Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir will die Deutschen zu einer gesünderen Ernährung bewegen. Bevormunden will er sie aber nicht. Passt das zusammen? Ein Gespräch über Currywurst als Mittagessen, zwei Gesetzesvorhaben und eine FDP, die auf der Bremse steht.

Ein Interview

Cem Özdemirs Nacht war kurz. Bis in die frühen Morgenstunden hat er mit Bundestagsabgeordneten über seinen Haushalt verhandelt. Zum Interview mit unserer Redaktion am Mittag danach kommt der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft gleich mit zwei Getränken: In einer VfB-Stuttgart-Tasse ist Ingwer-Tee, in einem Metallgefäß mit Strohhalm südamerikanischer Mate-Tee. Das sei gut für Abwehrkräfte und Verdauung und seine "legale Droge", sagt der Grünen-Politiker.

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Herr Özdemir, was haben Sie heute gegessen?

Cem Özdemir: Noch nicht viel. Gestern war die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses und der Haushalt meines Ministeriums wurde erst gegen 3 Uhr nachts behandelt. Ich habe aber etwas Obst gegessen, so wie fast jeden Morgen.

Sie wollen die Deutschen zu einer gesünderen Ernährung bewegen. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?

Wir haben bis zu zwei Millionen Kinder in Deutschland mit Übergewicht oder sogar Adipositas. Mir ist das Thema als Mensch, als Vater und als studierter Sozialpädagoge wichtig. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von starkem Übergewicht liegen in Deutschland pro Jahr bei 63 Milliarden Euro. Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es also sinnvoll, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich möglichst einfach gesund zu ernähren.

Sie erklären Ihre Begeisterung für das Thema auch mit Ihrer Biografie.

Meine Eltern kamen als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland und mussten viel arbeiten. Mein Vater hatte sogar eine Zeit lang zwei Jobs, damit wir über die Runden kommen. Nach der Schule war ich oft allein. Für mein Mittagessen bekam ich ungefähr 1,60 Mark, das reichte für eine Currywurst oder eine Pommes und eine Cola. Davon habe ich mich jahrelang ernährt. Es spricht auch gar nichts dagegen, sowas ab und an zu essen – aber es eignet sich nicht als Grundnahrung in der Wachstumsphase. Mein Beispiel zeigt: Gesunde Ernährung ist auch eine soziale Frage.

Sie planen eine umfassende Ernährungsstrategie. Ziel ist eine "gesündere, ressourcenschonende und pflanzenbetonte Ernährung". Schaffen es die Deutschen nicht allein, sich gut zu ernähren?

Das klappt oft schon gut, aber eben nicht überall. Jeder will, dass seine Kinder gesund aufwachsen. Aber viele Eltern sind auch überfordert, weil ihnen etwa das Wissen fehlt oder sie arbeitsbedingt wenig Zeit haben. Unsere Ernährungsstrategie nimmt deshalb vor allem Kinder in den Blick. Die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen, darum geht es und das ist auch eine Frage der Chancengerechtigkeit. Ein mächtiger Hebel ist die Außer-Haus-Verpflegung, etwa in Kitas und Schulen. Die ist übrigens auch wichtig, um unsere heimische Landwirtschaft zu stärken. Wenn wir hier mehr auf regionale Lebensmittel setzen, schafft das eine immense Wertschöpfung für unsere Landwirtinnen und Landwirte.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Sollen die Deutschen aus Ihrer Sicht auch weniger Fleisch essen?

Es braucht keinen Cem Özdemir, der den Leuten sagt: Esst weniger Fleisch. Das entscheiden und machen die Menschen schon ganz alleine. Der Fleischverzehr geht seit Jahren zurück, in den letzten 15 Jahren verbuchen wir einen Rückgang von 62 auf 52 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Dieser Trend wird weitergehen. Die Menschen sind längst weiter als mancher Lobbyist oder Politiker. Unser Ernährungsreport bestätigt, dass sich die Ernährung rasant ändert. Die am stärksten wachsende Gruppe sind nicht Vegetarier oder Veganer, sondern die Flexitarier – das sind Leute, die weniger Fleisch essen, dafür sehr bewusst. Meine Aufgabe ist es, auf diese Entwicklung zu reagieren und die Rahmenbedingungen zu verbessern. Das Nichtstun der Vergangenheit hat krasse Strukturbrüche verursacht.

