Der Antisemitismus-Experte Samuel Salzborn über die Gefahren für jüdisches Leben in Deutschland, migrantischen Antisemitismus und die Frage, warum sich gerade die politische Linke so schwer mit Israel tut.

Ein Interview

Am 7. Oktober richtete die radikal-islamische Hamas ein Massaker in Israel an. Rund 1.400 Menschen wurden beim Überfall der Terroristen ermordet. Vor allem im Westen solidarisierten sich Regierungen mit dem jüdischen Staat. Gleichzeitig gibt es zunehmend israelfeindliche Proteste – auch auf deutschen Straßen. Das Bundeskriminalamt (BKA) warnt bereits vor einer antisemitischen Protestwelle.

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Samuel Salzborn wundert das nicht. Er ist Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin und sagt: Es bricht sich etwas Bahn, was schon immer da war. Den Demonstrierenden gehe es nicht um Solidarität mit den Palästinensern. Ihr Motiv sei ein anderes, tiefergehendes: der Hass auf Juden und Israel. Ein Gespräch.

Herr Salzborn, wie gefährdet ist jüdisches Leben in Deutschland?

Samuel Salzborn: Wir haben eine extreme Bedrohungssituation. Wir müssen uns vor Augen halten: Der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober in Israel hatte nur ein Ziel. Nämlich möglichst viele Jüdinnen und Juden zu töten. Und darauf nimmt die gegenwärtige antisemitische Eskalation in Deutschland Bezug. Wir sehen antisemitische Demonstrationen, von denen Gewalt und Gewaltverherrlichung ausgeht – inklusive Angriffe auf Polizisten und die Presse. Dazu kommen radikalisierte Einzeltäter: In Berlin gab es einen versuchten Anschlag auf eine Synagoge. In Nordrhein-Westfalen wurde ein mutmaßlicher Attentäter festgenommen, der einen Anschlag auf eine pro-israelische Kundgebung geplant hatte. Aber auch unabhängig vom Kriegsgeschehen in Gaza gibt es ein permanentes Risiko für Jüdinnen und Juden, für jüdische und israelische Institutionen in Deutschland.

Im Gaza-Streifen droht ein wochen-, vielleicht sogar monatelanger Krieg. Was bedeutet das für die Stimmung in Deutschland?

Wir erleben immer wieder, dass Antisemiten die Entwicklung im Nahen Osten als Vorwand für ihren Hass auf Juden nehmen – egal, was Israel macht oder vorhat. Diese antisemitischen Einstellungen sind da. Und dementsprechend tun Antisemiten alles, um die Stimmung anzuheizen, die Situation weiter eskalieren zu lassen – auch in Deutschland. Verstärkt wird all das durch die Propaganda der Hamas, die auf Lügen aufbaut und die in den sozialen Medien verbreitet wird. Dabei wird übersehen: Die Hamas ist eine antisemitische Terrororganisation, der die eigene Bevölkerung völlig egal ist, die Stützpunkte unter Schulen und Krankenhäusern anlegt, die die Menschen in Gaza an der Flucht hindert.

Samuel Salzborn
Samuel Salzborn ist Politikwissenschaftler und Ansprechpartner des Landes Berlin zum Thema Antisemitismus. © picture alliance/dpa/Britta Pedersen

Muss der deutsche Staat mehr tun, um Jüdinnen und Juden zu schützen?

Solange es antisemitische Vorfälle gibt, tut der Staat nicht genug. Jeder Vorfall ist einer zu viel. Natürlich: Die Schutzmaßnahmen für jüdische und israelische Einrichtungen sind richtigerweise sehr, sehr hoch. Das ändert aber nichts daran, dass Jüdinnen und Juden einer permanenten Gefahr ausgesetzt sind. Im Alltag, auf dem Weg zur Schule, im Bus oder in der Bahn. All das können Orte antisemitischer Gewalteskalation sein. Zumindest in Berlin ist die Polizei aber sehr aufmerksam.

Vor allem auf pro-palästinensischen Demos werden offen antisemitische Parolen skandiert – oft von jungen Männern mit Zuwanderergeschichte. Ist Integration an dieser Stelle gescheitert?

Ich würde davor warnen, von pro-palästinensischen Demonstrationen zu sprechen – die müssten sich nämlich konsequenterweise gegen die Hamas und ihren Terror richten. Ich habe eher den Eindruck, dass es sich um antisemitische Versammlungen handelt, dass hier schlicht ein Vorwand genutzt wird, um gegen Juden und den Staat Israel hetzen zu können. Es sind auch nicht nur junge, muslimische Männer, die auf die Straße gehen. Die Polizei spricht von sogenannten Mischlagen.

Was ist damit gemeint?

