Der Corona-Erklärer der Nation hat nach langem öffentlichen Schweigen ein Buch zur Pandemie herausgegeben. Im Diskurs mit dem Journalisten Georg Mascolo blickt Christian Drosten zurück auf die strittigsten Fragen der Krisenjahre – und auf seine Rolle darin.

Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Martin Rücker (RiffReporter) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Auf Seite 41 kommt die Diskussion erstmals auf das Thema Schulschließungen. Auf Seite 51 hält Christian Drosten fest: "Man hätte wohl die Schulen nicht schließen müssen" – und noch einmal 30 Seiten später benennt er den Fokus auf Schulen als "entscheidenden Fehler der deutschen Pandemiepolitik".

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Der Charité-Professor – Volksheld für die einen, Reizfigur für die anderen – hat eine Retrospektive der Corona-Krise vorgelegt, angelegt als Gespräch mit dem früheren "Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo. "Alles überstanden?", heißt das Buch.

Dass die Schul-Lockdowns in den Jahren 2020 und 2021 viel Raum darin einnehmen, verwundert kaum: Sie sind eng mit dem Virologen verbunden. "Drosten, der Schulschließer", beschreibt Mascolo ein verbreitetes Bild. Der Angesprochene will es nicht stehen lassen – und schildert seine Sicht auf die Abläufe.

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Bereits im Januar 2020 ist der Experte für Coronaviren in der Politik ein gefragter Mann: Zuerst im Auswärtigen Amt, schnell auch im Vier-Augen-Gespräch bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Vertrauliche Runden im Kanzleramt sollen sich in den folgenden Monaten wiederholen – wer dabei ist und was genau besprochen wird, dringt nicht nach draußen.

Am 11. März 2020 ist es Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der Drosten gemeinsam mit Lothar Wieler, dem damaligen Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI), zu einer Brotzeit ins Ministerium lädt und nach einem "Worst-Case-Szenario" fragt.

"Die nüchtern formulierte Ankündigung eines möglichen Massensterbens"

Drosten skizziert horrende Infektionszahlen sowie eine hohe Sterblichkeit und warnt vor einer dramatischen Überlastung des Gesundheitssystems – so bestätigt er es in seinem Buch. Es ist die "nüchtern formulierte Ankündigung eines möglichen Massensterbens", umschreibt Mascolo. "Ein Szenario, keine Prognose", betont Drosten. Seine Botschaft: Man musste "gegensteuern" – "die Frage war nur, wie." Schulschließungen, so weit herrscht Konsens, hält Drosten im Laufe dieser Brotzeit im Innenministerium nicht für erforderlich.

"Solche Darstellungen durch Politiker ärgern mich bis heute."

Christian Drosten

Für den folgenden Tag, den 12. März, gibt es unterschiedliche Versionen. Es ist der Tag, an dem sich Merkel erstmals mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder berät. Drosten ist teilweise dabei – und er hat neue Erkenntnisse mitgebracht. "Schulschließung muss stattfinden", will Seehofer den Vortrag des Virologen verstanden haben, das Gegenteil seiner Einschätzung vom Vortag. Auch Manuela Schwesig, SPD-Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, gibt später zu Protokoll, dass offene Schulen "über Nacht" zur Gefahr geworden seien und Drosten das Schließen plötzlich empfohlen habe.

Der widerspricht im Gespräch mit Mascolo energisch. "Solche Darstellungen durch Politiker ärgern mich bis heute", sagt er. Richtig sei: Er habe in der Nacht vor jener Ministerpräsidentenkonferenz von einer Studie erfahren, die einen großen Effekt von Schulschließungen für das Eindämmen der Spanischen Grippe in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufzeigt.

Dies habe er der Kanzlerin und den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten berichtet. Befürwortet oder gar gefordert habe er Schulschließungen aber keineswegs. "Ich frage mich manchmal, ob Politiker wissenschaftliche Befunde mit verhandelbaren Positionen verwechseln", klagt er. "Die wissenschaftlichen Befunde können wir liefern, zu den Positionen aber müssen die Politiker gelangen."

