- Serap Güler ist neu im Bundestag und sitzt für die CDU im Verteidigungsausschuss. Zuvor war sie in Nordrhein-Westfalen Staatssekretärin für Integration im Kabinett von Armin Laschet.
- Im Interview spricht sie über ihre Probleme mit Kanzler Scholz und über herzzerreißende Szenen, die sie bei ihrem Besuch in Kiew erlebt hat.
- Außerdem kritisiert sie die Fehlerkultur in Deutschland, findet aber, dass wir hierzulande mit der Integration weiter sind, als viele denken.
Frau
Serap Güler: Es war uns wichtig, uns ein Bild vor Ort machen zu können und dort auch mit den vom Krieg betroffenen Menschen zu sprechen, beispielsweise mit einer Frau in Irpin, einem Vorort von Kiew. Deren Haus wurde komplett zerstört. Und das macht natürlich etwas mit einem, wenn man mit Betroffenen direkt in Kontakt kommt. Wenn man die willkürliche Zerstörung in den Vororten sieht, wo medizinische Einrichtungen, Schulen, Wohnhäuser, Kitas bombardiert wurden, dann wird einem das ganze Ausmaß bewusst. Dort wird Krieg gegen ukrainische Zivilisten geführt.
Leben die Einwohner in ständiger Angst vor Angriffen?
Wir sind morgens mit dem Zug in Kiew angekommen. Und dort fühlte sich zuerst alles ganz normal an. Die Menschen stehen an den Bushaltestellen, um zur Arbeit zu kommen oder sitzen in Cafés und Restaurants. Das Stadtbild ist unverändert. Aber sobald man die Stadt verlässt und mit den Leuten ins Gespräch kommt, sagen sie: "Wart' mal ab, was hier los ist, wenn die Sirenen angehen." Insofern: Ja, die Angst vor Angriffen ist permanent da.
Was haben Sie sonst erlebt?
Es gab auch kuriose Szenen. Wir waren zum Beispiel beim ukrainischen Verteidigungsminister, der mit einem Schmunzeln zu uns sagte, wir seien jetzt am sichersten Ort in der ganzen Stadt. Als wir ihn fragend angeschaut haben, meinte er trocken: "Nebenan ist die chinesische Botschaft."
Welche Szenen aus Kiew haben bei Ihnen Eindruck hinterlassen?
Zum Beispiel, als wir abends wieder mit dem Zug zurückfahren wollten und der ganze Bahnhof und auch der Zug unbeleuchtet waren, um den Angreifern kein Ziel zu bieten. Und ein Mann hat seine Frau und Kinder in den Zug gesetzt und Abschied genommen, hoffentlich nicht für immer. Diese Szenen mitzuerleben – das macht etwas mit einem und beschäftigt mich immer noch.
Was brauchen die Menschen dort am dringendsten?
Waffen. Ich hatte die Position auch schon vor unserem Besuch, aber die Eindrücke vor Ort haben meine Ansicht nochmal bestärkt. Das sagt die Frau, die vor ihrem zerstörten Haus steht, genauso wie der Premierminister. Der außenpolitische Berater Selenskyjs hat das auch nochmal ganz deutlich gemacht: Entweder die Ukraine bekommt jetzt mehr Waffen oder sie wird im Winter den Krieg verloren haben.
Serap Güler: "SPD ist die größte Bremse"
Hat die Bundesregierung aus Ihrer Sicht verstanden, worum es geht?
Nein. Allein das Desaster rund um den Ringtausch macht das sehr deutlich. Es gibt allerdings Unterschiede beim Thema schnelle Hilfe. Ich glaube, dass die Grünen das möchten, dass auch die FDP das möchte und dass die SPD dabei die größte Bremse ist. Da meine ich weniger Verteidigungsministerin Lambrecht, sondern Kanzler Scholz.
Aber er verspricht doch immer wieder neue Lieferungen und Unterstützung?
Es gibt eine große Kluft zwischen den Worten des Kanzlers und seinen Taten. Er lässt keine Rede aus, um zu unterstreichen, dass er die Ukraine unterstützen will. Nur kommt diese Unterstützung eben nicht an.
Gerät der Krieg hierzulande ein wenig aus dem Fokus?
Ja, er wird ein bisschen verdrängt durch die Sorge, ob wir im Winter frieren müssen oder nicht. Einige Energieversorger haben Preissteigerungen angekündigt, zum Beispiel die Rheinenergie hier in Köln hebt die Preise ab dem 1. Oktober um 133 Prozent an. Das führt dazu, dass auch die Frage wieder stärker zu hören ist, ob dieser Krieg eigentlich unser Krieg ist. Solch eine kippende Stimmung hatten wir auch 2015 bei der Flüchtlingskrise.
