Auf die Doppel-Sechs? In die Halbspur? Auf die Zehn? Oder doch sogar auf die Bank? Ilkay Gündogan hat in der veränderten Ordnung der Nationalmannschaft seine ideale Position noch nicht gefunden. Der Kapitän gilt als Wackelkandidat. Zu Recht?
"The Radar" ist die Tage erschienen, eine Art Scoutingbericht der renommierten Redaktionen der "New York Times" und "The Athletic". Insgesamt 50 Spieler haben sich die Redakteure und Datenexperten vorgenommen und in die Liste gepackt, Routiniers vor ihrem vermeintlich letzten Turnier ebenso wie aufstrebende Stars und Sternchen.
Aus jeder der 24 Mannschaften wurde wenigstens ein Spieler ausgewählt und analysiert, bei der deutschen Nationalmannschaft sind es sogar drei:
Wahrscheinlicher ist aber, dass
Gündogan zuletzt eher unauffällig
Mit dem Stimmungsumschwung in der deutschen Nationalmannschaft seit den Siegen im März gegen Frankreich und die Niederlande und der damit erzeugten Vorfreude auf die Europameisterschaft im eigenen Land wird Gündogan jedenfalls nur als Randfigur in Verbindung gebracht. Als einer, der auch mit dabei ist. Die entscheidenden Akzente setzen die anderen.
Ist das nur logisch, weil der Kapitän der Mannschaft innerhalb der Mannschaft nicht mehr diese besonders spektakuläre Rolle einnimmt oder ungerecht? Welche Rolle ist für den 33-Jährigen eigentlich die richtige? Und wird Gündogan so kurz vor dem Start ins EM-Turnier und womöglich auch in dessen Verlauf nun zum Luxusproblem oder zu einem veritablen Dilemma für
Diese Fragen sind schwer zu beantworten, weil es Argumente für alle Seiten und Betrachtungsweisen gibt. Im Herbst, als die Nationalmannschaft schlechten Fußball spielte und teilweise eklatante Probleme offenbarte, war Gündogans Rolle noch einigermaßen klar: In einer verunsicherten Mannschaft war er noch einer der Wenigen, die dagegenhalten wollten und konnten. Freilich mit überschaubarem Erfolg bei den beiden Niederlagen gegen die Türkei und Österreich. Damals war Gündogan noch auf der Doppel-Sechs an der Seite von Joshua Kimmich und Leon Goretzka unterwegs.
Das Schicksal aller drei Spieler hat sich seitdem gewandelt: Gündogan und
Sechs der damals noch eingesetzten Spieler sind jetzt nicht mehr dabei. Andere spielen auf zum Teil völlig anderen Positionen:
Kroos-Rückkehr erzeugt Veränderung
Ilkay Gündogan hat sein Trainer ebenfalls zwei Linien höher geschoben. Auf die Position hinter dem zentralen Angreifer, als Verbindungsstelle zwischen Mittelfeld und Sturm. Hier soll Gündogan seine immer noch unbestritten großen Stärken einbringen. Auch, weil sich die Positionen dahinter nun andere aufteilen:
Es war schlicht kein Platz mehr für Gündogan auf jenen Positionen, die er in seinen Klubs in Manchester und beim FC Barcelona jahrelang auf Spitzen- oder Weltklasseniveau ausgefüllt hatte. Von denen aus er das Spiel an sich reißen und lenken konnte, Angriffe mit einem kleinen Pass vors Ziel steuerte und auch eine enorme Torgefahr ausstrahlte.
Spätestens mit Kroos' Rückkehr in die Nationalmannschaft hat sich die Ausgangslage fundamental verändert. Kroos ist der große Taktgeber des deutschen Spiels aus seiner tiefen Position heraus, Andrich sein Adjutant und Aufpasser, der Mann fürs Grobe. Musiala und Wirtz fühlen sich in den besonders engen Räumen wohl, der eine mit seinen schlangenhaften Bewegungen, der andere als Kombinationsspieler.
Die spektakulären Aktionen gehörten zuletzt Wirtz und Musiala, wenngleich die beiden Youngster in einigen Aktionen noch eine Spur zu verspielt (Wirtz) und zu eigensinnig (Musiala) waren. Auffällig sind aber beide – was man von Gündogans letzten Auftritten auf der nicht minder wichtigen Position auf der Zehn nicht behaupten kann.
Passt Gündogan auf die Zehn?
Wenn Kroos die Angriffe initiiert, sind seine beiden Innenverteidiger und die offensiven Halbraumspieler Wirtz und Musiala die häufigsten Passempfänger. Gündogan aber nicht, obwohl - oder weil? - der im Zentrum des deutschen Angriffsspiels steht. Eine Idee des sehr variablen deutschen Ballbesitzspiels ist es, den Gegner über die Außenbahnen oder die Halbräume zu öffnen. Also dort hinein zu spielen, die Verschiebebewegung des Gegners in gang zu setzen und das Zentrum damit ein wenig zu öffnen.
