Wie stark hat der Antisemismus in Deutschland seit dem Beginn des Nahost-Kriegs zugenommen? So stark, dass sich eine SPD-Politikern bei Maybrit Illner "total beschämt" zeigte. Was der Thüringer Verfassungsschutzchef über den jüdischen Alltag berichtete, war ebenfalls beschämend. Eine Forscherin klärte derweil über linken Antisemitismus auf – und nahm eine berühmte Klimaschützerin in Schutz.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Thomas Fritz dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Das war das Thema bei "Maybrit Illner"

Der Krieg Israels gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas nach den Anschlägen am 7. Oktober hat auch auf die in Deutschland lebenden Juden massive Auswirkungen. Antisemismus wird offen ausgelebt, die Zahl der Straftaten explodierte seitdem.

Doch es ist nicht nur der Judenhass durch Muslime, auch Rechts- und Linksextreme schüren Ressentiments gegen Juden und den Staat Israel. Währenddessen verbreiten deutsche Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Parole, dass Antisemitismus auf deutschen Straßen nichts zu suchen habe - obwohl die Straßen derzeit voll davon sind. Das Thema bei Maybrit Illner am Donnerstagabend: "Krieg in Nahost – Immer mehr Judenhass in Deutschland?"

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Das waren die Gäste

  • Ricarda Lang: Die Parteivorsitzende von B'90/Die Grünen stellte fest, dass der Satz, den Olaf Scholz und andere Politiker zuletzt oft wiederholt haben, derzeit keine Zustandsbeschreibung ist. Sondern nur ein Wunsch. Sie appellierte an Palästinenser, die sich Sorgen um Angehörige in Gaza machen, sich bei Demos nicht von der Hamas und ihren radikalen Losungen instrumentalisieren zu lassen. Und sie forderte ein Ende der Bezahlung von Imamen aus der Türkei. Gleichzeitig räumte Lang ein, dass man nicht selektiv auf Antisemitismus schauen dürfe. Auch Linke würden bei antikolonialen Thesen – was eine antisemitische Umschreibung für Israelkritik sein kann – im eigenen Freundeskreis oft nicht so genau hinhören.
  • Malu Dreyer: Die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz zeigte sich "total beschämt" darüber, "was wir erleben in Deutschland 85 Jahre nach der Reichspogromnacht". Außerdem bedrückt sie, dass es in Deutschland keinen großen Aufschrei für Israel gab. Das Eintreten der AfD für den jüdischen Staat nannte Dreyer "mehr als erschreckend und sehr durchsichtig". Die Partei wolle dadurch nur ihren antimuslimischen Rassismus ausleben. Dreyer warnte: Wer eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ausgrenze, der mache niemals Halt vor nur einer Bevölkerungsgruppe, sondern grenze auch andere Gruppen aus.
  • Jens Spahn: Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU forderte endlich Taten von der Regierung, wie die Verschärfung von Gesetzen bei antisemitischen Straftaten, und nicht nur gut gemeinte Reden. Man müsse dem türkischen Staatschef Erdogan, der zum Staatsbesuch nach Deutschland kommt, sagen, dass sich antisemitisch äußernde Imame zurück in die Türkei geschickt werden. Die Finanzierung der Moscheegemeinden dürfe nicht mehr über die türkische Religionsbehörde Diyanet erfolgen, so Spahn. Zudem warnte er davor, dass Gruppen, die sich antisemitisch äußern, auch vor Hass gegen andere Minderheiten wie Homosexuelle nicht Halt machen. Solche Einstellungen würden durch den stark gestiegenen Zuzug von Menschen aus dem arabischen Raum zunehmen. "Was passiert hier eigentlich gerade insgesamt in unserer Gesellschaft?", fragte Spahn. Das Problem werde jeden Tag größer, weil 1.000 Menschen jeden Tag illegal nach Deutschland einreisen, behauptete er.
  • Stephan Kramer: Der Thüringer Verfassungsschutzchef wies darauf hin, dass es in den vergangenen 20 Jahren bei Konflikten in Nahost immer wieder antisemitische Ausbrüche gegeben hatte. Jetzt haben sie in seinen Augen aber "eine neue Qualität". Deshalb findet er das Verbot der Hamas und des Netzwerks Samidoun in Deutschland richtig. Wichtig sei außerdem, dass man mit den 80 Prozent Muslimen ins Gespräch komme, die nicht von den offiziellen Verbänden vertreten werden. Auch daran erinnerte Kramer: 84 Prozent der Muslime haben kein Problem mit dem Existenzrecht Israels, laut einer Umfrage. Der AfD warf Kramer Holocaustrelativierung vor.
  • Deniz Yücel: Der Journalist und Schriftsteller machte sich dafür stark, beim Streit um den Nahost-Konflikt allen Stimmen einen Raum zu geben und den Meinungskorridor nicht einzuengen. Er beschwerte sich beispielweise darüber, dass die ARD einen harmlosen Film über Palästina aus der Mediathek gelöscht habe. "Es gibt Meinungen, die man aushalten muss", sagte Yücel, solange sie keinen Straftatbestand wie Volksverhetzung erfüllten. So wie nicht alle Muslime oder Palästinenser Antisemiten sind, so wenig sind in seinen Augen alle AfD-Wähler Nazis. "So furchtbar ich diese Partei finde".
  • Sina Arnold: Die Antisemitismusforscherin beschäftigt sich mit linken Antisemitismus. Der sei in der linken Szene nicht für die Ideologie konstituierend, wie es beim Rechtsradikalismus der Fall ist, aber dennoch der "kleinste gemeinsame Nenner der globalen Linken". Dort sei man eben pro-palästinensisch und gegen Israel. Außerdem nahm Arnold die berühmteste Klimaschützerin des Planeten in Schutz. "Ich glaube nicht, dass Greta Thunberg Antisemitin ist." Dennoch brauche es eine "innerlinke Selbstkritik". Auch weil die Idee, dass Israel als vermeintlich rein "weißer Unterdrückungsstaat People of Color unterdrücke", also die Palästinenser, in ihren Augen imaginiert sei. Das Argument blende aus, dass gar nicht alle jüdischen Israelis weiß sind und dass Juden selbst massiv diskriminiert werden.

