Schwere Erdbeben in Deutschland waren in der Vergangenheit sehr selten - doch es ist nicht ausgeschlossen, dass es erneut passiert. Ein Experte erklärt, wie hoch die Gefahr in Deutschland tatsächlich ist und wie gut wir auf den Katastrophenfall vorbereitet sind.
Im Februar 2023 erschütterte ein Beben der Stärke 7,8 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Über 57.000 Menschen kamen dabei ums Leben, allein in der Türkei verloren mehr als zwei Millionen Menschen ihr Zuhause. Solche Meldungen hört man immer wieder, allerdings nicht aus Deutschland. In Deutschland gelten Erdbeben dieser Stärke als extrem unwahrscheinlich. Als stärkstes Erdbeben der jüngeren Zeit gilt ein Beben im Jahr 1911 auf der Schwäbischen Alb, das wohl eine Stärke von 6,1 hatte.
Schwere Beben nur alle 200 Jahre in Deutschland
Die Erdbebengefährdung gilt hierzulande als gering – aber nicht als vernachlässigbar. Statistisch gesehen ereignen sich schwere Erdbeben wie damals 1911 in Deutschland rund alle 200 Jahre. Der Oberrheingraben von Basel bis Karlsruhe, die Niederrheinische Bucht, Köln, Albstadt-Scherzone, die Region südlich von Tübingen und die Gegend um Leipzig/Gera gelten als besonders gefährdet, doch auch hier gibt es Unterschiede. "Leipzig hat sicher eine geringere Gefährdung als die Niederrheinische Bucht oder der Oberrheingraben", erklärt Oliver Heidbach, Geophysiker am Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam.
Dass es in Deutschland überhaupt zu Erdbeben kommt, fernab von tektonischen Plattengrenzen, hängt mit Rissen und Schwächezonen im Untergrund zusammen. Die afrikanische Kontinentalplatte schiebt sich im Süden Europas kontinuierlich auf die eurasische. Über die Jahrtausende sind so die Alpen entstanden – und dieser Prozess dauert an. Wird die Spannung auf der eurasischen Platte zu groß, können die Risse und Schwächezonen in Deutschland reaktiviert werden und es kommt zu Beben.
Jedes Jahr ereignen sich wahrscheinlich Hunderte Beben in Deutschland. Wie viele genau, kann niemand sagen, denn von den allermeisten bekommen wir nichts mit. "Wir haben in Deutschland im statistischen Mittel zwei bis drei Erdbeben der Stärke 3 pro Jahr", sagt Heidbach. Diese Beben sind spürbar und mit der Erschütterung eines vorbeifahrenden Lasters vergleichbar. Beben der Stärke 1 kommen hingegen sehr viel häufiger vor, können aber nur mit empfindlichen Messgeräten wahrgenommen werden - und diese sind nicht überall in Deutschland platziert.
Erdbebengefährdung in Deutschland eher gesunken
2021 haben Experten des GFZ eine neue Karte zur Erdbebengefährdung in Deutschland vorgelegt. Danach kursierten Meldungen, dass Deutschland deutlich stärker von Erdbeben bedroht sei, als bislang angenommen. "Vergleicht man nur die Farben der Karten, wirkt es, als sei die Gefahr im Vergleich zu früher gestiegen", sagt Heidbach. "Aber das ist eine Fehlinterpretation."
Man könne die früheren Karten nicht mit der neuen von 2021 vergleichen, da unterschiedliche Methoden angewendet wurden. Tatsächlich liefert die neue Karte im Vergleich zu früheren keine fundamentalen Änderungen. "Die Gefährdung hat sich in den meisten Gebieten sogar leicht reduziert und nur in wenigen Regionen ein wenig erhöht", erklärt Heidbach.