Wie groß wird die Solidarität der Deutschen mit der Ukraine im Winter noch sein?
Schwer einzuschätzen. Die Auswirkungen des Krieges verlangen uns Deutschen einiges ab. Aber angesichts der hohen Hilfsbereitschaft merkt man, dass wir gerne helfen. Aber der Unterschied zwischen einer 100-Euro-Spende und einer kalten Dusche im Winter ist offensichtlich.
Sie sind zum ersten Mal in den Bundestag gewählt worden und gehören dem Verteidigungsausschuss an. Welche Arbeitsatmosphäre herrscht dort?
Unter den Abgeordneten der demokratischen Fraktionen ist die Stimmung und der persönliche Umgang sehr gut. Öffentlich spielen wir uns vielleicht manchmal die Bälle zu, aber wir können immer noch miteinander mal ein Käffchen trinken gehen. Gerade bei solch einem Thema ist es wichtig, dass das Zwischenmenschliche passt. Das kann ich zum Beispiel über die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, vor allem mit dem Verteidigungsministerium, aber auch mit dem Wirtschaftsministerium, nicht unbedingt sagen. Die Attitüde des Verteidigungsministeriums lässt mich oft verzweifeln.
"Staatssekretärin Siemtje Möller liest seitenlange Referate vor"
Warum?
Der Auftritt der Verteidigungsministerin lässt einen manchmal fragend zurück. Zum anderen das Auftreten von Staatssekretärin Siemtje Möller, die im Ausschuss seitenlange Referate vorliest, wodurch man sich als Abgeordneter in seinem Rederecht beschnitten fühlt. Nachfragen werden auch nicht beantwortet.
In der letzten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen waren Sie unter
Ich habe das zumindest nie als Nachteil empfunden. Auf dieser Position habe ich mich immer in einer Vermittlerrolle gefühlt, mit einer Art Brückenfunktion. Wenn jemand mit Migrationsbiografie die eigenen Erfahrungen in den Job einfließen lässt, kann das sehr hilfreich sein. Über Probleme, die es bei der Migration gibt, kann ich vielleicht anders und offener reden. Aber man kann auch ohne diese Erfahrungen eine gute Integrationsstaatssekretärin sein.
Warum tut sich Deutschland so schwer mit der Integration?
Wir sind mit der Integration in Deutschland schon weiter, als viele denken. Ich glaube, wir Deutschen sehen das Glas meistens lieber halbleer als halbvoll. Das gilt für viele andere Bereiche auch. Wir reden unsere Stärken immer ein bisschen klein.
Aber die Probleme, die Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel bei der Wohnungs- oder Jobsuche haben, sind doch keine Einzelfälle, oder?
Gar keine Frage, auch das gibt es. Vor zwei Jahren ist das meiner Nichte passiert. Aber ich glaube, es gibt unterm Strich mehr Menschen, die helfen oder unterstützen wollen, als diejenigen, die ihre Wohnung nicht an einen Ahmed oder eine Aische vermieten möchten.
Was genau haben Sie für die Integration getan?
Wir haben vor allem die Strukturen in der Zusammenarbeit mit den Kommunen verändert. Wir haben das Programm "Kommunales Integrationsmanagement" ins Leben gerufen, wo in der Kommune unterschiedliche Akteure wirklich eng zusammenarbeiten, angefangen von der Verwaltung über die ehrenamtlichen Initiativen bis hin zur Wirtschaft. Das war zunächst ein Modellprojekt für nur zwölf Kommunen, inzwischen haben das alle übernommen. Das Integrationsgesetz in Nordrhein-Westfalen ist das einzige bundesweit, in dem das Budget für die Integration festgeschrieben ist. Als ich 2017 das Amt übernommen habe, lag das Budget bei 63 Millionen Euro, jetzt sind es durch das Gesetz 130 Millionen – das ist auch ein Verdienst von mir.
"Ein Land wie Nordrhein-Westfalen braucht eigentlich mehr"
Wenn das mit der Integration so gut funktioniert, wie Sie sagen, warum gibt es dann in der schwarz-grünen Landesregierung in NRW kein Regierungsmitglied mit Migrationshintergrund?
Das finde ich auch sehr schade. Es stimmt schon: Ein Land wie Nordrhein-Westfalen braucht da eigentlich mehr. Ministerpräsident Wüst hatte von CDU-Seite aus nicht so viel Spielraum bei der Besetzung der Posten. Ich habe das von den Grünen eher vermutet, aber auch da wurde diese Chance leider nicht genutzt.
Hat man Sie gefragt oder hatten Sie selbst sogar vielleicht Ambitionen auf einen Posten in NRW?
Ich habe gelesen, dass ich in irgendwelchen Gesprächen bin - wohlwissend, dass das nicht infrage kommt. Ich habe mich letztes Jahr für Berlin entschieden.
