den strategischen Planungsstab.

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Inzwischen geht Babst hart mit der Nato ins Gericht. In Ihrem Buch "Sehenden Auges – Mut zum strategischen Kurswechsel" (dtv) deutet sie auf Schwächen des Bündnisses in der Auseinandersetzung mit Russland hin. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt sie, was sie damit meint.

Frau Babst, die Nato wird am 4. April 75 Jahre alt. Wird es Ihren früheren Arbeitgeber auch in den nächsten 75 Jahren noch geben?

Stefanie Babst: Ich kann nicht voraussagen, wie die Welt in 75 Jahren aussieht, aber ich hoffe, dass der Kerngedanke der Nato relevant bleiben wird: Länder verabreden sich dazu, ihre Sicherheit miteinander zu koordinieren und sich bei einem Angriff gegenseitig zu verteidigen.

In Ihrem Buch fordern Sie mehr Entschlossenheit der Nato gegenüber Russland. Hat das Bündnis davon zu wenig?

Die Nato hat nach der russischen Annexion der Krim 2014 erst zögerlich begonnen, ihre Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten zu erhöhen. Grundsätzlich war das richtig, aber das Problem eines expansionistischen Russlands in der Mitte Europas ist dadurch nicht gelöst. Ich würde sagen: Die Nato hat ihren Zaun zwar höher gezogen, aber jenseits dieses Zaunes hat sie keine abschreckende Wirkung. Außerdem hat der Zaun Löcher.

Wieso?

Lassen Sie mich das mit einer Unternehmensaktie vergleichen: Die Anleger, also die Mitgliedsstaaten, sind bereit, Geld, Personal und militärische Fähigkeiten in das Unternehmen zu investieren, weil sie erwarten, dass es die wesentliche Aufgabe erfolgreich erfüllt: die Sicherheit aller Mitglieder zu gewährleisten. Vertrauen ist also eine äußerst wichtige Währung. Doch dieses Vertrauen ist erschüttert: Der Hauptaktionär, die USA, macht Anstalten, sich zurückzuziehen. Wenn vom US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump Zweifel an der Nato geschürt werden, erschüttert das das Vertrauen aller anderer Anleger. Zudem haben drei weitere Verbündete klar gemacht, dass sie an der Kooperation mit Moskau festhalten und damit Löcher im Zaun geschaffen: Ungarn, die Slowakei und die Türkei.

Das Herzstück der Nato ist Artikel 5, also die Beistandspflicht nach dem Motto "Einer für alle, alle für einen": Wenn ein Staat angegriffen wird, kommen ihm die anderen zur Hilfe. Wie glaubwürdig ist das Versprechen noch?

Die Bündnispartner haben den Artikel 5 ja erst ein einziges Mal aktiviert, und das zugunsten der USA. Nach den Terroranschlägen am 9. September 2001 haben sie nicht lange überlegt. Aber ob und unter welchen Bedingungen sie das beispielsweise bei einem Angriff Russlands machen würden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nicht alle Nato-Mitglieder sehen in Putins Regime eine fundamentale Gefahr für ihre eigene Sicherheit. Dabei ist der Kreml ein Aggressor, der sich an keine Regeln hält. Die Nato müsste Putin deutlich Grenzen aufzeigen und dafür sorgen, dass er in der Ukraine eine militärische Niederlage erleidet. Aber sie hat immer noch keine langfristige Strategie gegenüber Russland. Das macht mir ernsthaft Sorgen.

Wessen Versäumnis ist das?

Es liegt an unterschiedlichen Beurteilungen in den 32 Hauptstädten über die strategische Bedeutung des russischen Vernichtungskrieges. Eine Gruppe von Anrainerstaaten wie Polen, Rumänien und die baltischen Staaten sieht durch Russlands militärische Aggression die eigene Sicherheit unmittelbar bedroht. Andere Staaten finden den Krieg zwar empörend, stellen der Ukraine aber nur halbherzig und zögerlich Hilfe zur Verfügung.

Zu dieser Kategorie zählen Sie wahrscheinlich Deutschland.

Ich glaube, in Deutschland würde man den Krieg am liebsten komplett ausblenden. Jedenfalls ist die Politik nur sehr zögerlich bereit, eine robuste und strategische Antwort auf den russischen Expansionskrieg zu geben. Die SPD setzt vor allem auf Eskalationsvermeidung. Damit macht sie sich für Putin nicht nur sehr berechenbar, sondern gibt ihm immer wieder Zeit, sein militärisches Vorgehen in der Ukraine anzupassen. Und fatal ist es natürlich, dass die Unterstützung aus den USA seit Monaten auf Eis liegt.

"Angst hat nicht nur die deutsche Bevölkerung."

Stefanie Babst

Auch in der deutschen Bevölkerung sind die Vorbehalte groß. Viele Menschen haben Angst, dass der Krieg noch weiter eskaliert. Darauf muss die Politik doch Rücksicht nehmen.

Was Sie beschreiben, gilt genauso für die Menschen in Polen und Estland, in Großbritannien und Dänemark. Angst hat nicht nur die deutsche Bevölkerung. Jede Regierung muss ihrer Bevölkerung die aktuelle Herausforderung erklären und eine überzeugende Strategie dafür anbieten. Viele andere Regierungen machen das unaufgeregt und nüchtern.

Aber die deutsche nicht?