Das Spektrum der Teilnehmer reicht bis ins linke, antiimperialistische Milieu. Was die Leute auf den Demos eint: eine antisemitische Grundhaltung. Sonst wären sie nicht da. Es ist aber eine komplexe Situation. Natürlich gibt es auch viele Teilnehmer mit Migrationsgeschichte, zum Teil in zweiter, dritter Generation. Da muss man schon die Frage stellen: Warum haben Menschen, die so lange schon in Deutschland leben, noch immer – oder schon wieder – antisemitische Einstellungen? Es ist aber ein gesamtgesellschaftliches Problem. Auf den Demos bricht sich ein Antisemitismus Bahn, der sowohl muslimisch als auch arabisch-nationalistisch und eben linksextrem-deutsch geprägt ist. Und der sich gegenseitig hochschaukelt.

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"Das sogenannte antiimperialistische Weltbild hat an Bedeutung gewonnen."

Samuel Salzborn

Warum tun sich gerade Linke so schwer, Israel zu verteidigen und Massaker an Juden zu verurteilen?

Das ist eine Frage, die man mit größter Erschütterung stellen muss. Ein linkes Selbstverständnis ging eigentlich immer mit einer Orientierung an Menschenrechten und Gleichheitsvorstellungen einher. Das war noch bei Marx und Engels so, ist im linken Kontext aber seit den 60er, 70er Jahren ein Stück weit verloren gegangen. Das sogenannte antiimperialistische Weltbild hat an Bedeutung gewonnen.

Was steckt dahinter?

Nicht mehr der Klassenkonflikt stand im Zentrum der eigenen Weltanschauung. Sondern der zwischen Völkern. Plötzlich wurden vermeintliche Befreiungsbewegungen als revolutionäres Subjekt ausgemacht und hier im Besonderen die Palästinenser. Israel und die USA wurden dagegen zum Feindbild auserkoren. Und in diesem Schwarz-Weiß-Denken, das ausgesprochen antiintellektuell ist, haben sich viele Linke eingerichtet. Ein solches Weltbild bietet Platz für Antisemitismus, daher fällt es Teilen der Linken schwer, sich mit Israel solidarisch zu zeigen.

Wie antisemitisch ist Deutschland?

Aus der Forschung wissen wir: 15 bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland haben antisemitische Einstellungen. Wenn es um Schuldabwehr – also das Verdrängen der Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah – geht, liegen die Werte bereits bei 40 bis 45 Prozent. Und bei Fragen des gegen Israel gerichteten Antisemitismus bisweilen noch höher. Das ist die gesellschaftliche Dimension.

Andererseits haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) klar hinter Israel gestellt.

Das ist die politische Ebene. Hier gibt es sehr klare, sehr deutliche Haltungen gegen Antisemitismus – und zwar im gesamten demokratischen Spektrum. Daraus muss aber auch ein Handeln folgen. Das ist eine der zentralen, gegenwärtigen Herausforderungen. Über viele Jahrzehnte hat der Kampf gegen Antisemitismus in der Bundesrepublik nicht genug Aufmerksamkeit erfahren. Es ist höchste Zeit, das zu ändern.

Antisemitismus gibt es unter Deutschen und Migranten. Es gibt ihn ganz links und ganz rechts und in der Mitte der Gesellschaft. Warum ist es so schwer, diesem Weltbild beizukommen?

Antisemitismus ist eben genau das: ein Weltbild, das massiv mit Emotionen verwoben ist. Das hat schon Jean-Paul Sartre herausgestellt. Am Ende ist es so: Die moderne Welt steckt voller Widersprüche, ist voller Dinge, die wir nicht verstehen. Es gibt kein Schwarz oder Weiß. Die Lage ist kompliziert. Der Antisemitismus hat einen vermeintlichen Vorteil: Er dient als Projektionsfläche, um die Welt zu ordnen. Im Zweifel sind in diesem Denken die Juden schuld. Es gibt Gut und Böse. Man muss sich mit den eigenen Problemen erst gar nicht befassen. Das ist für viele Milieus attraktiv.

Haben Sie die Hoffnung, dass der Antisemitismus eines Tages besiegt ist?

Man darf die Hoffnung auf jeden Fall nicht aufgeben, dass die Welt zumindest etwas weniger schlecht wird. Daher ist der Kampf gegen Antisemitismus absolut unverzichtbar – politisch, medial und in der persönlichen Auseinandersetzung. Denn: Antisemitismus richtet sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden. Er ist auch ein Fundamentalangriff auf die Demokratie, auf den Pluralismus, auf das Erbe der Aufklärung und die Emanzipation. In sehr ferner Zukunft wird es vielleicht gelingen, den Antisemitismus zu besiegen. Bis es so weit ist, muss der Kampf dagegen fortwährend geführt werden.

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Zur Person:

  • Samuel Salzborn ist 1977 in Hannover geboren. In seiner Heimatstadt studierte er Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft. Es folgten Promotion und Habilitation in Köln und Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem politische Theorie und Ideengeschichte, Demokratie- und Rechtsextremismusforschung. Seit August 2020 ist Salzborn der hauptamtliche Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin. Daneben ist er Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.
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