Hat nicht die sogenannte Mallorca-Affäre Ihre Rückkehr unmöglich gemacht?
Nein. Wenn sich das auf unser Wahlergebnis ausgewirkt hätte, könnte man das vielleicht denken, aber unser Abschneiden war ja x-mal besser, als wir uns das alle erhofft hatten.
Sie haben sich damals entschuldigt für den privaten Trip während der Flutkatastrophe im vergangenen Jahr. Dürfen Politikerinnen und Politiker heutzutage überhaupt noch Fehler machen?
Auf jeden Fall weniger. Auch wenn die Reaktionen auf meine Entschuldigung durchweg positiv waren. Es gab sogar Stimmen, die meinten, ich hätte das gar nicht tun müssen, da ich als Integrationsstaatssekretärin nicht zuständig war. Generell habe ich schon das Gefühl, dass man jeden Schritt nochmal sorgsamer überlegen muss, als das vielleicht noch vor ein paar Jahren der Fall war.
Die Fehlerkultur ist hierzulande also eher unterentwickelt?
Es gibt eine ganz miserable Fehlerkultur in Deutschland. Das ist unabhängig vom Politikbetrieb. Gründen Sie mal ein Unternehmen, das später pleite geht - dann stehen Sie als Komplettversager da. Wenn man sich dagegen die Fehlerkultur in den USA anschaut, ist das schon ein krasser Unterschied. Das fängt bei uns teilweise schon damit an, dass die Eltern, wenn das Kind die Klasse wiederholt, denken, dass es irgendwo unter der Brücke landen wird. Da ist es nur logisch, dass Deutsche überaus hohe Ansprüche an Politiker und Politikerinnen haben.
"Sozialpolitik ist unsere offene Flanke"
Hätte Helge Braun die Wahl zum neuen CDU-Vorsitzenden gewonnen, dann wären Sie jetzt Generalsekretärin. Warum hätten Sie der CDU in der Funktion gutgetan?
Zunächst einmal: Die Mitglieder haben sich für Mario Czaja entschieden und ich finde, er macht einen guten Job. Deshalb muss man da jetzt nicht drüber spekulieren. Aber ich hätte, wie Czaja auch, den Schwerpunkt auf die Sozialpolitik gelegt, weil ich nach der Bundestagswahl das Gefühl hatte, dass das unsere offene Flanke ist.
Sie haben damals gesagt, Sie kämpften für eine CDU, die für "Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und auch Herzlichkeit steht". Tut sie das inzwischen?
Wir sind mittlerweile zumindest an einem Punkt angelangt, das merkt man auch bei der Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms, dass wir sehr selbstkritisch sind, auch mit dem, was in den letzten 16 Regierungsjahren eher schiefgelaufen ist. Und das ist kein Merkel-Bashing, sondern wir sehen als Partei ein, dass wir das eine oder andere Problem hätten anders angehen können.
Das Thema Energieversorgung und -sicherheit zum Beispiel?
Ja. Ich habe es für absolut richtig gehalten, nach der Katastrophe in Fukushima aus der Atomenergie auszusteigen. Aus sicherheitspolitischer Sicht hätten wir vielleicht die Schwerpunkte anders setzen müssen, um uns nicht so stark in die Abhängigkeit von russischem Gas zu begeben. Das alles wird jetzt sehr selbstkritisch aufgearbeitet.
Und Friedrich Merz ist der richtige Vorsitzende, auch beim Thema Herzlichkeit?
Herzlichkeit kann man nicht über Nacht vermitteln. Mit der Zeit erkennen die Menschen, wie Politiker ticken. Und tatsächlich empfinde ich Friedrich Merz als viel zugänglicher, als ich gedacht hätte. Insgesamt hat das aber nicht nur mit dem Parteivorsitzenden zu tun, da sind viel mehr Gesichter gefragt. Und da fehlen vor allem weibliche.
Auf dem Parteitag im September in Hannover soll es auch um eine Frauenquote gehen. Wo stehen Sie in der Frage?
Ich war selbst lange Gegnerin einer Quote, weil ich das als jüngere Frau anders bewertet habe. Aber je älter ich werde und je länger ich in der Partei bin, umso mehr merke ich, dass sich ohne eine feste Regelung nicht viel ändern wird. Die Quote ist die einzige Möglichkeit, aus dieser Spirale tatsächlich rauszukommen. Ich würde sogar den Satz von Friedrich Merz unterstreichen, dass eine Quote nur die zweitbeste Lösung ist. Mir ist bisher aber auch keine bessere eingefallen. Ich hoffe sehr darauf, dass die Quote kommt. Ganz salopp gesagt: Im schlimmsten Fall wird ein mittelmäßiger Mann durch eine mittelmäßige Frau ersetzt – und das wäre nicht schlimm.
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