Wir verheddern uns in Debatten über einzelne Waffensysteme, führen sich ewig wiederholende Diskussionen über unsere Ängste und militärischen Defizite und brauchen für meinen Geschmack viel zu lange, um unsere Verteidigung und Resilienz auf breiter Front zu stärken. Die Regierung erklärt bis heute nicht, was eigentlich ihr Plan ist: Wie wollen wir in Zukunft mit diesem gewaltbereiten, nuklear-erpresserischen Russland umgehen? Was heißt es, wenn der Bundeskanzler sagt: Wir werden die Ukraine so lange unterstützen wie nötig? Wären wir beispielsweise auch bereit, irgendwann eine Demarkationslinie mitzusichern, die sich auf mehr als 1000 Kilometer durch die Ukraine erstreckt? Und das ist nur eine von vielen offenen Fragen.

Deutsche Politiker reden inzwischen darüber, als Führungsmacht bereitzustehen. Hat Deutschland das Zeug dazu?

In meinen Augen sollte eine Führungsmacht mindestens drei Dinge mitbringen: Erstens, benötigt sie die Akzeptanz der Staaten, die sie führen will. Zweitens braucht sie ein Mindestmaß an Strategiefähigkeit und drittens die nötigen Fähigkeiten, um ihre Ziele umzusetzen; nicht nur wirtschaftliche und finanzielle, sondern auch militärische. Wenn Bundeskanzler Scholz sagt, er mache alles richtig und sei der Einzige, der besonnen und abwägend agiere, hat das wenig mit überzeugenden Führungsqualitäten zu tun.

"Frankreichs Präsident hat offensichtlich den Ernst der Lage begriffen, während Deutschland sich durchzuwursteln versucht."

Stefanie Babst

Noch nicht einmal die erste? Von anderen Regierungen ist bisweilen die Bitte zu hören, Deutschland möge stärker vorangehen.

In vielen Hauptstädten gibt es in der Tat die Erwartung, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam eine Führungsrolle übernehmen. Schließlich handelt es sich um zwei große Volkswirtschaften mit gewichtigen Stimmen in der Europäischen Union. In der zentralen Frage, wie wir auf diesen epochalen geopolitischen Umbruch in Europa reagieren, sehe ich allerdings nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen Scholz und Macron. Frankreichs Präsident hat offensichtlich den Ernst der Lage begriffen, während Deutschland sich durchzuwursteln versucht. Daran ändern auch nette Bilder von angeblicher Gemeinsamkeit zwischen Paris und Berlin nichts.

Es gab aber weitreichende Entscheidungen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Deutschland hat ein Sondervermögen für die Bundeswehr geschaffen, gibt erstmals seit Langem wieder zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aus, liefert mehr Waffen an die Ukraine als die anderen europäischen Staaten.

Am Anfang hat Deutschland mit seiner Zeitenwende durchaus positive Erwartungen bei den Verbündeten hervorgerufen. Schließlich war das eine Abkehr von der alten, fatalen Russland-Politik. Aber zwischen Rhetorik und Umsetzung klafft eine Lücke.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wenn sich Wirtschaftsminister Habeck jetzt mit den großen Rüstungsunternehmen zusammensetzt, um die Produktion wirksam anzukurbeln, ist das gut. Aber warum hat er das nicht schon vor einem Jahr gemacht? Oder warum gab es nicht bereits vor zwei Jahren eine gemeinsame Initiative unseres Wirtschafts- und Verteidigungsministers? Mein Punkt ist: Wir sind sehr langsam. Zu langsam. Polen, Schweden und Finnland zum Beispiel haben in den vergangenen Jahren nicht ständig über ihre Verteidigungsanstrengungen gesprochen. Sie haben systematisch ihre Verteidigungsbudgets erhöht und ihre Streitkräfte zielgerichtet modernisiert.

"Neulich hat mir ein Nato-Botschafter gesagt, man müsse Trump nur coachen. Da kann ich nur sagen: Good luck!"

Stefanie Babst

In den USA könnte im Herbst Donald Trump wieder Präsident werden, der die Nato inzwischen offen infrage stellt. Was würde das für die Allianz bedeuten?

Wenn mit Donald Trump erneut ein narzisstischer Populist an die Macht kommt, ist das in erster Linie für die amerikanische Demokratie und ihre globale Glaubwürdigkeit sehr schlecht. Aber auch die Nato bekäme ein echtes Problem. Wollen wir uns vier Jahre hier in Europa dauernd fragen, ob unsere amerikanischen Verbündeten weiter verlässlich sind? Vor allem gäbe noch weniger eine gemeinsame Strategie, wenn die europäischen Staaten die Ukraine weiter unterstützen, der US-Präsidenten aber keinen Penny für sie ausgeben will.

Ist die Nato auf diesen Fall der Fälle vorbereitet?

Nein. Im Brüsseler Hauptquartier gilt immer noch die Regel, dass man über innenpolitische Entwicklungen eines Mitgliedsstaates nicht öffentlich redet oder sie kommentiert. Außerdem glauben manche offenbar, sie könnten Donald Trump einhegen. Andere wiederum wie Erdogan, Orban und Fico wären über eine zweite Amtszeit Trumps sicherlich nicht unglücklich. Neulich hat mir ein Nato-Botschafter gesagt, man müsse ihn nur coachen. Da kann ich nur sagen: Good luck! Ich glaube keine Sekunde, dass sich ein Donald Trump coachen lässt.

Über die Gesprächspartnerin

  • Dr. Stefanie Babst studierte Politische Wissenschaft, Slawistik und Internationales Recht an der Universität Kiel und an der Pennsylvania State University in den USA. Sie war unter anderem Dozentin für Osteuropawissenschaft an der Führungsakademie der Bundeswehr, bevor sie 1998 ins Nato-Hauptquartier in Brüssel wechselte. Seit 2020 ist sie strategische Beraterin und Publizistin. Im dtv-Verlag ist im vergangenen Jahr ihr Buch "Sehenden Auges - Mut zum strategischen Kurswechsel" erschienen.
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