Der Start in eine neue Zeitrechnung ist geglückt, die deutsche Nationalmannschaft hat viele ihrer Kernkompetenzen gezeigt. Es bleiben aber auch einige alte Probleme, die der Bundestrainer in den Griff kriegen muss.

Eine Analyse
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"Ein bisschen zu forsch", nannte Julian Nagelsmann die Elogen des Boulevards auf das rauschhafte 5:0 im ersten von zwei Nations-League-Spielen gegen Ungarn vom vergangenen Samstag. Von der Rückkehr der deutschen Nationalmannschaft in die Weltspitze war da zu lesen und vielmehr: dass Deutschland nun ein Topfavorit auf den WM-Titel in zwei Jahren sei.

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Ganz so weit ist die Mannschaft aber wohl noch nicht, wie nicht zuletzt einige Sequenzen und am Ende auch das Ergebnis der Partie gegen die Niederlande (2:2) gezeigt haben. Die Mission "Umbruch light" ist zwar nach den Rücktritten der Eckpfeiler Manuel Neuer, Thomas Müller, Toni Kroos und (Ex-)Kapitän Ilkay Gündogan immerhin schon ganz gut angelaufen, einige alte Probleme sind aber immer noch auffällig – und wohl auch nur schwer zu beheben.

Der Start

Vier Punkte aus zwei Spielen in der Nations League - die anders als in den Jahren davor intern einen deutlich höheren sportlichen Stellenwert genießt – sind eine sehr ordentliche Ausbeute. Das Remis in Amsterdam gegen einen guten Gegner auf Augenhöhe ein respektables Resultat, das schwerste Auswärtsspiel der Gruppe dürfte die deutsche Mannschaft damit schon hinter sich gebracht haben.

Die Chancen auf den Gruppensieg in Gruppe 3 der A-Liga und damit den Einzug in die K.o.-Runde sind gut, die Basis für das erklärte Etappenziel ist gelegt. Es solle wieder normal werden, Spiele zu gewinnen, hatten einige Spieler in den vergangenen Tagen immer wieder betont. Das mag gegen die Niederlande nicht ganz gelungen sein, das große Ganze aber hat die Mannschaft weiter im Auge: den Titel in der Nations League.

Das neue Selbstverständnis

15 Spiele hat die Mannschaft nun unter Nagelsmann als Bundestrainer absolviert und dabei eine veritable Wandlung vollzogen. Aus einer zaudernden Mannschaft ohne große Widerstandskraft ist ein Team geworden, dass sich gegen Widrigkeiten auflehnt und diese auch meist aus dem Weg räumt. Zum sechsten Mal in Nagelsmanns Amtszeit holte Deutschland nach einem Rückstand zumindest noch einen Punkt.

Die Mentalität der Mannschaft ist mittlerweile positiv ausgeprägt, "das Bewusstsein, dass jedes Spiel wichtig ist", ein Kernbestandteil des Wandels, wie es Nagelsmann nach dem Spiel gegen die Niederlande bei RTL formuliert.

Und mit jeder weiteren Partie – so der Plan im Hinblick auf das Fernziel WM 2026 - soll der Glaube an die eigene Stärke noch ein Stückchen mehr wachsen. "Wir haben nächstes Jahr eine Quali, jetzt die Nations League und dann hoffentlich eine WM. Wir haben bis dahin - wenn alles gut geht - jetzt noch 18 Spiele. Die Mannschaft glaubt an sich und das ist der Schlüssel. Das wollen wir alle sehen", so Nagelsmann.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Kraftakte wie nun gegen die Niederlande und bereits im Frühjahr beim Test gegen die Elftal (2:1) oder bei der EM gegen die Schweiz (1:1) oder Spanien (1:2) gehen auch auf die zum Teil frühen Gegentore zurück. Für Geschichtsliebhaber: Das 1:0 der Niederländer war übrigens das schnellste Gegentor einer deutschen Mannschaft seit 50 Jahren. Auch damals fiel es gegen die Niederlande, im WM-Finale 1974 durch Neeskens.

Die neue Hierarchie

Der Kapitän und sein Vize haben die Mannschaft verlassen, dazu fehlen in Toni Kroos der Taktgeber im Zentrum des Spiels und mit Thomas Müller der große Kommunikator auf und abseits des Platzes. Diese Lücken wird die Mannschaft nach und nach füllen müssen, die ersten Schritte sind dabei gemacht. Marc-Andre ter Stegens Status im Team ist klar definiert, nach langer Wartezeit darf sich der Barca-Keeper nun auch offiziell als Nummer eins fühlen.

Ter Stegen tritt ein großes Erbe an, sollte diese Aufgabe mit seinem Können und seiner Routine aber meistern. Wenngleich der eine oder andere beim frühen Gegentreffer der Niederländer nach nicht einmal zwei Minuten auf einen weit heraus eilenden Torhüter-Libero gewartet haben mag. Ter Stegen blieb auf der Linie und am Ende machtlos.

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Deutlich gespannter durfte man auf die Aufteilung im zentralen Mittelfeld sein. Dort hat der Bundestrainer gleich vier, fünf Spieler in der engen Auswahl – in die Rolle des Rhythmusgebers schlüpfte in den ersten beiden Spielen Pascal Groß. Zusammen mit Robert Andrich sollte der Routinier das deutsche Spiel ordnen und das Tempo variieren. Groß wusste dabei besonders im Spiel mit dem Ball zu überzeugen.