Was meinen Sie damit?

Zwischen 2010 und 2020 hat fast die Hälfte der Schweine haltenden Betriebe aufgegeben. Für eine nachhaltige Landwirtschaft brauchen wir Tierhaltung und wenn die in Deutschland eine Zukunft haben soll, dann müssen wir weniger Tiere besser halten. Mehr Tierschutz ist auch klarer Wunsch der Bürgerinnen und Bürger.

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Cem Özdemir: "Auch im Wahlkampf sollte man versuchen anständig zu bleiben"

Sie haben ein staatliches Tierhaltungskennzeichen auf den Weg gebracht. Konsumentinnen und Konsumenten sollen damit leicht erkennen, wie ein Tier gehalten wurde. Kritiker bemängeln aber, dass die Kennzeichnung nur für Schweinefleisch gilt und nicht das gesamte Leben des Tieres umfasst.

Man beginnt die Treppe immer mit der ersten Stufe. Schweinefleisch wird am meisten nachgefragt, deshalb haben wir damit angefangen. Wir arbeiten aber bereits an den nächsten Schritten. Diejenigen, die mich jetzt kritisieren, hatten zuvor 16 Jahre Zeit, es anders zu machen. Sie sind aber krachend gescheitert. Dabei gab es vor ein paar Jahren noch sprudelnde Steuereinnahmen. Heute kämpfen wir um jeden Cent. Wir haben einen schrecklichen Krieg in der Ukraine, wir haben immer noch eine viel zu hohe Inflation und der Finanzminister macht Sparhaushalte. In dieser Situation gebe ich trotzdem mehr für eine bessere, zukunftsfeste Tierhaltung aus als meine Vorgänger – nämlich zunächst eine Milliarde Euro für die den Umbau hin zu einer tiergerechteren Schweinehaltung.

Aus Sicht von Tierschützern ist das staatliche Label aber nur ein kleiner Wurf.

Ich habe erreicht, dass wir parallel das Baugesetzbuch und das Emissionsrecht ändern, um den Umbau von Ställen zu vereinfachen. Das habe ich zusammen mit 16 Umwelt- und Agrarministern der Länder durchgebracht. Ich habe geliefert – innerhalb kürzester Zeit. Natürlich würde ich mir auch eine bessere Haushaltslage wünschen, damit wir jetzt schon wissen, was nach der Milliarde für die Schweinehalter kommt. Der Finanzbedarf ist deutlich höher, wenn wir auch andere Tierarten einbeziehen. Ich bleibe dran, ich bin da sehr hartnäckig. Aber die aktuelle Diskussion um den Haushalt und seine künftige Finanzierung haben Sie ja auch mitbekommen.

Im Bundestagswahlkampf 2013 haben die Grünen einen Veggie-Day pro Woche vorgeschlagen. Das war für Ihre Partei medial ein Desaster. Haben Sie daraus gelernt?

Am Ende waren damals alle unglücklich. Für die einen war es ein Eingriff in ihr Leben. Die anderen haben gesagt: warum denn nur ein einziger Veggie-Day pro Woche? Wir haben daraus gelernt, dass sich die Politik um Strukturen kümmern muss. Um die Umsetzung in ihrem Alltag kümmern sich die Leute schon selbst.

Also wollen Sie den Menschen nichts vorschreiben?

Ich mache Angebote und setze darauf, dass sich gute Ideen durchsetzen. Das gefällt nicht jedem. Uli Hoeneß hat neulich im Fernsehen behauptet, ich würde ihm den Zucker aus dem Kaffee nehmen. Mich interessiert der Kaffee von Uli Hoeneß gar nicht. Er soll ihn von mir aus mit Speckwürfeln trinken. Das darf er alles, wir sind ein freies Land. Markus Söder hat ja auch mal behauptet, ich würde den Menschen vorschreiben, höchstens zehn Gramm Fleisch pro Tag essen zu dürfen.

Eine falsche Behauptung?

Ich musste erstmal recherchieren, wie er darauf kam. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat überlegt, wie eine gesündere und nachhaltigere Ernährung aussehen kann. Die Wissenschaftler dort arbeiten unabhängig und auf Basis von Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen, ich kann und will ihnen gar keine Weisungen erteilen. Herr Söder hat aber einfach behauptet, ich würde das fordern. So etwas macht die demokratische Debattenkultur kaputt. Auch im Wahlkampf sollte man versuchen anständig zu bleiben, wenn man keinen Trump‘schen Irrsinn in Deutschland möchte.

