Seit 0 Uhr ist die Europäische Union eine andere: Nach genau 47 Jahren und 30 Tagen hat Großbritannien den Staatenbund verlassen. Aus 28 werden nicht nur 27 Mitgliedsstaaten, auch das Machtgefüge innerhalb Europas hat sich verändert – weit über Brüssel hinaus.
Wer nicht mehr Mitglied der Europäische Union ist, sitzt auch nicht mehr im EU-Ministerrat oder im EU-Parlament. Logisch. Am 31. Januar Punkt Mitternacht (MEZ) ist Großbritannien aus dem Staatenbund ausgetreten. Für die britischen EU-Abgeordneten und -Diplomaten endet ihre Amtszeit, hunderte Mitarbeiter verlieren ihren Job.
Die Folgen sind weitreichend. Noch immer ist ein harter Brexit möglich, auch wenn Brüssel und London versuchen, den in weiteren Verhandlungen bis Ende des Jahres - wenn die Übergangsfrist abläuft - zu verhindern.
Vor den Verhandlern stehen anstrengende Monate. Doch schon jetzt ist klar: Die Machtverhältnisse in den allermeisten Institutionen der Europäischen Union haben sich verschoben. Deutschland könnte davon profitieren.
Wie ändert sich mit dem Brexit die Zusammensetzung im Europaparlament?
Im EU-Parlament sind 73 britische Abgeordnete ausgeschieden, sie verlassen Europas Volksvertretung. Doch diese verringert sich durch den Brexit nur um 46 Sitze auf nunmehr 705 Abgeordnete. Der Rest wird durch Abgeordnete der verbleibenden Mitgliedstaaten neu besetzt. Die 27 neuen Abgeordneten waren schon im Mai 2019 gewählt worden, konnten ihr Mandat aber nicht antreten, weil der Brexit mehrfach verschoben wurde.
Von der Neubesetzung profitieren nun Mitgliedstaaten, die nach ihrer Bevölkerungszahl bisher unterrepräsentiert waren. Das sind besonders Spanien und Frankreich, die jeweils fünf neue EU-Parlamentarier entsenden, Italien und die Niederlande bekommen jeweils drei neue Sitze. Die Zahl der deutschen Vertreter bleibt hingegen bei 96, da dies schon die Obergrenze für ein Land ist.
Wie verschieben sich die Machtverhältnisse zwischen den Fraktionen?
Wichtiger als die Nationalität der neuen Abgeordneten ist aber ihre Partei- beziehungsweise Fraktionszugehörigkeit. Viele der britischen EU-Abgeordneten waren im Mai auf Listen der EU-feindlichen Brexit-Partei gewählt worden und hatten sich keiner Fraktion angeschlossen. Vor allem für Grüne und Liberale, aber auch Sozialdemokraten und Nationalkonservative hat die Neuordnung negative Folgen.
Die liberale Fraktion Renew Europe (RE) ist zahlenmäßig der größter Verlierer: Gleich 16 Liberal Democrats und eine nordirische Liberale verlassen das Schiff. Dafür rücken nur sechs neue Abgeordnete nach, RE fällt von 108 auf 97 Mandate. Noch teurer kommt der Grünen/EFA-Fraktion der Brexit zu stehen. Die Umweltschützer verlieren elf britische Abgeordnete, gewinnen aber lediglich vier hinzu. Sie fallen damit von 74 auf 66 Mitglieder und zugleich hinter die Rechtspopulisten der Parlamentsgruppe Identität und Demokratie (ID) zurück, die um vier Abgeordnete auf nun 77 wachsen. Damit sind die Grünen künftig nur noch fünftstärkste Kraft, was sich unter anderem negativ auf die Redezeiten auswirken wird, die der Fraktion pro Abgeordnetem zustehen.
Der große Gewinner der Neuordnung ist die Europäische Volkspartei (EVP). Die EU-Fraktion von CDU und CSU verliert keine Abgeordneten und bekommt sogar Verstärkung durch fünf neu verteilte Mandate. Die Konservativen bauen so ihre Position als größte Fraktion auf 187 Abgeordnete aus.
Welche Auswirkungen hat der Brexit auf Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen?
Für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen könnte die Mehrheitsbeschaffung im Post-Brexit-Parlament trotz Wachstum der eigenen Fraktion komplizierter werden. Denn die CDU-Politikerin ist bei Abstimmungen auf die Unterstützung von Liberalen und Sozialdemokraten angewiesen, deren Fraktionen beide geschrumpft sind.