Wollte Politik die Verantwortung für Entscheidungen abwälzen?

In jenem März habe gehandelt werden müssen und am effektivsten schienen entweder Schulschließungen oder weitreichende Maßnahmen an Arbeitsplätzen bis hin zur Homeoffice-Pflicht zu sein. Doch was davon in welchem Maße? "Das musste die Politik entscheiden", sagt Drosten – sie wählte die Schulen und verschonte die Betriebe. Inzwischen frage er sich, ob manche Spitzenpolitiker "die Verantwortung für ihre Entscheidungen auf mich abwälzen wollten".

Was für den Virologen spricht: Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) beschließt an diesem 12. März keine flächendeckenden Schulschließungen, sondern sieht sie punktuell als Option vor, für Regionen mit besonders hoher Inzidenz. Vorbild ist der stark betroffene nordrhein-westfälische Kreis Heinsberg, wo Kinder bereits seit Ende Februar 2020 zu Hause bleiben müssen.

Am Tag nach der MPK jedoch kündigt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) als Erster an, alle Schulen und Kitas des Freistaates von der folgenden Woche an dichtzumachen. Schnell ziehen andere Länder nach – so ist die Dynamik in der Anfangszeit dieser Pandemie.

Kinder waren kein "Treiber" der Pandemie

Doch Drosten wurde später auch zu einer Art Kronzeuge des Bundesverfassungsgerichts. Als die Richter Ende 2021 mehrere Verfassungsbeschwerden gegen Schulschließungen zurückwiesen, begründeten sie dies auch mit einer Stellungnahme des Charité-Forschers. Darin äußert er sich – allein aus Sicht seines Fachgebiets, der Virologie – deutlich weniger kritisch zu den Schulschließungen als andere Gutachterinnen und Gutachter, gleichwohl er bereits hier betont, dass "bei der politischen Verhandlungslage zwischen Arbeitsstätten, Freizeitwirtschaft und Schulen" das Pendel in Deutschland zulasten der Schulen ausgefallen sei. Andere Länder setzten auf weitgehendere Maßnahmen in anderen Bereichen, die dann für Schulen "mehr Operationsspielraum ließen".

Drosten lässt viel Verständnis für die damaligen Entscheidungen durchblicken, indem er erinnert, wie der Wissensstand zu dieser Zeit war: Zwar sei "keine Gruppe ein spezieller 'Treiber' der Pandemie", das virale Geschehen bei Kindern im ersten Corona-Jahr aber unklar gewesen. Kein Politiker habe sich "getraut, einfach mal zu testen, was passiert, wenn man die Schulen offen lässt."

Erst Ende 2022, deutlich nach der zweiten Runde der Schulschließungen Anfang 2021 also, hätten Studien klar gezeigt, dass auch Mittel wie Masken, die Einteilung in kleinere Gruppen, Quarantäne und Testungen das Infektionsgeschehen an geöffneten Schulen niedrig halten können.

Die Wissenschaft zur Beratung, die Politik für die Entscheidungen: Auf diese Rollentrennung legt Drosten großen Wert. Womit er einen Punkt hat – und zugleich vorführt, wie schwierig diese Trennung fällt, nicht zuletzt ihm selbst. Denn obwohl er von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlangt, beim Beschreiben von Fakten zu bleiben, anstatt sich politisch – also die Fakten gewichtend und Interessen abwägend – zu äußern, tut er doch genau dies. Etwa, wenn er für künftige Pandemien explizit fordert, dass eine Homeoffice-Pflicht und andere verbindliche Regeln für Arbeitsstätten "festgelegt werden müssen".

Kanzleramt plante Kompetenzverlagerung auf den Bund

Ein gemeinsamer Befund von Mascolo und Drosten lautet: Dass Deutschland gut durch die erste Welle gekommen ist, trug dazu bei, dass in der Folge vieles schiefging. Man habe gedacht, alles sei vielleicht schon überstanden oder jedenfalls gut in den Griff zu bekommen.