Das war der Moment des Abends

Es war ein nachdenklich machender Moment des Abends. Ob Verfassungsschutzchef Kramer, der selbst Jude ist, anderen Juden derzeit empfehlen würde, öffentlich mit der Kippa herumzulaufen? "Auf keinen Fall", sagte Kramer, ohne zu zögern. "Sie können inzwischen, und das ist auch gut so, ohne Probleme als Muslima mit einem Kopftuch über die Straße gehen. Zumindest in der Regel. Bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber wenn ich versuche, zehn Meter mit meiner Kippa auf dem Ku'damm zu laufen, oder in Thüringen auf dem Anger, ein großer Platz in Erfurt, dann komme ich nicht sehr weit." Das bekomme er von vielen Menschen aus der jüdischen Gemeinde zu hören.

Das war das Rededuell des Abends

Grünen-Chefin Ricarda Lang lobte das viral gegangene Video ihres Parteikollegen Robert Habeck, in dem der Vizekanzler unter anderem ein härteres Vorgehen gegen Asylbewerber bei antisemitischen Straftaten forderte. Lang sagte, Habeck habe ja nur auf die gültige Rechtslage verwiesen. Und überhaupt, der Rechtsstaat sei doch wehrhaft. Da ging Jens Spahn dazwischen. "Die Rechtslage ist ja nicht so eindeutig", stellte er irritiert fest. "Es gibt Spielräume. Und diese Spielräume werden in aller Regel nicht zugunsten der Ausweisung oder des Aufenthaltstitelverlustes gedeutet." Spahn warf Lang und der Regierung vor, nur schöne Reden zu halten, aber zu wenig zu tun.

So hat sich Maybrit Illner geschlagen

In einer Runde mit viel schwerer Kost zu einem polarisierenden Thema behielt die Gastgeberin stets einen kühlen Kopf. Sie ließ sich auch nicht von Wissenschaftlerin Sina Arnold kirre machen, die mit vielen wissenschaftlichen Fachbegriffen um sich warf, wodurch kurzzeitig Glatteisgefahr auf kam. Auch mit der Frage nach skurrilen Auswüchsen linker, pro-palästinensischer Unterstützung wie durch die anti-rassistische und anti-koloniale Gruppierung "Queers for Palestine" bewies Illner, dass sie voll auf der Höhe war.

Punkten konnte die Gastgeberin auch durch ihre kluge Frage an Stephan Kramer, wie man es denn verhindern könne, dass Antisemitismus gegen Islamfeindlichkeit ausgespielt werde. "Wir müssen zusammenstehen", erwiderte der Verfassungsschützer.

Das ist das Fazit

"Wir müssen zusammenstehen" - das war ein Appell, den jeder der Gäste bei Maybrit Illner wohl so unterschrieben hätte - gegen die radikalen Kräfte, gegen die Auseinander-Dividierer auf allen Seiten. Um konkret den Antisemitismus zu bekämpfen, forderte Ricarda Lang eine Integrationsinitiative: mehr Bildungsangebote, bessere Prävention, bessere Finanzierung für dementsprechende Maßnahmen. Werden diese Forderungen dieses Mal tatsächlich konkrete Maßnahmen nach sich ziehen? Stephan Kramer kritisierte, dass seit 20 Jahren nach vergleichbaren Taten solche Debatten wie bei Maybrit Illner stattgefunden hätten - ohne dass sich etwas getan hätte.

Aber selbst wenn der Staat nun tatsächlich mehr Geld für Prävention in die Hand nimmt oder Einwanderer verstärkt auf die besondere Verantwortung Deutschlands für das jüdische Leben und den Staat Israel einschwören würde, bleibt zu befürchten, dass der Judenhass trotzdem nicht verschwindet. In allen Milieus der Gesellschaft gebe es Zustimmungswerte von 30 Prozent zu antisemitischen Einstellungen, erläuterte die Forscherin Arnold. Antisemismus ist keine muslimische oder palästinensische Erfindung, er war schon vorher in Deutschland. Ein Blick in die Geschichte genügt.

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