Auf dem Papier hätte diese Dreierallianz zwar immer noch insgesamt 432 Sitze. Wie die britische "Financial Times" mit Blick auf historische Abstimmungsmuster, nicht anwesende Abgeordnete und fraktionsinterne Spaltungen erklärt, könnte die Mehrheit aber durchaus schnell auf nur 350 Sitze zusammenschrumpfen – für eine Mehrheit drei zu wenig. In dem Fall könnten wiederum die Grünen zum Königsmacher aufsteigen.
Welche Auswirkungen hat der Brexit auf die künftige EU-Politik?
London hat in zweierlei Sicht eine Sonderrolle eingenommen: Zum einen war es das EU-Mitglied mit den meisten Ausnahmeregelungen. So war Großbritannien nie Mitglied des Schengen- und des Euroraums. Zum anderen wollte es aber auch – oft zusammen mit den skandinavischen Ländern und der Niederlande – den EU-Binnenmarkt vertiefen, Freihandelsabkommen mit Drittstaaten ausweiten und London befürwortete eine EU-Erweiterung. Den genannten Mitgliedsländern fehlt nun ein zentraler Verbündeter.
Dazu ändert sich auch die Abstimmungsmechanik innerhalb des Staatesbundes: Im Rat der Europäischen Union, kurz Ministerrat, werden Beschlüsse mit einer doppelten Mehrheit verabschiedet. Das heißt, dass neben der Mehrheit der Mitgliedsländer auch die Mehrheit der repräsentierten Bevölkerung notwendig ist. Mit dem Austritt des bevölkerungsreichen Großbritanniens wird deshalb auch die Mehrheitsbildung im Ministerrat komplizierter, da es nun das Mitwirken viel mehr kleinerer EU-Mitgliedsstaaten braucht.
Ändert sich mit dem EU-Austritt Großbritanniens die Rolle Deutschlands?
Es ist nicht zu erwarten, dass Deutschland seine Rolle innerhalb der EU neu definiert.
Allerdings wächst wohl die Bedeutung und damit auch der Druck auf die Bundesregierung, bekommt doch die individuelle Stellung Deutschlands im Ministerrat in jedem Fall mehr Gewicht. Zudem dürfte auch die Vermittlerposition Deutschlands – wie auch anderer großer Mitgliedsländer wie Frankreich und Polen – "gestärkt werden", schreiben die drei Politologen Narisong Huhe, Daniel Naurin und Robert Thomson in einem Beitrag für die London School of Economics. Die Wissenschaftler haben die bisherigen Verhandlungen innerhalb des Ministerrats analysiert. Auf Basis dessen glauben sie, dass die drei genannten Länder "noch attraktivere Kooperationspartner" werden.
Der polnische und in Großbritannien lehrende Politikwissenschaftler Jan Zielonka warnt aber in einem Gastbeitrag bei "Zeit Online": "Deutschlands Größe und Macht wird mit dem britischen Austritt wachsen, was bekannte Vorbehalte heraufbeschwören wird." Kleinere Mitgliedstaaten könnten sich gerade wegen der vergrößerten Dominanz verbünden oder querstellen.
Schwächt der Brexit die EU international?
"Der Austritt Großbritanniens wird nicht eines der aktuellen Probleme der EU lösen, er wird lediglich neue hinzufügen", schreibt Politikwissenschaftler Zielonka. Fakt ist zudem: Die Staatengemeinschaft verliert mit Großbritannien ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsapparat mit Veto-Recht, eine Atommacht und ein EU-Mitglied mit umfangreichen militärischen wie geheimdienstlichen Fähigkeiten.
Ob die EU aber tatsächlich geschwächt aus dem Brexit hinausgeht, hängt davon ab, wie eng Großbritannien weiterhin mit Europa in sicherheits- und außereuropäischen Fragen kooperiert und wie konfliktfrei die weitere Trennung in und nach der nun begonnenen Übergangsfrist abläuft. Ein gut organisierter Ablauf würde die Wahrnehmung der EU als internationaler Akteur sogar erhöhen. Vor allem vor dem Hintergrund des enormen Zeitdrucks, nun innerhalb von elf Monaten das künftige Verhältnis zwischen der EU und London neu zu regeln.
Verwendete Quellen:
- Meldungen der Nachrichtenagentur AFP
- "Financial Times": "How life after Brexit will get uncomfortable for Von der Leyen"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Großbritanniens Rolle innerhalb und außerhalb der EU"
- EUROPP – European Politics and Policy: "The impact of Brexit on the politics and policies of the European Union"
- "Zeit Online": "Der politische Preis des Brexits"
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