Als im Herbst 2020 die Winterwelle drohte, waren Kanzlerin und Ministerpräsidenten dann kaum noch in der Lage, sich zu verständigen. Mascolo enthüllt, dass das Kanzleramt damals aus Verzweiflung bereits Entwürfe eines "Corona-Wellenbrecher-Gesetzes" schreiben ließ: Ein Gesetz, das zwar keine Schul-, aber Restaurantschließungen sowie Kontaktbeschränkungen vorsah und dafür weitreichende Zuständigkeiten von den Ländern auf den Bund übertragen hätte. Es wurde nie verabschiedet.

Nach dem entspannten Sommer 2021, so die Deutung der Autoren, habe die Politik dann endgültig den richtigen Zeitpunkt für notwendiges Handeln verpasst. Sie holte es später in Form der 2G-plus-Regel umso drastischer nach und verspielte bei einem Teil der Gesellschaft noch den Rest an Vertrauen.

Die Ampel-Koalition schließlich zerstritt sich heillos über weitere Beschränkungen oder einen so betitelten "Freedom Day" – in einer Situation, in der eigentlich alles begründbar war: In der Erwartung einer Virusvariante nämlich, die, so Drosten, zwar "dreimal weniger krank macht, aber dreimal mehr Menschen infiziert".

"Aber Schweden …"

Die Bilanz des Virologen aus heutiger Sicht: Schulschließungen hätten geholfen, doch es wäre auch anders gegangen. Mit guter Evidenz lasse sich sagen, dass Ausgangssperren und Versammlungsbeschränkungen, verstärktes Homeoffice und Maskenpflichten, Gastronomieschließungen und Besuchssperren für Pflegeheime zur Eindämmung der Pandemie beigetragen hätten.

Keine Belege sieht Drosten für den Nutzen der Schließungen im Handel und der Hygieneregeln wie Lüften und richtiges Händewaschen, zu denen es schlicht an guten Studien fehle. Klar sei zudem: Die Politik habe handeln müssen. Er selbst habe anfangs angenommen, dass die Menschen nur aufgeklärt werden müssten und dann von allein das Richtige täten. Dies habe sich als Fehleinschätzung erwiesen.

"Das Einschreiten der [deutschen] Regierung war nach meiner Einschätzung nötig und hat hohe Todeszahlen verhindert."

Christian Drosten

"Aber Schweden …", beginnen spätestens da viele Einwände von Kritikerinnen und Kritikern der Maßnahmen. Auch darauf geht Drosten ein. Das vergleichsweise dünn besiedelte Land hat aus seiner Sicht ganz andere Voraussetzungen als Deutschland, dennoch habe es mit seinem liberalen Handeln in der ersten Welle eine deutlich höhere Sterblichkeit provoziert – und überdies seine Maßnahmen daraufhin erheblich verschärft. "Das Einschreiten der [deutschen] Regierung war nach meiner Einschätzung nötig und hat hohe Todeszahlen verhindert, die womöglich sogar diejenigen in Schweden übertroffen hätten", sagt Drosten.

Aussagekräftiger hält er den Vergleich mit Großbritannien. Dort zögerte die Regierung erst, griff in der ersten Welle schließlich einige Wochen später ein als Deutschland, dafür notgedrungen umso härter – und beklagte dennoch mehr Tote. In diesem Licht betrachtet der Virologe auch die im März 2020 entschiedenen Maßnahmen: Ohne sie, vermutet er, wären drei Wochen später die Intensivstationen überlastet gewesen und die Zahl der Todesfälle drastisch gestiegen. Statt Kritik am übergriffigen Staat würde heute etwas anderes im Zentrum der Debatte über die Bewertung der Corona-Politik stehen: Die Frage, warum der Staat seine Bevölkerung nicht ausreichend geschützt habe.