Die Daten der neuen Karte gelten allerdings als wesentlich besser gesichert als früher. Für die neue Erdbebengefährdungskarte wurde der Beobachtungszeitraum deutlich verlängert und der Datenkatalog verbessert. "In Zusammenarbeit mit einem Historiker konnten wir eine Reihe von 'Fake-Erdbeben' identifizieren, die auf falsche Berichte zurückgehen und in früheren Berechnungen noch berücksichtigt wurden. Dadurch hat sich die Erdbebengefährdung in manchen Regionen verringert", sagt Heidbach.
Sehen Sie hier: Interaktive Karte zur Erdbebengefährdung in Deutschland
Geringe Erdbebengefährdung bedeutet nicht geringes Risiko
Neben der Erdbebengefährdung ist auch das Erdbebenrisiko eine wichtige Berechnungsgröße der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Während die Erdbebengefährdung die Wahrscheinlichkeit angibt, mit der ein Beben auftritt, beschreibt das Erdbebenrisiko, wie groß die zu erwartenden Schäden sind.
1964 kam es in Alaska beispielsweise zu einem Erdbeben der Stärke 9,2 – und damit zu einem der schwersten Beben überhaupt. Trotz der enormen Stärke gab es nur wenige Todesfälle. "Die Erdbebengefahr in der Region ist zwar sehr hoch, doch das Erdbebenrisiko gering - einfach, weil da oben kaum jemand lebt und keine großen Schäden zu erwarten sind", erklärt Heidbach.
Umgekehrt verhält es sich in Deutschland: Die Gefährdung ist zwar gering, das Risiko - je nach Region - jedoch hoch. Würde etwa in unmittelbarer Nähe eines Ballungszentrums wie Köln ein Beben der Stärke 6 in geringer Tiefe auftreten, hätte das wahrscheinlich enorme Schäden zur Folge. "Es ist nicht auszuschließen, dass so etwas passiert", sagt Heidbach, "aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering."
Entscheidend für das zerstörerische Ausmaß eines Bebens ist daher nicht nur die Stärke, sondern auch die Tiefe und die Entfernung zu Infrastruktur. "Das Beben in der Türkei Anfang des Jahres war so verheerend, weil die Distanz zur Stadt so gering war. Hätte sich das Beben 50 Kilometer weit entfernt ereignet, wäre der Schaden deutlich geringer ausgefallen."
Können Erdbeben vorhergesagt werden?
Dass sich ein Erdbeben dieser Stärke in der Türkei ereignen würde, haben die Wissenschaftler des GFZ vorhergesehen. "Beim Ort und der Stärke sind wir mittlerweile sehr gut", sagt Heidbach. "Nur den Zeitpunkt kannten wir nicht." Wissenschaftler arbeiten daran, den Zeitpunkt von Erdbeben frühzeitig vorhersagen und Städte rechtzeitig evakuieren zu können. Doch bislang gebe es keine belastbaren Methoden, um den genauen Zeitpunkt eines Bebens zuverlässig zu bestimmen. "Uns fehlt der Zugang zum Ort des Geschehens", erklärt Heidbach.
Denn Erdbeben beginnen in großer Tiefe, zehn und mehr Kilometer unter der Erdoberfläche. Sensoren so tief in der Erde zu platzieren, wäre nicht nur extrem teuer, sondern auch gefährlich, denn die Bohrung könnten ihrerseits Beben auslösen. Andere Beobachtungen, wie zum Beispiel Hunde, die vor Beben bellen oder Ameisen, die das Weite suchen, seien wissenschaftlich nicht belastbar. "Ich bezweifle, dass wir in naher Zukunft den Untergrund so genau kennen werden, dass wir eine verlässliche Vorhersage machen können", sagt Heidbach.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich ein Beben der Stärke 6 in Deutschland ereignet, sieht Heidbach Deutschland aber ausreichend gut gewappnet. "Wir haben eine sehr gute Erdbebenbaunorm und wir haben einen sehr guten Katastrophenschutz, der auch auf den Fall eines Bebens vorbereitet ist", sagt Heidbach. "Da ist Deutschland mit Sicherheit im Vergleich zu anderen Ländern auf einem hohen Niveau."
