Wir haben April. Seit dem 24. Februar geben sich Politiker aller Parteien die Klinke bei emotionalen Statements in die Hand, in denen sie mal mehr, mal weniger überzeugend den Angriffskrieg von Wladimir Putin gegen die Ukraine "auf das schärfste" verurteilen oder zum sofortigen Stopp des Krieges aufrufen. So romantisch die Vorstellung auch ist, Putin würde in seinem Atombunker sitzen und nach dem 200. Tweet denken "ach du Scheiße, der Westen appelliert aber ganz schön flächendeckend, dass ich aufhören soll, dann höre ich mal besser auf": Das wird nicht passieren.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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"Auf das Schärfste verurteilen" ist auch nicht die Messlatte, an der unsere verantwortlichen Spitzenpolitiker sich orientieren dürfen. Die nette Nachbarin im Haus nebenan oder der süße Kellner im Café an der Ecke können empört sein und verurteilen. Von unserer Regierung erwarte ich, dass sie handelt. Vielen agiert sie zu zaghaft, zu langsam, zu wenig konsequent. Viele dieser Kritikpunkte scheinen inzwischen valide, das wurde diese Woche leider erneut offenbart.

Was denn jetzt, Olaf Scholz?

Nun bin ich weder Politikerin noch Expertin für Außenpolitik. Wenn man so will, bin ich für gar nichts Expertin, was in einer Kriegssituation wie dieser von erhöhter Relevanz wäre. Aber ich kann beobachten und ich kann beurteilen, was ich sehe und lese und erlebe – und ich kann mir eine Meinung bilden. Die fällt aktuell sehr enttäuscht aus.

Das beginnt beim Auftritt von Olaf Scholz bei Anne Will. Angesprochen auf das dieser Tage stündlich an Relevanz gewinnende Thema eines Embargos, bei dem man auf Energie aus Russland verzichten würde, die nach wie vor geschätzte 700 Millionen Euro pro Tag in die Staatskasse Russlands spült, gab sich der Kanzler zwar erfreulich vehement und entschlossen, gleichzeitig aber auch sehr wissenschaftsfern.

Zahlreiche hochrenommierte Wirtschaftswissenschaftler hatten berechnet, dass ein sofortiger und kompletter Verzicht auf russische Energie zwar schwerwiegende Auswirkungen auf die Versorgungssituation in Deutschland und insbesondere den Industriestandort haben würde, dass wir mit unterschiedlichen Methoden und ernst zu nehmenden Bemühungen bei der Überbrückung dieser Ausfälle einen nachhaltigen Schaden abwenden könnten. Mit anderen Worten: Es wäre möglich, sofort auf russische Energie zu verzichten. Man muss es nur ernsthaft wollen. Olaf Scholz will es nicht.

Das ist insofern etwas irritierend für mich, als dass in den vergangenen zwei Jahren (aus meiner Sicht zurecht) bei der Frage nach Corona-Maßnahmen und -Impfungen gebetsmühlenartig darauf hingewiesen wurde, man solle sich doch bitte schön den Experten, also konkret den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dieses Fachgebietes, zuwenden und nicht irgendwelchen halbseidenen Theorien. Den Hinweis darauf, dass es diese Stimmen vermehrt gäbe, mit einem brüsken, aber dafür wenig wissenschaftlichen "die liegen falsch" abzukanzeln, ist in diesem Kontext dann durchaus bemerkenswert.

Andrij Melnyk

Ukraine-Botschafter: Steinmeier hat Spinnennetz an Russland-Kontakten

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat nach Ansicht des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, eine höchst bedenkliche politische Nähe zu Russland.

Zerbricht Europa an fehlgeleiteten Freiheits-Demagogen?

Während also in Frankreich wichtige Wahlen anstehen und die vermutlich einzige ernst zu nehmende Konkurrentin von Präsident Emmanuel Macron die rechtspopulistische Marine Le Pen ist, die bis vor Kurzem noch ausgiebig und gerne mit Putin kuschelte, und also zu erwarten ist, dass Frankreich nach einem Wahlsieg dieser Gesinnung Europa zerstören und Russland hofieren würde, drehen sich im Regierungsviertel in Berlin die Gedanken nach wie vor lediglich darum, so wenig auch hier bei uns spürbare Sanktionen und Maßnahmen einzuleiten, wie es nur irgendwie geht.

