Die Unterschiede zwischen dem Osten und Westen Deutschlands verschwinden immer mehr. Trotzdem gibt es 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch Verlierer – und zwar beiderseits der einstigen Grenze.

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Euphorie spricht aus den Bildern des abendlichen 9. Novembers 1989. Ost- und Westdeutsche liegen sich an der einst innerdeutschen Grenze im Trabi-Qualm in den Armen. Die Mauer ist gefallen, die Grenzen sind offen, 328 Tage später ist Deutschland wiedervereint. Und drei Jahrzehnte später?

Es herrscht Ernüchterung im Land und Katerstimmung, manche Gräben sind neu entstanden, andere Barrieren nie verschwunden. Ein Drittel der Ostdeutschen gab im Sommer bei einer Allensbach-Umfrage im Auftrag der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" an, im vereinten Deutschland noch nicht angekommen zu sein. Erst kürzlich sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: "Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute nicht gehört, geschweige denn verstanden."

Im Alltag verschwinden die Unterschiede zwischen Ost und West augenscheinlich immer mehr. Die meisten Städte und Dörfer haben sich nach dem Verfall herausgeputzt. In die Restaurierung der oft maroden Altstädte zwischen Kap Arkona und dem Süden Thüringens sind nach 1989 Milliarden an Städtebaufördermitteln geflossen. Ein Großteil der Straßen, Schulen, öffentlichen Gebäude sind saniert.

Selbst die Arbeitslosigkeit ist im Osten deutlich zurückgegangen, die Einkommen und Renten sind im Durchschnitt gestiegen und damit die Zufriedenheit der eigenen finanziellen Lage. "Die Situation im Osten ist viel besser als ihr Ruf", sagte der Ostbeauftragte der Regierung, Christian Hirte, gerade erst der Deutschen Presse-Agentur. Am Mittwoch stellte er den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit vor. "Unterm Strich gibt es eine extrem positive Entwicklung." Doch trotzdem spürt ein Viertel der Ostdeutschen große Unterschiede bei den Lebensverhältnissen.

Einkommen im Osten ist gestiegen - doch die Kluft ist noch groß

Dieses Gefühl belegen Zahlen. Zwar hat sich das verfügbare Einkommen in den rund 30 Jahren in Ostdeutschland mehr als verdoppelt. Trotzdem liegt das durchschnittliche Einkommen laut Bundesagentur für Arbeit in Westdeutschland bei 3434 Euro brutto im Monat, im Osten erhält der Arbeitnehmer mehr als 700 Euro weniger: 2707 Euro brutto. Das Verdienst-Schlusslicht ist der sächsische Landkreis Görlitz. Vollzeitbeschäftigte erhalten dort durchschnittlich 2272 Euro brutto im Monat. Zum Vergleich: In der Audi-Metropole Ingolstadt gehen die Menschen mit mehr als doppelt so viel Gehalt nach Hause: 4897 Euro brutto.

Generell nähert sich das verfügbare Einkommen der Ost- und Westdeutschen aber immer mehr an. Im Osten habe es laut dem Jahresbericht der Regierung einen massiven Aufholprozess gegeben. Löhne und Renten seien überproportional angestiegen, das Einkommen sei wegen der niedrigeren Lebenshaltungskosten auf einem vergleichbaren Niveau mit dem Westen.

Boomende Regionen gibt es zudem auch in Ostdeutschland, zum Beispiel die Städte Leipzig, Dresden und Jena. In der thüringischen Universitätsstadt verdienen die Menschen im Schnitt mehr als in Cloppenburg, dem westdeutschen Kreis mit dem niedrigsten mittleren Lohn mit 2609 Euro brutto pro Monat.

Kaufkraft: Ost und West nähern sich an

Am Ende einer anderen Statistik stehen die neuen Bundesländer allerdings beim Thema Kaufkraft, nur Bremen reiht sich auf Platz zwölf hinter Brandenburg, Berlin und vor Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ein. Knapp 19.000 Euro stehen den Menschen dort zur Verfügung, Hamburger und Bayern haben 6000 Euro mehr.

Die Differenz liegt zwischen Ost und West pro Person bei 104 Euro im Monat, etwas weiter klafft dagegen mit 121 Euro die Stadt-Land-Lücke auseinander.

Parallel gleichen sich in Ost- und Westdeutschland die Preise für Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Hausrat an. Experten schätzen, dass das Leben im Osten nur noch 10 bis 15 Prozent billiger ist als im Westen. Jena ist die erste ostdeutsche Stadt, die bei diesen Ausgaben zum Lebensunterhalt etwa auf bundesweitem Durchschnittsniveau liegt, Erfurt und Dresden folgen mit leichtem Abstand.

Am teuersten ist das Leben übrigens in Hamburg und Berlin, wo die Menschen zum Beispiel für die Miete knapp die Hälfte ihres Einkommens aufbringen müssen. Ost-West-Unterschiede gibt es selbst in der Bundeshauptstadt: In West-Berlin liegen die Mieten bei 7,27 Euro pro Quadratmeter, im Osten bei 6,58 Euro. Generell gilt, dass Wohnraum im Osten erschwinglicher ist als im Westen. Dort liegt das mittlere Vermögen mit knapp 100.000 Euro allerdings auch viermal höher als in der ehemaligen DDR

"Abgehängtes" Ruhrgebiet

Es gibt aber nicht nur im Osten sogenannte "abgehängte" Regionen. Gerade wirtschaftlich sieht es auch um Duisburg, Essen, Gelsenkirchen sowie um die Emscher-Lippe-Region düster aus, wie es die Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln beschreibt. Diesen westdeutschen Kommunen machen eine hohe Arbeitslosenquote, geringe Produktivität und eine starken Verschuldung privater Haushalte zu schaffen. So verfügte ein durchschnittlicher Haushalt in Gelsenkirchen zuletzt über 1350 Euro im Monat, der NRW-Schnitt liegt 450 Euro höher. Die Arbeitslosenquote ist in Gelsenkirchen mit 11,5 Prozent fast doppelt so hoch wie der Durchschnitt des Kohle-Bundeslands (6,7 Prozent).