Gelangt der Ball dann schnell und mit wenigen Kontakten wieder von der überladenen Seite zurück ins Zentrum, ist der Platz und die Zeit da, um mit einem Steckpass dorthin zu kommen, wo die Mannschaft gegen tiefstehende Gegner hin will und muss: In den Rücken der Abwehr. Exemplarisch zu sehen bei einem wegen Abseits letztlich aberkannten Treffer von Kai Havertz und dem Ausgleich durch eben jenen Havertz im Spiel gegen Griechenland.
In diesen Momenten soll Gündogan den entscheidenden Impuls geben, wie er das schon tausendfach bei ManCity oder in Barcelona gemacht hat: Positioniert zwischen den gegnerischen Linien, mit nur einem kurzen Pass, einer schlauen und perfekt getimten Ablage in die Dynamik des Ballempfängers. Steckpässe rein in den Sechzehner, fast schon intuitiv und so handlungsschnell ausgeführt, dass der Gegner keine Chance mehr hat einzugreifen. Das sind seine Momente - die zuletzt doch so rar geworden sind.
Auch deshalb ist eine Debatte entbrannt, die aktuell - zum Glück für Gündogan und den Bundestrainer - von jener um Manuel Neuer ein wenig überlagert wird. Und die dem Bundestrainer, anders als bei der Causa Neuer, auch deutlich mehr Handlungsspielraum gewähren würde.
Matthäus rügt Gündogan
Hängen geblieben ist zuletzt eine vergebene Großchance, als Gündogan drei Meter vor dem Tor gegen die Ukraine den Ball nicht unterbringen konnte. Und die kleine, aber doch sehr bewusst gesetzte Schelte von
"Das ist mir alles zu positiv!", zürnte Matthäus bei "RTL". "Auch als Kapitän muss er dazu auch das ein oder andere kritische Wort finden. Natürlich muss man sich keine Schuldzuweisungen machen. Aber er weiß, dass man darüber reden muss."
Besser wurde es gegen die Griechen, als Leroy Sane eingewechselt wurde und dem deutschen Spiel eine neue Geschmacksrichtung verpasste: In seiner sehr breiten Position konnte Joshua Kimmich eine Position tiefer öfter und früher als zusätzliche Station in den Aufbau integriert werden und musste nicht hoch postiert selbst an der Linie kleben. Und Sanes diagonal angesetzten Läufe ins Zentrum rissen jene Lücken, in die die anderen Offensivspieler dann in die Tiefe starten konnten.
Auch das kann also ein Rezept sein, die Sache ist nur: Wenn Sane in die Mannschaft rotieren sollte - wer muss dann an seiner Stelle weichen?
Unterstützung für den Pressing-Chef
Hinter dem Offensichtlichen - dass Gündogan aktuell nicht den gewünscht massiven Einfluss auf das deutsche Offensivspiel hat und auch ein paar Probleme, sich in der neuen Rolle und in diesem Umfeld zurechtzufinden - verbirgt sich jedenfalls noch eine andere Seite, die nur zu gerne vergessen wird.
Mit Gündogan steht und fällt das deutsche Pressing. Er koordiniert das Anlaufen in der ersten Linie und ist darin - immer noch - ein wahrer Meister. Auch das wird ein wichtiges Stilmittel der deutschen Mannschaft bleiben, wenngleich einige Gegner der Gruppenphase wohl eher weniger Risiko nehmen werden mit dem tiefen, kontrollierten Spielaufbau und stattdessen früh tief spielen. Die Schotten sind am Freitag im Eröffnungsspiel so zu erwarten.
Wie sich der Bundestrainer dann entscheidet, wird eine der zentralen Fragen nicht nur für diese erste Partie sein. Im Moment wackelt Ilkay Gündogan zwar zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Ein Platz auf der Bank ist allerdings auch schwer vorstellbar. Zumal die Diskussion an sich auch wie das klassische Jammern auf höchstem Niveau erscheint.
"Gündogan ist ein überragender Spieler!", sagt sein Mitspieler Deniz Undav bei "Sky" fast schon ehrfürchtig. "Nicht viele haben so einen ersten Kontakt wie er. Er läuft viel, kämpft viel, coacht viel. Das sieht man halt nicht. Dann hat er Jamal und Florian links und rechts von sich, die meiner Meinung nach, von der Qualität her, die größten Superstars hier sind. Da sieht er nach außen hin vielleicht schlecht aus, obwohl er überragend spielt!"
Verwendete Quellen
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