Auf die Gündogan/Müller-Rolle auf der Zehn rückte in beiden Spielen Kai Havertz – und fühlte sich da sichtlich wohl. Vermutlich liegt Havertz diese Rolle hinter der Spitze etwas besser als direkt im Angriffszentrum, hier kann er seinen großen Bewegungsradius und sein Timing für Tiefenläufe besser einbringen.

Spieler wie ter Stegen, Groß oder Havertz dürften nun nicht nur aus der zweiten Reihe treten und (noch) mehr Spielzeit bekommen, sondern auch in der internen Hackordnung automatisch weiter nach oben klettern. Hinter dem neuen und logischen Kapitän Joshua Kimmich muss sich eine Gemeinschaft mit mehreren Anführern entwickeln und versammeln, die den Teamgeist wie in den letzten sechs Monaten deutlich akzentuiert. Auch dazu haben die beiden ersten Länderspiele der neuen Saison einen wichtigen Beitrag geleistet.

Die deutschen Stärken

Das Spiel mit dem Ball, der Offensiv- und Kreativdrang der Mannschaft mit ihren zum Teil überragenden Einzelkönnern bleibt das Herzstück dieser Mannschaft. Die verkappte Doppel-Zehn aus Jamal Musiala und Florian Wirtz zusammen mit dem notorisch unterschätzten Havertz ist herausragend gut. In jedem Spiel und gegen jede Mannschaft der Welt ist Deutschland in der Lage, sich genug Torchancen zu erspielen.

Im 4-2-3-1 sitzen die Abläufe immer besser, ist auch genug Variabilität vorhanden, um über ein erdrückendes Ballbesitz- und Positionsspiel zu Torchancen zu kommen oder aber nach frühen Ballgewinnen und dem dann folgenden Konterfußball. Die deutsche Mannschaft paart Kreativität mit Geschwindigkeit, die Mischung stimmt dabei - wie bei den Toren gegen Ungarn und die Niederlande zu sehen - immer öfter.

"Das war das, was wir in dieser Woche wollten: Umschalttor in fünf, sechs Sekunden. Sehr gutes Tor und nächster Entwicklungsschritt", sagte Nagelsmann etwa über Deniz Undavs Treffer, dem ein frühes, aggressives Pressing vorausging und bei dem die deutsche Mannschaft dann tatsächlich nur wenige Sekunden zum Torabschluss benötigte.

Die spielerische Eleganz gepaart mit Widerstandsfähigkeit und der oft genannten tollen Stimmung innerhalb der Mannschaft sind das Fundament, auf dem in den kommenden Wochen und Monaten aufgebaut wird.

Die deutschen Schwächen

Bei aller Freude über den gelungenen Start ins neue Länderspieljahr und irgendwie auch in eine neue Zeitrechnung bleiben einige Kernprobleme. Die Gegentore gegen die Niederlande "dürfen in der Form auf diesem Niveau nicht passieren", wie es Undav zu Recht formulierte.

Beim ersten Gegentor ist die eine Hälfte der deutschen Innenverteidigung (Niko Schlotterbeck) komplett aus der Position gerissen, die andere Hälfte (Jonathan Tah) nicht handlungsschnell genug am Gegenspieler und die Anbindung der Sechser (Andrich, Groß) schlecht. Und das alles nach nicht einmal zwei Minuten.

Beim zweiten Gegentor folgt auf einen fahrlässigen Ballverlust am eigenen Strafraum (Musiala) ein individualtaktisches Fehlverhalten (Schlotterbeck) – das Nagelsmann auch erstaunlich offen und öffentlich kritisierte. "Du hast immer den Drang als Verteidiger den Ball zu gewinnen, aber Brobbey darf dich eigentlich nicht spüren, auch wenn es im Sechzehner ist. Wir sind viel zu aggressiv und wollen unbedingt den Ball gewinnen: Warum?", fragte der Bundestrainer und gab die Antwort dann selbst.

"Einfach dahinter bleiben, stellen und versuchen, den Ball zu blocken. Generell ist es gut, wir wollen aggressive Spieler, aber das ist kein Moment den Ball zu gewinnen. Einfach warten, dann kann er nichts machen…" Nagelsmann sprach es nicht explizit aus, aber in diesen Momenten fehlte einigen Spielern auch die nötige Ruhe und Cleverness – und dem einen oder anderen womöglich auch die absolute Spitzenklasse?

Es ist noch ein langer Weg bis zum Weltklasseformat

Schon bei der EM war in den engen Spielen zu sehen, dass einige Spieler durchaus an ihre Grenzen stoßen, dass es noch ein langer Weg ist bis zum Weltklasseformat. Diese Frage stellt sich auch in den nächsten Spielen und Monaten: Reicht die individuelle Leistungsstärke hinter den Unantastbaren wie ter Stegen, Kimmich, Antonio Rüdiger, Musiala, Wirtz, Havertz, um die großen Ziele zu erreichen? Oder ist das Leistungsgefälle spätestens in den engen Spielen gegen absolute Spitzenteams dann noch zu groß?

Bis zur WM in zwei Jahren dürften kaum plötzlich drei, vier neue Spitzenkräfte auf neuralgischen Problempositionen auftauchen, also muss sich Nagelsmann mit den bewährten Spielern behelfen. Und auch ein bisschen darauf hoffen, dass diese sich sukzessive in ihren Klubs weiterentwickeln.

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