Das britische Unterhaus hat den ausgehandelten Brexit-Vertrag in seiner aktuellen Fassung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt und damit die politische Krise rund um den EU-Austritt verschärft - vor allem im eigenen Land. Und Europa fragt sich nun, was die Briten eigentlich wollen.
Nach der Ablehnung des Brexit-Vertrags im britischen Unterhaus hat EU-Chefunterhändler Michel Barnier vor einem chaotischen Austritt des Vereinigten Königreichs gewarnt.
Das Risiko eines Brexit ohne Abkommen erscheine "so hoch wie noch nie", sagte Barnier am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg.
Zehn Wochen vor dem geplanten Austritt Großbritanniens müsse die EU nun die Vorbereitungen auf einen ungeordneten Brexit "beschleunigen".
Merkel spricht von Schadensbegrenzung
Kanzlerin
"Wir wollen den Schaden - es wird in jedem Fall einen Schaden geben durch den Austritt Großbritanniens - so klein wie möglich halten. Deshalb werden wir natürlich versuchen, eine geordnete Lösung weiter zu finden", sagte die CDU-Politikerin am Mittwoch in Berlin.
Zahlreiche Abgeordnete mahnten eine klare Position Londons an. Das Unterhaus habe den Vertrag mit großer Mehrheit abgelehnt, doch die unterschiedlichen Lager hätten dies aus unterschiedlichen Gründen getan, betonte der Fraktionschef der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP),
Was wollen die Briten?
"Wir wissen, was die Briten nicht wollen, aber wir wissen nicht, was sie wollen", sagte im Namen der sozialdemokratischen Fraktion der Italiener Roberto Gualtieri.
Das Unterhaus müsse nun eine "positive Lösung" zustande bringen, forderte der CDU-Abgeordnete Elmar Brok.
Außenminister
Bundeswirtschaftsminister
Vor allem die Briten würden unter einem ungeregelten Ausstieg leiden. Dies hätte schwere Konsequenzen für Wohlstand und Arbeitsplätze.
Barnier wies derweil Forderungen aus Großbritannien zurück, die umstrittene Auffanglösung zur Vermeidung von Grenzkontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zeitlich zu begrenzen.
"Der Backstop muss ein Backstop sein, er muss glaubwürdig sein", sagte der Franzose. Nur so lasse sich die Gültigkeit des Karfreitagsabkommens garantieren, das 1998 den blutigen Nordirland-Konflikt beendet hatte.
London bleibt am Zug
Der spanische Regierungschef Pedro Sánchez sagte im Europaparlament, der ausgehandelte Vertrag sei der bestmögliche. Nun sei es an der britischen Regierung, die nächsten Schritte zu beschließen.
Die rumänische EU-Ratspräsidentschaft lehnte neue Verhandlungen ab. "Nachverhandlungen sind nicht vorgesehen", sagte Europastaatssekretärin Melania Ciot im EU-Parlament.
Die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen müssten nun "Notfallplanungen" für einen Brexit ohne Abkommen vorantreiben.
Ein Austritt ohne Einigung würde "weitreichende Folgen" haben - sowohl für Großbritannien als auch für die EU, sagte der Vize-Präsident der EU-Kommission, Frans Timmermans. Er neigt Merkels Position zu: Nun gehe es darum, den Schaden so weit wie möglich zu begrenzen.
Mehrere Abgeordnete forderten die zerstrittenen britischen Parteien zur Zusammenarbeit auf, um eine Lösung zu finden. Andere regten ein neues Referendum an. Die britische Forderung nach Nachverhandlungen stieß fraktionsübergreifend auf Ablehnung.
Die Europafeinde greifen zu Kriegs-Rhetorik
Brexit-Hardliner im Europaparlament reagierten empört. Der Verhandlungsführer der EU habe den Briten keinerlei Zugeständnisse gemacht, sagte Nigel Farage, der mit der europafeindlichen Partei Ukip für den Austritt aus der EU geworben hatte. "Barnier hat uns genau dahin gebracht, wo er uns hinbringen wollte."
Sein Parteifreund Gerard Batten sagte, es gebe einen Plan B - Großbritannien solle die EU nicht länger fragen, wie es austreten kann. Die Briten könnten die EU nach ihren eigenen Regeln verlassen. "Das britische Volk wird sich nie unterwerfen."
Nach ihrer schweren Niederlage im britischen Unterhaus muss sich May am Mittwochabend einer Misstrauensabstimmung stellen. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie die nötigen Stimmen bekommt und weitermachen kann.
An diesem Montag wolle sie einen Plan B vorlegen, um einen chaotischen EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen doch noch zu verhindern.
Die Premierministerin kündigte an, sich mit allen Parteien zu treffen, falls das Parlament ihr am Mittwochabend das Vertrauen ausspreche.
EU-Austritt ist für den 29. März geplant
Großbritannien will die Europäische Union am 29. März verlassen. Wenn ein "No Deal"-Austritt ohne Abkommen verhindert werden soll, muss es bis dahin eine Einigung geben.
"Die Einigung, die wir mit der britischen Regierung gefunden haben - diese Vereinbarung von fast 600 Seiten - ist eine gute Vereinbarung", sagte Barnier. "Es ist natürlich ein Kompromiss. Aber es ist der bestmögliche Kompromiss."
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hält es für wahrscheinlich, dass die Briten nachverhandeln und dann erneut im Parlament abstimmen wollen. Er sei aber nicht sonderlich davon überzeugt, denn beim Brexit-Deal sei man schon zum Äußersten gegangen, sagte er der Nachrichtenagentur AFP zufolge am Dienstagabend.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte nach dem Scheitern des Abkommens im Unterhaus Nachbesserungen seitens der EU ausgeschlossen.
Neuerliches Brexit-Referendum ist unwahrscheinlich
Dass die Briten erneut über den Brexit abstimmen könnten, hält der britische Botschafter Sebastian Wood nicht für wahrscheinlich. "Im Moment sehe ich keine Mehrheit im Parlament für ein zweites Referendum", sagte er im ZDF-"Morgenmagazin".
Pharmaverbände warnen im Falle eines ungeordneten Brexits vor Engpässen bei Medikamenten.
Ohne Übergangsphase oder Regelungen für die komplexen Lieferketten für Arzneien könne die Versorgung in Großbritannien und der übrigen EU "empfindlich" gestört werden, mahnte der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) in Berlin.
Die Anleger an den Aktienmärkten reagierten gelassen auf die klare Ablehnung des Brexit-Abkommens. Europas Börsen legten sogar ein wenig zu.
Der deutsche Leitindex Dax stand am Mittag mit 0,07 Prozent leicht im Plus bei 10.899,76 Punkten. Lediglich in London ging es mit den Aktienkursen etwas bergab. Sowohl der Euro als auch das britische Pfund bewegten sich am Morgen wenig. (afp/dpa/hau)
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