- Im ostdeutschen Grenzgebiet werden immer mehr Flüchtlinge festgestellt, die sich von Belarus aus auf den Weg nach Deutschland gemacht haben.
- Was steckt dahinter? Und wird sich die Lage zuspitzen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie viele Flüchtlinge aus Belarus kommen gerade über die Grenze?
Allein in diesem Monat hat die Bundespolizei bis zum 26. Oktober 4.584 unerlaubte Einreisen mit einem Hintergrund zu Belarus registriert. Insgesamt wurden im laufenden Jahr 6.995 unerlaubte Einreisen mit Belarus-Bezug festgestellt.
Zum Vergleich: Von Januar bis Juli 2021 hatte die Bundespolizei nur 26 unerlaubt eingereiste Personen mit einem Belarus-Bezug festgestellt. Im August stieg die Anzahl auf 474 solcher illegaler Einreisen, im September folgte ein erneuter Anstieg auf 1.903.
Laut Bundespolizei entfallen die meisten Feststellungen (55 Prozent) auf das Bundesland Brandenburg, mit etwa 31 Prozent folgen Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern (14 Prozent).
Aus welchen Herkunftsländern kommen die Menschen?
In Brandenburgs Erstaufnahmeeinrichtung wurden bereits im September etwa sechsmal so viele Migranten registriert wie in den vorangegangenen Monaten. "Die Menschen kommen am häufigsten aus dem Irak, Afghanistan, Syrien, Iran und vereinzelt afrikanischen Staaten", erklärt Josefin Roggenbuck, stellvertretende Sprecherin des Brandenburger Innenministeriums.
In Sachsen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Nach Auskunft des Innenministeriums in Dresden kommen die meisten Menschen aus dem Irak, aus Syrien, Nordmazedonien, Georgien, Venezuela und Afghanistan.
Ist mit einer Entspannung der Situation zu rechnen?
Eine Entspannung der Lage zeichnet sich derzeit nicht ab. "Wir rechnen in den nächsten Tagen nicht damit, dass der Zustrom abreißt", sagt ein Sprecher der Bundespolizei. Aussagen über die weitere Lage könne man momentan nicht geben.
Auch die Bundesregierung kann derzeit keine Prognose geben: "Die Lageentwicklung, insbesondere das Migrationsgeschehen aus und über Belarus, ist dynamisch und nur bedingt prognostizierbar", erklärt Marek Wede, Sprecher des Bundesinnenministeriums. Die Bundesregierung unternehme alle Anstrengungen, dieser Thematik auf europäischer und internationaler Ebene zu begegnen.
Ist die Lage mit den Flüchtlingsströmen von 2015/2016 zu vergleichen?
Nein. Die Bundesrepublik Deutschland verzeichnet in diesem Jahr von Januar bis einschließlich September insgesamt einen Zugang von Asylbewerbern von etwa 80.000. "Die Größenordnung ist in etwa der Korridor, wie wir sie im Durchschnitt die letzten 30 Jahre hatten", sagte Bundesinnenminister
Warum kommen vermehrt Flüchtlinge aus Polen nach Deutschland?
Der Hintergrund ist ein Konflikt mit Belarus. Die EU wirft dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vor, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten mit Absicht über seine Staatsgrenze in die EU-Länder Polen, Litauen und Lettland zu schleusen - als Reaktion auf die Sanktionen gegen ihn. "Durch Belarus findet eine staatlich organisierte, zumindest staatlich unterstützte Schleusertätigkeit statt", sagte Seehofer. Demnach hat Belarus die Liste der Staaten, die visafrei einreisen könnten, deutlich erweitert - jetzt auf Iran, Pakistan, Südafrika, Ägypten und Jordanien. "Das ist eine Form der hybriden Bedrohung, indem man Migranten als politische Waffe einsetzt", betonte der Bundesinnenminister.
Wie wird an der Grenze kontrolliert?
Systematische Grenzkontrollen gibt es an der deutsch-polnischen Grenze bislang nicht, das ist momentan nur an der Grenze zu Österreich möglich. Für systematische Grenzkontrollen bedarf es zunächst einer Erlaubnis der EU-Kommission.
Beamte der Bundespolizei führen im grenznahen Raum zu Polen Fahndungsmaßnahmen unterhalb der Schwelle von Grenzkontrollen durch, konkret kommt eine intensivierte Schleierfahndung zum Einsatz. "Die Bundespolizei ist dafür (…) maßgeblich mit Kräften der Bundesbereitschaftspolizei und mobilen Kräften der Bundespolizeidirektionen verstärkt worden", erklärt Marek Wede vom Bundesinnenministerium.
Auch aus den Bundesländern kommt Unterstützung. So kontrollieren unter anderem Einsatzkräfte der Polizei Görlitz verstärkt im deutsch-polnischen Grenzgebiet. "Bei der Feststellung bzw. dem Verdacht einer illegalen Migration erfolgt die Verständigung der Bundespolizei und die Zuführung festgestellter Personen zur entsprechenden Bearbeitungsstrecke", sagt Thomas Rechentin, Amtschef des Sächsischen Staatsministerium des Innern.
Was passiert mit Migranten, die an der Grenze aufgegriffen werden?