"Irgendwann werden die Flexitarier in der Mehrheit sein"

Ihre Ernährungsstrategie sollte ursprünglich noch in diesem Jahr vom Bundeskabinett beschlossen werden. Wird das noch etwas?

An mir wird es nicht scheitern. Mein Ministerium ist ein fleißig arbeitendes Haus und hat alle Vorbereitungen getroffen. Jetzt hoffe ich, dass es uns gelingt, die Strategie einvernehmlich im Kabinett auf den Weg zu bringen. Sie wissen ja, dass es in der Koalition immer wieder Diskussionsbedarf gibt. Das gilt gelegentlich auch für meine Themen.

Um es konkret zu sagen: Die FDP steht auf der Bremse. Sie blockiert auch ein weiteres Gesetzesvorhaben: Sie wollten an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Salz oder Fett eigentlich verbieten. An diesen Plänen mussten sie schon Abstriche machen.

So funktioniert Politik: Man macht mithilfe von klugen Leuten einen Vorschlag, wie ein Gesetz im Idealfall aussehen müsste. Das heißt aber nicht, dass es eins zu eins umgesetzt wird. Und dafür sind ja die Beteiligungsschritte auch vorgesehen, damit alle Betroffenen gehört und unterschiedliche Belange berücksichtigt werden können. Ich verstehe nicht, wovor sich die FDP da fürchtet. Weil das Gesetzesprojekt in der Koalition leider blockiert ist, habe ich mich selbst mit Verbänden zusammengesetzt.

Mit welchem Ergebnis?

Ich habe etwa Gespräche mit Verbänden des Lebensmittelhandwerks geführt oder mich mit dem organisierten Sport getroffen – das heißt mit Vertretern der Ersten und Zweiten Bundesliga, dem Deutschen Fußball-Bund und dem Deutschen Olympischen Sportbund. Aus den Gesprächen habe ich eines mitgenommen: Wir alle teilen das Ziel, Kinder besser vor dem Einfluss von Werbung für Lebensmittel mit zu viel Salz, Zucker und Fett zu schützen. Über den richtigen Weg zum Ziel können wir uns einigen. Beim Wohl unserer Kinder will keiner meiner Gesprächspartner Kompromisse machen. Ich will die Macht der Eltern gegenüber denjenigen stärken, die ihnen Sand in die Augen streuen. Frühstückscerealien mit einem Zuckeranteil von 50 Prozent braucht kein Mensch.

Was ist mit größeren Wirtschaftsakteuren?

Der Lebensmitteleinzelhandel hat uns ebenfalls Gespräche angeboten. Eine große Unternehmensgruppe hat angekündigt, dass sie an Kinder gerichtete Werbung nur noch zu Anlässen wie Weihnachten, Ostern oder am Schulanfang schalten will und sie ansonsten herunterfährt. Es tut sich was. Die Leute und ein großer Teil der Wirtschaft sind schon viel weiter, als mancher meint.

Wenn Sie in die Glaskugel schauen: Wie könnten sich die Essgewohnheiten der Deutschen in 20 Jahren verändert haben?

Gesundheit, Nachhaltigkeit – das wird wichtiger. Die Rolle von regionalen, saisonalen und auch ökologischen Produkten wird zunehmen. Und ich glaube, dass der Fleischkonsum weiter abnehmen wird. Irgendwann werden die Flexitarier in der Mehrheit sein. Gegessen wird immer, was schmeckt – aber auch Geschmäcker ändern sich. Und das ist doch mal eine gute Nachricht, finde ich.

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Über den Gesprächspartner:

  • Cem Özdemir wurde 1965 im schwäbischen Bad Urach geboren. Er absolvierte die Realschule, machte eine Ausbildung zum Erzieher und studierte danach Sozialpädagogik. 1981 wurde er Mitglied der Grünen, für die er 1994 erstmals in den Bundestag einzog. Er war unter anderem Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen sowie Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag, bevor er im Dezember 2021 Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft und damit erster Bundesminister mit türkischer Einwanderungsgeschichte wurde.
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