Erst kürzlich wurde bekannt, dass im Oktober 2024 erstmals auf deutschem Boden eine internationale Katastrophenübung den Ernstfall eines schweren Erdbebens simulieren wird. In den USA oder Japan werden solche Szenarien jedes Jahr trainiert. In Deutschland lohne sich dieser Aufwand jedoch kaum. "Sie und ich werden ein schweres Beben sehr wahrscheinlich gar nicht erleben, während das in Kalifornien durchaus der Fall ist", sagt Heidbach.
In Deutschland versucht man sich vor allem durch erdbebensicheres Bauen zu schützen. Die Erkenntnisse der Geophysiker bilden dafür die Grundlage. Wie sich die jüngsten Erkenntnisse der Erdbebengefährdungskarte von 2021 in der Baunorm niederschlagen werden, wird derzeit noch diskutiert. Für Talsperre oder Kernkraftwerke sind die Anforderungen generell deutlich höher als etwa für Wohnhäuser.
Ein Kernkraftwerk muss einem Beben der Stärke über 7 standhalten, auch wenn ein solches Beben in Deutschland extrem unwahrscheinlich ist. Der Aufwand sei allerdings zu groß, um alle Gebäude in Deutschland so sicher zu bauen. "Das stünde in keinem Verhältnis zur geringen Wahrscheinlichkeit", sagt Heidbach.
Welches Risiko bergen Bergbau, Geothermie und Gasförderung?
Doch könnte die Erdbebengefährdung in Deutschland in Zukunft durch Bergbau, geothermische Bohrungen oder Gasförderung zunehmen? Grundsätzlich könnten Bohrungen Beben auslösen, erklärt Heidbach. Durch den Kohlebergbau im Ruhrgebiet habe es beispielsweise immer wieder kleinere seismische Ereignisse gegeben. Die Stärke dieser seismischen Ereignisse sei in der Regel unter 3 geblieben. "Das kann man spüren, das fühlt sich nicht gut an", sagt Heidbach. "Aber im Vergleich zu dem Beben in der Türkei mit einer Stärke von 7,8 ist die Energie dieser seismischen Ereignisse mit einer Stärke von 2,8 um den Faktor 30 Millionen geringer."
In der Geschichte Deutschlands gebe es nur wenige durch Menschen induzierte Beben, die tatsächlich Schäden verursacht haben. Das schwerste Ereignis traf 1989 Völkershausen in Thüringen. Der Einbruch eines Kali-Bergwerks löste damals ein Beben der Stärke 5,6 aus. Menschen kamen dabei nicht ums Leben, aber es entstanden Gebäudeschäden in Höhe von rund 40 Millionen DDR-Mark. Sorge vor schweren Beben durch Gasförderung oder Geothermie müsse man also nicht haben, sagt Heidbach. "Ein Restrisiko bleibt immer - aber bei der Verbrennung von Kohle und Gas sterben mehr Menschen an der Feinstaubbelastung als durch seismische Ereignisse, die von Menschen verursacht werden."
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit Prof. Oliver Heidbach vom GFZ Potsdam
- Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: "Geologische Gefahr: Erdbeben"
- Aufsatz im Journal "Bautechnik", 2020: "Unterschiede, Beziehungen und Gemeinsamkeiten der Erdbebenkarten nach bisherigem und neuem Nationalen Anhang zum Eurocode 8"
- GFZ: Interaktive Karte zur Erdbebengefährdung in Deutschland
- SWR aktuell: "Baden-Württemberg richtet internationale Katastrophenschutzübung aus"
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels wurde die Stärke des Erdbebens auf der Schwäbischen Alb im Jahr 1911 falsch angegeben. Wir haben das korrigiert.
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