Zum Vergleich: Die Arbeitslosigkeit im Osten liegt bei durchschnittlich 6,9 Prozent, in Westdeutschland bei 4,8 Prozent. Lediglich einige Teile Thüringens und Sachsens erzielen bessere Zahlen bei der Arbeitslosenquote als einige Schlusslichter in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, dem Saarland und Bremen. Denn 40 Jahre sozialistische Planwirtschaft wirken nach. Große Betriebe brachen nach der Wende weg. Fast 80 Prozent der Erwerbstätigen verloren ihren Job, ergaben Schätzungen. Das Rückgrat ostdeutscher Wirtschaft sind heute kleine und mittelständische Betriebe.

Ostdeutsche arbeiten länger, verdienen aber weniger

"Noch kein ostdeutsches Flächenland hat die Produktivität des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Produktivität – dem Saarland – erreicht", heißt es in der Veröffentlichung "Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall" des IWH. Die Gründe sind vielfältig: Unter den 500 deutschen umsatzstärksten Unternehmen finden sich nur 16 in den fünf neuen Ländern. Ein weiteres Problem fehlender Konzerne mit gut bezahlten Industriearbeitsplätzen ist, dass Mittelständler selten Tarif zahlen. Gleichzeitig arbeiten die Beschäftigten in Ostdeutschland immer noch länger als im Westen – und verdienen dabei weniger. So entsteht auch das Gefühl, "Bürger zweiter Klasse" zu sein.

Im vergangenen Jahr kamen Arbeitnehmer in den alten Bundesländern im Schnitt auf 1295 Arbeitsstunden, im Osten mussten die Menschen 56 Stunden länger arbeiten. Arbeitsstunden-Spitzenreiter mit 1373 Stunden ist Sachsen-Anhalt, die meiste Freizeit haben dagegen die Arbeitnehmer im Nordrhein-Westfalen. Sie kommen auf 1276 Arbeitsstunden. Auch diese Unterschiede machen es Rückkehrern schwer, einen Neustart in ihrer alten Heimat anzugehen. Seit 1990 ging die Bevölkerung in Ostdeutschland um 2,2 Millionen Menschen zurück.

Gegangen sind die jungen, gut ausgebildeten Fachkräfte. Laut Statistischem Bundesamt kommen derzeit im Westen auf 100 Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren knapp 35, die 65 Jahre und älter sind. In Ostdeutschland sind es 44. Bis 2030 steigt die Differenz zwischen Ost und West auf 14 Personen.

Rente: Osten am Ende der Tabelle

Schlusslichter bei den Renten sind laut Statistik der Deutschen Rentenversicherung ebenfalls die ostdeutschen Länder, außer Ost-Berlin. Ganz hinten liegt Thüringen mit 1102 Euro nach 35 Versicherungsjahren. Im Saarland haben die Ruheständler über 200 Euro mehr im Schnitt.

Während die Menschen in Westdeutschland über hohe Mieten, Lebenshaltungskosten, Verkehrsdichte und einen unzureichenden ÖPNV klagen, monieren die Ostdeutschen - neben fehlendem Nahverkehr - Ärztemangel, den Wegzug der ausgebildete Arbeitskräfte und die Unattraktivität der eigenen Region. Die große Mehrheit ist überzeugt, dass die beruflichen Chancen für junge Menschen im Westen immer noch besser sind als im Osten. Doch wo die Jungen gehen, geht eben auch die Zukunft.

Ostbeauftragter: "Das wollen wir künftig stärker fördern"

Doch eine positive Nachricht dazu gibt es noch: Laut dem Ostbeauftragten Hirte ist die Geburtenrate im Osten höher, außerdem ziehen seit 2017 mehr Menschen aus dem Westen in den Osten, als umgekehrt. Daher gebe es eine gute Entwicklung im Mittelstand. "Dort wachsen Unternehmen überdurchschnittlich stark. Genau das wollen wir künftig stärker fördern." Außerdem dürfe sich der Staat künftig nicht großflächig aus ländlichen Regionen zurückziehen und müsse mit den Bürgern ins Gespräch kommen.

Dennoch: 30 Jahre nach dem Mauerfall sind Trabi-Qualm und Euphorie verflogen. Das neue ostdeutsche (Identitäts-)Gefühl begründet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auch damit, dass die Geschichten der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen noch kein selbstverständlicher Bestandteil eines gemeinschaftlichen Wir-Gefühls geworden sind. 30 Jahre nach dem Mauerfall sei es aber höchste Zeit, das zu ändern, damit sich wirklich alle gleich fühlen.

Verwendete Quellen:

  • Kaufkraft-Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 2018
  • Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2019
  • Teilhabeatlas Deutschland 2019
  • Bundesagentur für Arbeit
  • Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2018
  • Wirtschaftshistorische Studie des Ifo-Instituts Dresden zu Bevölkerungsrückgang
  • Integrations-Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung unter Leitung der Soziologin Naika Foroutan
  • IWH-Studie "Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall"
  • dpa-Meldung: "Ostbeauftragter: Situation im Osten viel besser als ihr Ruf"
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