Hass bewegte Drosten zum zeitweisen Rückzug aus der Öffentlichkeit

Dass im Bemühen um den Infektionsschutz auch "echter Unsinn" geschah, sieht auch Drosten so: Die Pfeile, die Laufwege auf dem Boden von Cafés markierten, die behördlichen Jagden auf Jugendliche im Park – all das epidemiologisch nie begründet. Dennoch habe man auch solche Maßnahmen mit ihm verbunden, beklagt der Forscher: Es "trug damit zum regelrechten Hass bei, den manche mir gegenüber entwickelten".

Vor der Pandemie stand der Forscher nur wenig in der Öffentlichkeit. Als sein Fachgebiet plötzlich ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gelangte, wurde er zum Erklärer der Nation – bemerkenswerterweise vor allem mit seinem NDR-Podcast, der in langen Folgen differenziert auf die Studienlage blickte.

Kurz-und-knackig-Auftritte in Interviews und Talkshows machte er dagegen nur selten, anders als beispielsweise der SPD-Politiker und heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach oder der Bonner Virologe Hendrik Streeck. Irgendwann habe Drosten es, "geprügelt durch Angriffe in den Medien", sogar vermieden, öffentlich Position zu beziehen, als die Auseinandersetzungen innerhalb der Wissenschaft wieder einmal hochkochten: "Ich bin Familienvater, kein Spitzenpolitiker, ich habe keinen Personenschutz."

Aufarbeitung ja – aber bitte ohne Drosten selbst

Und heute? Der Bundestag wird wohl bald, mehr als vier Jahre nach dem ersten Lockdown, eine Kommission und womöglich einen Bürgerrat zur Aufarbeitung der Pandemie beschließen. Drosten hält das für nötig – aber nicht, um Teil dieses offiziellen Prozesses zu werden.

"Keinesfalls", sagt er, wie am besten gleich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in Deutschland an der Diskussion über Pandemiemaßnahmen beteiligt hatten, außen vor bleiben sollten. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Corona-Jahre könnte vielmehr "komplett aus dem Ausland" kommen, regt er an. Ein bedenkenswerter Vorschlag, will man Aufarbeitung nicht vor allem als Kampf um die Deutungshoheit verstehen, wer damals am meisten recht gehabt hat.

Eine Voraussetzung für eine gelingende Aufarbeitung: Transparenz. Auch das ist ein Thema im Buch, wenn zum Beispiel der Journalist Mascolo sein Unverständnis darüber äußert, warum das RKI die Protokolle seines Krisenstabes nicht einfach von sich aus öffentlich gemacht hat. Stattdessen klagte das Onlinemagazin "Multipolar", das Verschwörungstheorien nicht abgeneigt ist, die Dokumente frei und erhielt sie zunächst mit zahlreichen Schwärzungen.

Hoffnung auf Krebs-Impfungen

Schließlich richtet Drosten den Blick auf eine mögliche neue Pandemie. Er hofft, dass das "Impfvertrauen" bis dahin wieder steigt. Kommende Krebsimpfungen könnten hierfür einen entscheidenden Effekt haben, glaubt er. Denn auch in Zukunft könnte eine Pandemie nur mithilfe von Impfungen beherrschbar sein.

Dafür aber garantiert ohne Schulschließungen? Das könnte in weiten Teilen der Gesellschaft heute Konsens sein. Drosten geht da, ganz Wissenschaftler, nicht mit: "Die Aussage, dass man bei einer zukünftigen Pandemie die Schulen als Letztes schließen werde, ist (…) ziemlich gewagt. Stellen wir uns doch ein Virus vor, das speziell bei Kindern Folgeschäden auslöst. Kein Politiker würde in einem solchen Fall die Schulen bis zuletzt offen halten, im Gegenteil." Blind von Corona auf andere Viren der Zukunft zu schließen, "das geht nicht", sagt er.

Über das Buch

  • Christian Drosten, Georg Mascolo: Alles überstanden? Ein überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird. Ullstein-Verlag, 272 Seiten, 24,99 Euro.

Verwendete Quellen

Über RiffReporter

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