Verständlich, dass viele Ukrainer das ratlos zurücklässt. In ihrem Land sterben täglich Zivilisten unter russischem Bomben und inzwischen auch Kugelhagel. Sie können nur mit sehr gedrosseltem Verständnis hinnehmen, dass vielen Menschen (auch denen, die am 24. Februar flugs ihr Profilbild in die ukrainischen Farben Gelb und Bau gehüllt hatten) und ihren begleitenden Steigbügel-Journalisten (übrigens größtenteils ausgerechnet denen, denen auch schon die Corona-Maßnahmen zu viel und Christian Drosten ein Dorn im Auge waren) den öffentlichen Diskurs weiterhin konsequent auf Nebenkriegsschauplätze umleiten. Dass in Deutschland ernsthaft die Frage, ob ein temporäres Tempolimit die Freiheit der Deutschen so nachhaltig einschränken würde, dass es auf alle Zeiten undenkbar bleiben sollte.

Interessant an dieser Stelle ist übrigens auch, dass genau diese Protagonisten mit ihren defekten Freiheits-Gedanken uns mittlerweile täglich mit dutzenden ihrer immer gleichen Aufmerksamkeits-Notrufen langweilen und nicht müde werden, zu betonen, Verbote würden nichts regeln. Eigenverantwortung und Freiheit wären die höchsten Güter, vor allem in der Krise. Dass pauschales Ausschließen von neuen Regeln in unvorhergesehenen Extremzeiten noch viel schlimmere Verbote, nämlich Denkverbote sind, auf diese Idee kommen sie im Verdrängungskampf gegen die sich abzeichnende eigene Bedeutungslosigkeit nicht.

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Russland begeht Kriegsverbrechen in Serie

Und so fallen in der Ukraine weiter russische Bomben als Vorboten täglicher Kriegsverbrechen. Dieses Wochenende mit einem weiteren vorläufigen Höhepunkt in Butscha, wo die russische Armee bei ihrem Abzug ein Bild des Grauens hinterließ. Die Leichen von unbewaffneten Zivilisten übersähen die Straßen. Erschossen beim Fahrradfahren oder Spazierengehen. Achtlos auf der Straße liegengelassen. Kriegsverbrechen, wie sie eindeutiger nicht dokumentiert werden könnten.

Selbstverständlich ist die Elite der Putinversteher sofort in Alarmbereitschaft und wirft sich, bewaffnet mit viel Zeit, wenig Skrupeln und einer Tastatur, rettend vor die russischen Verbrechen. Die Bilder wären Fakes, liest man da. Putins Armee würde einen gezielten Militärschlag von chirurgischer Präzision durchführen, bei dem selbstredend kein einziger Zivilist zu Schaden kommen würde.

Eine Trottel-Armee speichelleckender Pro-Putin-Trolle, die sich als verlängerter Arm des Desinformations-Ungeheuers Russland zu Mittätern machen. Dass die russische Botschaft in Berlin diese Fake-News verbreitet, ist zwar niederträchtig und menschlich unfassbar, aber leider erwartbar. Wie viele Menschen, die – anders als in ihrem Sehnsuchtsort Russland – frei auf alle Informationen zugreifen und es also mit ein wenig Recherchebemühungen innerhalb kürzester Zeit besser wissen könnten, ebenfalls die russischen Lügenmärchen aus Tausend und einer Kriegsnacht verbreiten, sollte als wirklich bedenklich eingestuft werden. Erneut zeichnet sich ab, dass frei erfundene alternative Fakten tatsächlich eine Chance haben, wenn man sie nur penetrant und laut genug repetiert.

Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges

Marie-Agnes Strack-Zimmermann übrigens, und ich gelte mit Sicherheit nicht als eine glühende Verehrerin der FDP, fand einzigartig passende Worte für den Versuch der russischen Botschaft, die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha als Lügen zu deklarieren: "Verschonen Sie uns mit Ihren menschenverachtenden Lügen und wagen Sie es nicht, mich zu markieren. Der Tag wird kommen, an dem Putin & seine Schergen, also auch Sie, sich für diese grausamen und massiven Kriegsverbrechen in Den Haag verantworten müssen. Sie gehören ausgewiesen." Besser kann man es nicht sagen. Unmissverständlicher auch nicht.

Der Gedanke alleine, die Leichen auf den Straßen von Butscha wären eine hollywoodreife Inszenierung zur Anti-Russland-Propaganda ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Ja, klar, wir alle kennen den Film "Wag The Dog" und das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Aber von der warmen und sicheren Couch aus Kriegsverbrechen zu leugnen, während Journalisten wie Thore Schroeder oder Paul Ronzheimer live von vor Ort alles lückenlos dokumentieren, ist weder heldenhaft noch in irgendeiner Weise entschuldbar.

Wer Menschenverachtung und Morde an der Zivilbevölkerung leugnet, macht sich zum Steigbügelhalter eines ekelhaften Krieges. Man sollte sich sehr genau überlegen, wie weit man bereit ist zu gehen, um seiner perversen Lust, immer dagegen zu sein, Futter zu geben.

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