Bei der deutsch-polnischen Grenze handelt es sich um eine Schengen-Binnengrenze, die grundsätzlich zu jeder Zeit und an jeder beliebigen Stelle überschritten werden kann. "Zurückweisungen an Schengen-Binnengrenzen sind rechtlich nur dann zulässig, wenn die (temporäre) Wiedereinführung von Grenzkontrollen gegenüber der EU-Kommission notifiziert wurde. Dies ist an der deutsch-polnischen Grenze nicht der Fall", erklärt die Bundespolizei. Bei Personen, die unerlaubt eingereist sind, erfolgt eine Prüfung, ob diese zurückgeschickt werden könnten. "Bei gestelltem Schutzersuchen besteht aktuell keine Möglichkeit dazu."
Werden unerlaubt in die Bundesrepublik eingereiste Personen festgestellt, werden sie zunächst zu einer Dienststelle der Bundespolizei gebracht. Dort erfolgt die Identifizierung, Registrierung und die Prüfung sogenannter aufenthaltsbeendender sowie gesundheitsschützender Maßnahmen (Corona-Test). Wird ein Asylgesuch auf deutschem Hoheitsgebiet gestellt, werden die Personen zu einer Erstaufnahmeeinrichtung gebracht.
Wird es feste Grenzkontrollen geben?
Im Moment sind keine festen Grenzkontrollen geplant. Dieser Schritt ist allerdings durchaus eine realistische Option: "Nach Maßgabe des Schengener Grenzkodex haben die EU-Mitgliedstaaten im Falle einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit die Möglichkeit, vorübergehend Binnengrenzkontrollen wieder aufzunehmen", erklärt Marek Wede vom Bundesinnenministerium.
Für feste Grenzkontrollen gibt es Forderungen beispielsweise aus der Unionsfraktion. So sagte CDU-Innenexperte Alexander Throm der Augsburger Allgemeinen: "Ohne Grenzkontrollen nimmt man jeden Druck von Polen weg."
Allerdings lehnt der brandenburgische Innenminister Michael Stübgen (CDU) dies ab. Im Deutschlandfunk warnte er vor langen Lkw-Staus und starken Beeinträchtigungen für Pendler.
Was wird außerdem getan?
Die Bundesländer an der Grenze bereiten sich auf die Ankunft weiterer Flüchtlinge vor. "Brandenburg hat in Reaktion auf den Anstieg ankommender Migranten die Kapazitäten in der Erstaufnahmeeinrichtung frühzeitig ausgeweitet, um geordnete Abläufe und angemessene Unterkunft gewährleisten zu können", erklärt Josefin Roggenbuck vom Brandenburger Innenministerium.
In Sachsen wird nach Angaben der Landesregierung ebenfalls geprüft, wie die Aufnahmekapazitäten in den sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen erhöht werden können.
Gibt es Demonstrationen gegen Flüchtlinge?
Die rechtsextreme Partei "Der Dritte Weg" hatte am vergangenen Wochenende zu sogenannten Grenzgängen entlang der deutsch-polnischen Grenze aufgerufen. Laut Polizeibericht wurden in der Nähe der Stadt Guben bis Sonntagmorgen über 50 Personen festgestellt, die dem Aufruf gefolgt waren. Sie stammen aus den Bundesländern Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Bayern. Im Rahmen der Personenkontrollen stellten die Polizeibeamten darüber hinaus Pfeffersprays, ein Bajonett, eine Machete und Schlagstöcke sicher. Ein Sprecher der Polizei erklärte gegenüber der Redaktion, dass man diese Aktionen nicht dulde und das Gewaltmonopol des Staates deutlich zeigen werde.
Wie soll das Problem gelöst werden?
Laut Innenminister Horst Seehofer laufen Gespräche mit den Ländern, aus denen die Fluggesellschaften kommen, die die Menschen nach Belarus befördern. "Wir haben bei einem Land, nämlich dem Irak, bereits Erfolg. Die Fluglinie wird die Menschen bis Ende des Jahres nicht nach Belarus transportieren", erklärte Seehofer, der außerdem weitere Sanktionen gegen Belarus fordert und das Problem noch an anderer Stelle sieht. "Wir sind alle davon überzeugt, dass der Schlüssel des Problems wohl in Moskau liegt."
Wie reagiert Polen?
Polen hat aufgrund des Andrangs von Migranten aus Belarus Soldaten an der Grenze stationiert, die die Menschen zurückdrängen. Es wird Stacheldraht verlegt. Die Regierung plant zudem den Bau einer 353 Millionen Euro teuren befestigten Grenzanlage an. Das Polnische Parlament hat den Bau bereits beschlossen. Die Mauer soll bis zu 5 Meter hoch und 300 Kilometer lang werden.
Verwendete Quellen:
- Pressestelle Innenministerium Sachsen
- Pressestelle Innenministerium Brandenburg
- Pressestelle der Bundespolizei
- Pressemitteilung der Bundespolizei zu illegalen Migration aus Belarus
- Migrationsbericht des BAMF zur Flüchtlingslage im Jahr 2015
- Polizeibericht zum Polizeieinsatz zur Verhinderung so genannter Grenzgänge
- Bundespressekonferenz mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zu aktuellen Migrationslage in Deutschland
- Augsburger Allgemeine: Flüchtlinge aus Weißrussland: Seehofer will Grenzkontrollen, Merkel nicht
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