Heute vor 85 Jahren fand im NS-Reich die Reichspogromnacht statt. Zahlreiche Politiker erinnerten deshalb – auch vor dem Hintergrund der antisemitischen Demonstrationen – an die historische Verantwortung Deutschlands.

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Zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) jede Form von Antisemitismus in Deutschland verurteilt. Es sei eine "Schande", wenn "2023 wieder Türen und Wände mit Davidsternen beschmiert werden" und die radikalislamische Hamas für die Ermordung von Juden "auf unseren Straßen und Plätzen gefeiert" werde, sagte Scholz am Donnerstag bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Berlin.

Scholz erinnert an Gedenktag zur Reichspogromnacht an die deutsche Verantwortung

Deutschland müsse sein Versprechen des "Nie wieder" nach dem Holocaust im Nationalsozialismus "gerade jetzt einlösen", betonte der Kanzler in der Synagoge Beth Zion. "Nichts, rein gar nichts – keine Herkunft, keine politische Überzeugung, kein kultureller Hintergrund, kein angeblich postkolonialer Blick auf die Geschichte" könne "als Begründung herhalten, die Ermordung, das grausame Abschlachten Unschuldiger zu feiern".

Deshalb regele die Bundesregierung mit dem im August vom Kabinett beschlossenen neuen Staatsangehörigkeitsrecht "ganz klar, dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht", sagte Scholz. Die Verantwortung, "die sich aus unserer Geschichte ergibt, müssen alle, die hier in unserem Land leben, und alle, die in diesem Land leben wollen, annehmen und als ihre eigene begreifen".

Die Einsicht in Deutschlands geschichtliche Verantwortung müsse weitergegeben werden, "in Schulen, Universitäten, in der Ausbildung, in Integrationskursen, im tagtäglichen Leben" – damit im Einwanderungsland Deutschland auch jene erreicht würden, "in deren Herkunftsländern über die Shoah nicht oder vollkommen anders gesprochen wird".

"Und zugleich dürfen wir denen nicht auf den Leim gehen, die jetzt ihre Chance wittern, über fünf Millionen muslimische Bürgerinnen und Bürgern pauschal den Platz in unserer Gesellschaft abzusprechen", warnte Scholz. "Alle, die hier leben, müssen sich an demselben Maßstab messen lassen: Und das ist unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Vielfalt und Respekt gegenüber anderen einfordert und garantiert."

Der Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober sei eine "schreckliche Zäsur", sagte Scholz. Für Deutschland lasse er nur einen Schluss zu: "Deutschlands Platz ist an der Seite Israels." Das Land habe "das Recht, sich gegen den barbarischen Terror der Hamas zur Wehr zu setzen." Deutschland werde sich weiter für einen stabilen und dauerhaften Frieden im Nahen Osten einsetzen.

Zentralratspräsident Schuster ist über den offen zur Schau gestellten Antisemitismus entsetzt

Auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hielt in der Synagoge eine Rede. Er warnte vor einem "in Deutschland bis in die Mitte der Gesellschaft" reichenden Antisemitismus. "Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land." Es sei noch die Gelegenheit, dies zu reparieren, sagte Schuster. Doch dafür müsse auch eingestanden werden, was in den letzten Jahren schiefgelaufen sei.

"Ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder", sagte Schuster. Es sei zugelassen worden, dass sagbar erscheine, öffentlich die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden zu propagieren. Weiter sei zugelassen worden, dass tausende Menschen mit arabischem Migrationshintergrund dies auf den Straßen fordern.

Bezogen auf die Reichspogromnacht vor 85 Jahren, welche heute als Beginn der systematischen Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums angesehen wird, sagte Schuster: "Wer verstehen will, was Jüdinnen und Juden in diesen Tagen fühlen, der muss sich der historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken bewusst sein." Die Jagd auf Juden habe sich tief in das kollektive Bewusstsein eingebrannt.

Gedenken an Opfer der Reichspogromnacht auch im Bundestag

Auch im Bundestag war die Reichspogromnacht heute Thema. Dass Jüdinnen und Juden heute auch in Deutschland offenen Antisemitismus und Hass erlebten, sei unerträglich, sagte die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). "Die historische Verantwortung Deutschlands für den Holocaust muss sich jetzt in konkretem Handeln zeigen." Bas wies auf die Lehre aus dem Holocaust hin, dass sich solche Mordtaten nie wiederholen dürften. "Nie wieder ist jetzt."

Nancy Faeser
Nancy Faeser (SPD) spricht im Bundestag über den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Bundesinnenministerin Nancy Faeser verwies auf die erlassenen Betätigungsverbote für die islamistische Hamas-Bewegung und das Netzwerk Samidoun. Den deutschen Ableger von Samidoun habe sie aufgelöst. "Wir arbeiten schon an weiteren Verboten." Aus der Erinnerung an den Zivilisationsbruch des Holocaust heraus sei es wichtig, heute nicht zu schweigen, wenn Jüdinnen und Juden zur Zielscheibe von Hass und Hetze würden.

Weitere Ampelvertreter, wie Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, riefen zum gemeinsamen Schutz jüdischen Lebens auf. "Es ist vornehmste republikanische Pflicht eines jeden Bürgers dieses Landes, von uns allen, sich dem antisemitischen Hass entgegenzustellen." FDP-Fraktionschef Christian Dürr betonte, er erwarte von jedem, unabhängig von der Herkunft, dass er sich dem Schutz jüdischen Lebens in Deutschland verpflichtet fühle. Zuwanderer, die diese Werte nicht teilten, seien nicht willkommen.

CSU-Landesgruppenvorsitzender Alexander Dobrindt warf der Regierung vor, zu wenig gegen Antisemitismus zu unternehmen. "Der Kampf gegen Judenhass auf unseren Straßen gehört nicht nur ins Plenarprotokoll, sondern mit konkreten Maßnahmen ins Bundesgesetzblatt." Antisemitismus müsse als besonders schwerer Fall der Volksverhetzung eingestuft und Hetze gegen Israel mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten belegt werden, forderte er. (afp/dpa/the)

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